Protest unter dem Motto "Your Silence Is Loud": Frauen halten Schilder mit Bildern von Hamas-Geiseln
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Protest unter dem Motto "Your Silence Is Loud" am 3. Dezember in London

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Sexualisierte Gewalt: Schweigt der Feminismus zur Hamas?

Hat der Feminismus und haben Organisationen wie die UN ein Problem damit, sexualisierte Gewalt gegen jüdische Opfer zu benennen? Frauenrechtlerinnen kritisieren genau das. Zugleich wurden neue Details zu den Gräueltaten vom 7. Oktober öffentlich.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Zwei Monate nach den Terrorangriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 kommen immer mehr Details zum Überfall an die Öffentlichkeit. In Israel identifizieren Forensik-Teams Leichen und versuchen Ermittler, mit Aussagen von Überlebenden die Ereignisse zu rekonstruieren. Dabei ist nicht erst jetzt klar, dass bei den Attacken auf das Nova-Musikfestival und die Kibbuzim systematisch sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Mädchen ausgeübt wurde. Vergewaltigungen, Verstümmelungen, Mord, Schändung von Toten – die dokumentierten Grausamkeiten gegen Frauen sind extrem.

Viele Beweise, kein Aufschrei

Trotz der Beweise habe die Weltgemeinschaft diese massive sexuelle Gewalt zu lange ignoriert, kritisieren Frauenrechtlerinnen nicht nur aus Israel. Bereits kurz nach den Angriffen schickten israelische Rechtsexperten detaillierte Belege für die Gräueltaten an wichtige internationale Gremien wie UN Women und den UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung von Frauen (Cedaw). Doch ein internationaler Aufschrei blieb aus. "Keines dieser Gremien hat die Tatsache anerkannt, dass hier Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden", sagt die israelische Juraprofessorin Ruth Halperin-Kaddari. "Und keines erwähnte die sexuelle Gewalt gegen Frauen, die systematisch, absichtlich und vorsätzlich eingesetzt wurde, was bedeutet, dass Vergewaltigung als Kriegswaffe genutzt wurde."

Das sieht auch Laura Cazés von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland so. "Zum ersten Mal ist in diesem Ausmaß Antisemitismus auch zum Motiv für sexualisierte Gewalt in ihrer schlimmsten Form geworden", sagt Cazés im Interview mit dem BR. Das sei ein Schock, mit dem die jüdische Community weltweit erst einmal umgehen müsse. Dazu komme, dass viele Belege von der Hamas selbst über soziale Medien geliefert worden seien. Es gebe, so Cazés, Zeugnisse von Vergewaltigungen und Folterungen, die Familienangehörigen direkt zugespielt wurden: "Das ist die Ebene der digitalen Gewalt und auch der psychologischen Gewalt, die die Hamas gezielt als Terrormittel nutzt."

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Laura Cazés von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschand

Feministisches Grundprinzip: Opfer anhören

"Zuerst hatten wir es mehrere Wochen mit einer expliziten De-Thematisierung dieser Ebene der sexualisierten Gewalt als Kriegswaffe, als Terrorwaffe, als terroristisches Instrument" zu tun, hält Laura Cazés fest. "Es fand sehr schnell ein sehr verallgemeinerter Diskurs um die sogenannte 'Gewalteskalation' im Nahen Osten statt." Dabei gehe es, das betont Cazés, nicht darum, das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung im aktuellen Krieg in irgendeiner Form zu verharmlosen oder nicht zu benennen – dieses Leid sei "sehr, sehr, sehr real".

Es bleibe aber festzustellen, dass der Diskurs um den Nahost-Konflikt immer schon antisemitisch aufgeladen war, und diese Aufladung nun dazu führe, dass "feministische Grundprinzipien für diese Opfer bestialischer Gewalt nicht mehr gelten." Eines dieser Grundprinzipien ist es, den Opfern sexualisierter Gewalt erst einmal Glauben zu schenken, ihre Stimme zu hören. Indem Israel im Nahost-Konflikt grundsätzlich als Aggressor gedeutet werde, könnten israelische Frauen gar nicht mehr geltend machen, Opfer geworden zu sein.

UN Women positioniert sich

Israelische Feministinnen gingen Mitte November mit der Kampagne #MeToo_Unless_Ur_A_Jew an die Öffentlichkeit. Sie soll darauf aufmerksam machen, dass jüdische Opfer sexualisierter Gewalt nicht so gehört werden, wie der #MeToo-Feminismus es sich eigentlich auf die Fahnen geschrieben hat. Für UN Women benannte Exekutivdirektorin Sima Bahous am 25. Oktober vor dem Sicherheitsrat den "schrecklichen Angriff der Hamas" und verurteilte "jeden Akt von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, einschließlich sexualisierter Gewalt".

UN Women Deutschland zitierte diese Stellungnahme zeitnah in einem Instagram-Post, auf der Webseite der Organisation ist inzwischen ein weiteres Statement zu lesen, in dem es ausdrücklich heißt: "Wir stehen fest an der Seite der von der Gewalt der Hamas betroffenen Menschen, insbesondere der Frauen und Mädchen. Wir bedauern, dass wir das nicht sofort deutlicher kommuniziert haben." Die Erklärung ist undatiert, auf Nachfrage des BR teilte UN Women Deutschland mit, sie stamme vom 29. November. Am selben Tag schrieb UN-Generalsekretär António Guterres auf X, ehemals Twitter, es gebe "zahlreiche Berichte über sexuelle Gewalt während der abscheulichen Terrorakte der Hamas am 7. Oktober", die "energisch untersucht und strafrechtlich verfolgt werden müssten." Geschlechtsbezogene Gewalt müsse verurteilt werden. "Immer. Überall".

Proteste gegen die UN

Für die Kritikerinnen und Kritiker der UN war das zu spät. Am 3. Dezember fand in London eine Demonstration unter dem Titel "UN Women – Your Silence Is Loud" statt, einen Tag später eine Protestaktion vor dem Sitz der Vereinten Nationen in New York. Einige der etwa 150 Demonstrantinnen trugen dabei lediglich Unterwäsche und waren mit Kunstblut beschmiert, um auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen.

Laura Cazés sieht die Debatte um sexualisierte Gewalt an jüdischen Frauen auch in einem größeren historischen Kontext: Bis heute werde über die Shoa gesprochen, die Erinnerungskultur gepflegt, das "Nie wieder!" beschworen, zugleich aber sei die Gesellschaft "völlig desensibilisiert, was den Umgang mit der Ermordung von Jüdinnen und Juden angeht" und könnte deshalb nicht auf gleiche Weise wie in anderen Fällen Empathie zeigen.

Die israelische Juristin Ruth Halperin-Kaddari führt die internationale Zurückhaltung im Zusammenhang mit Gewalt gegen jüdische Frauen zum Teil auf bestimmte Positionen zum israelisch-palästinensischen Konflikt zurück, auf "die Schwierigkeit, die stereotype Sichtweise, dass Israel der Aggressor und die Palästinenser die Opfer sind, hinter sich zu lassen". In diesem Fall habe sich die Situation umgekehrt, so Halperin-Kaddari. "Und einige tun sich schwer damit, so viel Böses in denjenigen zu sehen, die sie immer lieber als Opfer betrachtet haben."

Laura Cazés hat 2022 das Buch "Sicher sind wir nicht geblieben: Jüdischsein in Deutschland" herausgegeben, erschienen im S. Fischer Verlag

Mit Material von AFP.

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