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Die Bücher des Jahres

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Von Axel Hacke bis Juli Zeh: Zehn Bücher, die 2023 wichtig waren

Eine Roman-Debütantin landet einen Sensationserfolg und wird zum Liebling der Buchhändler. Caspar David Friedrich ist plötzlich in aller Munde und der Deutsche Sachbuchpreis-Träger schlägt erstmals alle Rekorde. Das sind die Bücher des Jahres.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

Es war ein denkwürdiger Auftritt im Sommer dieses Jahres. In der Hamburger Elbphilharmonie nahm Ewald Frie den Deutschen Sachbuchpreis 2023 entgegen für sein Buch "Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland". In vollendeter münsterländischer Trockenheit und Bodenständigkeit berichtete er in seiner Dankesrede davon, wie sein Vater mit einer besonders schönen Kuh aus seinem Stall, einer Rotbunten namens "Wolke 2", in den 1950er Jahren zur Landwirtschaftsmesse gefahren und mit diesem Tier eine Auszeichnung gewonnen hatte.

Jetzt, so der Historiker Frie in der Hansestadt, sei "Wolke 2" zum zweiten Mal prämiert worden. "Nun mag mancher hier im Saal denken", fuhr Frie fort, "der will doch nicht im Ernst die Auszeichnung einer Kuh auf einer Landwirtschaftsmesse mit dem Deutschen Sachbuchpreis in Zusammenhang bringen?" Er könne versichern, erklärte Frie dem Publikum, dass sein Vater, sofern er noch leben würde, genauso denken würde: "Nur andersrum." Der außergewöhnliche Erfolg, den Ewald Frie mit seinem Sachbuch haben sollte, zeichnete sich damals schon ab, hatte sich "Ein Hof und elf Geschwister" da doch bereits 30.000 Mal verkauft. Aktuell liegt die Auflage bei rund 148.000 Exemplaren.

Sozialgeschichte entlang der eigenen Familiengeschichte

Dieser Erfolg ist exzeptionell in mehrfacher Hinsicht. Niemand hätte voraussagen wollen, dass diese sehr gut lesbare Sozialgeschichtsschreibung der lange Zeit stark agrikulturell geprägten Bundesrepublik, die entlang der eigenen Familiengeschichte erzählt ist, so einschlagen würde bei den Lesern. Ebenso bemerkenswert: Zum ersten Mal in der noch jungen Geschichte des Deutschen Sachbuchpreises – er wird erst seit 2021 vergeben – ist dessen Gewinner ein veritabler Bestseller. Die Vorgänger-Preisträger-Bücher von Jürgen Kaube und Stephan Malinowski verkauften sich auch, aber nicht derart gut wie jenes von Ewald Frie. Der Tübinger Professor für Neuere Geschichte dürfte mittlerweile eher auf "Wolke 7" statt "Wolke 2" schweben.

Als ebenso überraschend darf der enorme Erfolg eines anderen Akademikers gelten: Dirk Oschmann lehrt in Leipzig Neuere Deutsche Literatur. Seit 40 Wochen steht er auf der "Spiegel"-Bestsellerliste mit seiner im Februar erschienenen Streitschrift "Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung". Das Buch liest sich wie eine Bestätigung jenes heute prophetisch anmutenden Dialogs, den Hans Magnus Enzensberger 1987 an das Ende seines modernen Klassikers "Ach Europa!" gestellt hat (in dem er en passant die Begriffe "Ossi" und "Wessi" prägte, nur dass er sie anders schrieb): "Tatsache ist, daß die Deutschen einander nicht ausstehen können. Ossies und Wessies - das ist wie Hund und Katze!' - 'Ich dachte, sie hätten sich zusammengerauft.' - 'Offiziell schon. Aber wenn du ihre Deklarationen beim Wort nimmst, gerätst du sofort in ein Unterholz von Komplexen, Rivalitäten und Ressentiments. Wenn ich meine jungen Freunde hier über die jeweils andere Seite reden höre - ich sage dir, die sind geradezu von Ekel geschüttelt! Der Wessie schwört auf sein Lufthansa-Weltbürgertum. Dafür ist der Ossie moralisch allemal der Größte, so, als wäre er automatisch immun gegen alles, was Dekadenz heißt, Korruption oder Zynismus. Mit einem Wort: jeder der beiden fühlt sich über den andern weit erhaben.'" Jammerossi versus Besserwessi – für Dirk Oschmann zahlte sich das Wiederauflegen dieser alten Platte definitiv aus: 167.000 verkaufte Exemplare sprechen eine deutliche Sprache.

Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhändler

Wie entscheidend nach wie vor Buchhändlerinnen und Buchhändler für den Umsatz sind, zeigt der Durchbruch der Debütantin Caroline Wahl mit ihrem ersten Roman "22 Bahnen". Der Titel erhielt dafür in diesem Herbst auf der Frankfurter Buchmesse die Auszeichnung "Lieblingsbuch der Unabhängigen 2023", der anzeigt, dass dieser Roman der 1995 geborenen Autorin gerade in unabhängigen Buchhandlungen besonders stark empfohlen wird. Aber auch auf TikTok macht ihr Roman die Runde. Er war nominiert für den TikTok Book Award in der Kategorie "#BookTok Community Buch des Jahres 2023". Dazu prasselte heuer ein warmer Preisregen auf die Autorin nieder: Ulla-Hahn-Autorenpreis, dem Grimmelshausen-Förderpreis und dem Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag sowie der Bayern2-Publikumspreis beim Bayerischen Buchpreis.

Derzeit sind rund 112.000 Exemplare von "22 Bahnen" über den Ladentisch gegangen – eine sensationell hohe Zahl. Noch besser traf es da mit knapp 190.000 verkauften Exemplaren von "Die Liebe an miesen Tagen" der fränkische Romancier Ewald Arenz. Für den 58-jährigen hauptberuflichen Gymnasiallehrer aus Fürth ist die hohe Platzierung auf Bestsellerlisten mittlerweile fast schon ein altvertrautes Gefühl, hat er doch von seinem 2019 erschienenen Longseller "Alte Sorten" - auch der wurde seinerzeit zum "Lieblingsbuch der Unabhängigen" gewählt - bis heute 790.000 Exemplare verkauft. Seinen Kölner Verlag Dumont – es ist übrigens derselbe wie der von Caroline Wahl – freut's.

Immer heiter weiter mit Axel Hacke

Mit Axel Hacke hat Dumont seit neuestem noch einen weiteren Erfolgsautor an Bord. Sein aktuell weit oben auf der "Spiegel"-Bestsellerliste rangierendes kriegs- und krisenfestes Vademecum "Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte" hat innerhalb dreier Monate bisher deutlich über 72.000 Käuferinnen und Käufer finden können. Auf der Leipziger Buchmesse kursierte im Frühjahr das Branchengerücht, der bisher beim Münchner Antje Kunstmann Verlag beheimatete Axel Hacke sei für den Betrag von 1,3 Millionen Euro mit einem Drei-Buch-Paket von Dumont unter Vertrag genommen worden. Stimmte dies, so könnte Hacke angesichts seines derzeitigen Laufs frohgemut heiter weiterschreiben.

E-Mail-Roman "Zwischen Welten"

Das gilt auch für das Autoren-Gespann Juli Zeh und Simon Urban. Das Duo publizierte im Frühjahr den E-Mail-Roman "Zwischen Welten". Darin geht es um etwas, das der in andere Sprachen ausgewanderte Germanismus "Weltverbesserungswahn" bezeichnet, der auch in deutschen Medienhäusern grassiert. In Zehs und Urbans sehr nah an der Realität siedelnder Fiktion hat sich ein Hamburger Journalist Klima-Aktivisten in die Redaktion geholt, um damit "ein komplettes Blatt dem Aktivismus zu unterwerfen". Das findet seine Freundin und Briefpartnerin nicht in Ordnung. Sie schreibt ihm: "Ihr Journalisten seid in der Besserungsanstalt Bundesrepublik die obersten Erzieher." Zwischen Aktivismus und Journalismus liegen ihrer Ansicht nach Welten: "Ich glaube, es geht [...] darum, wer sich politisch engagiert. Einem Journalisten steht das nicht zu. Von Haus aus ist er Beobachter, nicht Betroffener. Aktivismus ist das Gegenteil von Neutralität und damit das Gegenteil des journalistischen Auftrags." Offenbar hat das Autoren-Paar Zeh und Urban - sie ein seit langem schon eingeführter Name und extrem populär, er eher unbekannt - mit solchen Sätzen einen Nerv getroffen: Gut 233.000 Exemplare von "Zwischen Welten" sind bisher verkauft worden.

Die Lebensgeschichte des Erfinders von "Tschick"

Wolfgang Herrndorf starb viel zu früh, um den großen Erfolg seines Jugendromans "Tschick" auch nur ansatzweise auskosten zu können. Der Journalist Tobias Rüther hat zum zehnten Todestag Herrndorfs eine von der Kritik einhellig gelobte Biografie des Autors und Künstlers veröffentlicht. Auch diese aufwändig recherchierte Lebensgeschichte schaffte es 2023 auf die "Spiegel"-Bestsellerliste. Weit mehr als eine Biografie legte im Herbst der mit einem unnachahmlichen Themen-Gespür gesegnete internationale Bestseller-Autor Florian Illies vor. "Zauber der Stille. Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten" ist Lebensbeschreibung und Rezeptionsgeschichte dieses "feinmalerischsten" und größten deutschen Romantikers in einem. Erhellend.

Binnen eines Monats verkauften sich bereits über 66.000 Exemplare – und Branchenkenner vermuten, dass Illies nach diesem furiosen Start auch im Weihnachtsgeschäft noch einmal richtig abräumen wird. In der stillen Nacht werden sich viele Exemplare von "Zauber der Stille" unter deutschen Christbäumen finden.

Der neue Kehlmann und der alte Kästner

Der Vater des Bestsellerautors Daniel Kehlmann, Michael Kehlmann, war ein namhafter österreichischer Theater- und Filmregisseur, der während der NS-Zeit in Widerstandskreisen verkehrte und als Regimegegner inhaftiert wurde. Mit einem heute nahezu vergessenen österreichischen Regisseur, Georg Wilhelm Pabst, der in der Zeit des Dritten Reichs weiterhin drehte, befasst sich Kehlmann in seinem jüngsten Roman "Lichtspiel", der ebenfalls seit Erscheinen Stammgast auf den vorderen Plätzen der Bestsellerliste ist. Im Zentrum steht dabei Pabsts Arbeit an seinem heute verschollenen Film "Der Fall Molander". Klug enthält sich Kehlmanns Roman einer Wertung dieses ambivalenten Künstlers, sondern zeigt einen, der fragwürdige Kompromisse eingeht, um in der Diktatur zu überleben.

Einen ähnlich spannenden, freilich viel berühmteren Fall beleuchtet Tobias Lehmkuhl in seinem Sachbuch "Der doppelte Erich. Kästner im Dritten Reich". Erich Kästner befand sich 1933, als die Nazis seine Bücher in Berlin öffentlich verbrannten, ein höchst erfolgreicher Bestseller-Autor, auf dem Zenit seines Ruhms. Für Lehmkuhl ist das einer der Gründe, warum Kästner dennoch in Deutschland blieb. Hier hatte er sein Publikum. Warum sollte er da ins Exil gehen, zumal seine Bücher im deutschsprachigen Ausland weiter erscheinen und in Deutschland verkauft werden konnten, bis ihn spät erst ein totales Publikationsverbot ereilte? Auch Lehmkuhl maßt sich klugerweise als Nachgeborener kein Urteil an über den Überlebenskünstler Erich Kästner. Kästners Todestag jährt sich 2024 zum 50. Mal. Er liegt begraben auf dem Friedhof München-Bogenhausen.

Dieser Artikel ist erstmals am 02. Dezember 2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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