Ein Mann fasst sich an die Brille.
Bildrechte: picture alliance / Geisler-Fotopress | Kai Schulz/Geisler-Fotopress

Didier Eribon bei der lit.Cologne 2024

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

Didier Eribon schreibt über Leben, Alter und Sterben

14 Jahre nach "Rückkehr nach Reims" erzählt Didier Eribon erneut eine große Gesellschaftsfrage entlang der eigenen Geschichte. In "Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben" geht es um seine Mutter, die in einem Altenheim untergebracht ist.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Frauen lesen dieses Buch möglicherweise anders als Männer. Denn es sind nach wie vor eher Frauen, die Mutter oder Vater über Jahre zu Hause pflegen. Didier Eribon hat das nicht getan, die Frage stellte sich ihm als Sohn offenbar nicht. Ein interessanter blinder Fleck vielleicht in der wirklich fesselnden Mischung aus persönlichem Erfahren und gesellschaftlichem Erkennen, die sein Buch über "Leben, Alter und Sterben" - so heißt es im Untertitel - seiner Mutter auszeichnet.

Verstörende Anrufe aus dem Altersheim

Am Anfang des Buchs standen Anrufe seiner Mutter aus dem Altenheim, erzählte Eribon im französischen Fernsehen. Nachrichten auf dem Anrufbeantworter: "Ich werde misshandelt. Was habe ich getan? Die verbieten mir, zu duschen."

"... du wirst sehen, alles wird gut. Mit kleinen Abweichungen habe ich dieselben Sätze zu meiner Mutter gesagt. Als wäre es ein auswendig gelernter Text oder eine Liturgie (…) ein Auszug aus einem Brevier für Söhne und Töchter, die gute Miene zum bösen Spiel machen müssen, während das Leben ihrer Mutter oder ihres Vaters in den Grundfesten erschüttert wird." Aus: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben

Denn die Wahrheit ist: Pflegeheim, das ist die letzte Station. Alleine kommt sie nicht mehr zurecht, dennoch wehrt die Mutter sich mit aller Macht gegen die neuen Lebensumstände, die eben nicht gut werden, die ganz objektiv mit weniger Selbstbestimmung, weniger Freiheit und noch weniger Hoffnung auf Verbesserung verbunden sind. Und die geprägt sind von Unterfinanzierung und Profit-Logik.

"Man erklärte mir, damit meine Mutter aufstehen könne, müssten zwei männliche Pflegehelfer sie aus dem Bett heben. Das gehe nur einmal pro Woche." Aus: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben

Eribon ist außer sich, telefoniert, recherchiert, schreibt gleichzeitig sehr nüchtern die Szenen auf, die er in diesem so privaten Zusammenhang erlebt hat. Er liest sich ein in die Berichte über französische Altersheime, die in der Tat von skandalösen Zuständen sprechen. Doch gegen das System kommt er nicht an. Es geht ihm auch nicht um Enthüllungsjournalismus. Er versucht, über seine eigene Geschichte die gesellschaftliche Funktion "Umgang mit Alter und Bedürftigkeit" zu verstehen - und zum politischen Thema zu machen.

Dialekt als letztes Bindeglied zum Herkunftsmilieu

So wie er das in "Rückkehr nach Reims" auch getan hat - sein Weg von der rechtsextremen Unterschicht zum politisch engagierten, linken, offen homosexuellen Soziologieprofessor als politisches Analyse-Instrument. Aus diesem Buch kennen wir seine Familie schon und wissen auch, wie schwer der Bruch war und wie groß der Hass. Der Rassismus der prekären Arbeiterklasse war ausschlaggebend dafür wegzugehen. Nach der Wiederannäherung an die bedürftige Mutter setzt Eribon sich dem vergifteten Gerede wieder aus. Die Soziologie hilft nur wenig.

"War die soziale Gewalt und Deklassierung, die Erniedrigung, die meine Mutter ihr Leben lang erfahren hatte, im Zuge eines mysteriösen soziopsychologischen Umwandlungsprozesses zu einer unaufhörlichen verbalen Gewalt gegen jene Menschen geworden, auf die herabzublicken sie sich im Recht fühlte? Bourdieu hat dies als 'Verstetigung sozialer Gewalt' beschrieben ..." Aus: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben

Der Dialekt der Champagne, den er sich mühsam abtrainiert hat, erweist sich nach dem Tod der Mutter als letztes Bindeglied zum Herkunftsmilieu; Eribon ersteht ein Dialekt-Wörterbuch, das ein geradezu emotionaler Text für ihn wird. Tod, Trauer, Abschied, seine Familiengeschichte, die Familie als gesellschaftliche Bezugsgröße, Fragen von Generation, Klasse, Arbeit, Ritual, viele literarische Spiegelungen - all das prägt das zwischen Abstraktion und Konkretion wandernde Nachdenken in "Eine Arbeiterin". Als Leserin wandert man gerne mit, Eribons Stil ist klar und unprätentiös. Sonja Fincks Übersetzung ist erneut klug und treffend.

Bedürftige Menschen, die verwaltet werden

Vor allem aber kommt dem Autor immer wieder die Wut. Bedürftige Menschen, die vereinzelt und hilflos einer mal staatlichen, mal privatwirtschaftlichen Altersverwaltung und den ihr zugestanden Ressourcen ausgeliefert sind - sie haben keine Lobby und keine Chance, je eine zu bekommen. Nicht mal die Philosophie, so Eribons Fazit im letzten Kapitel, rechne mit einem Subjekt, das keine Zukunft mehr gestalten kann. Und wer kennt schon Simone de Beauvoirs Schrift über das Alter?

"Die Klage meiner Mutter war sehr politisch", sagt Didier Eribon, "aber ich war ihr einziger Adressat". So sei er mit diesem Buch zum Sprecher all der tausenden Mütter geworden, die nachts ihre Kinder anrufen, um zu sagen, dass sie misshandelt werden.

Didier Eribons Mutter starb in der Woche nach dem Umzug ins Heim. Aus seiner Sicht war es ihre Entscheidung.

"Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben" von Didier Eribon ist bei Suhrkamp erschienen. Das Buch kostet 25 Euro, das E-Book 21,99 Euro. Aus dem Französischen von Sonja Finck.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!