Zwei Frauen und zwei Kinder in einem sauberen Hof, im Hintergund der Wachtturm eines Konzentrationslagers.
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Kann man es sich neben einem KZ gemütlich machen? Eine aufgeräumte Welt beim Familienbesuch in Auschwitz: Szene aus „The Zone Of Interest“.

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Idylle neben dem KZ: "The Zone Of Interest" zeigt NS-Abgründe

Viel passiert nicht, und doch ist das Grauen körperlich spürbar: "The Zone of Interest" zeigt ein vermeintliches Familienidyll vor den Mauern des KZ Auschwitz. Sandra Hüller und Christian Friedel spielen das Täter-Ehepaar mit beängstigender Kälte.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Das Unbehagen ist sofort da: Pechschwarz ist die Leinwand zu Beginn des fünffach Oscar-nominierten Holocaust-Dramas "The Zone of Interest". Minutenlang ist nichts zu sehen, dafür umso mehr zu hören. Ein unheilvoller Soundteppich bohrt sich in den Gehörgang, eine Sinfonie des Todes. Und dann, plötzlich, mischt sich Vogelgezwitscher in den dröhnenden Lärm.

Ein Flussidyll taucht auf, hohe Gräser, dichter Wald, hellblauer Himmel. Darin eine Picknick-Gesellschaft, die unbeschwert den Sommer genießt: Vater, Mutter, kleine Kinder. Aber eben doch keine Familie wie jede andere, sondern die des KZ-Kommandanten Rudolf Höß.

"The Zone of Interest" erschüttert selbst altgediente Kritiker

Von Mai 1940 bis November 1943 ist der NS-Scherge Oberbefehlshaber in Auschwitz, lebt mit seiner Frau und den fünf Kindern direkt vor den Toren des Vernichtungslagers in einer feudalen Villa mit Garten, Gewächshaus und Swimmingpool. Abends empfängt er Gäste, tagsüber tötet er. Und Ehefrau Hedwig? Wähnt sich wie im Paradies.

Als "The Zone of Interest" im vergangenen Mai beim Filmfest in Cannes erstmals gezeigt wurde, reagierten selbst altgediente Kritiker erschüttert. Unzählige Filme haben in der Vergangenheit den Holocaust thematisiert, aber so einen gab es noch nie. Der britische Regisseur Jonathan Glazer, bekannt für hochgradig stilisierte Genre-Grenzgänge, inszeniert "The Zone of Interest" wie einen Psychothriller, in dem kaum etwas passiert.

Szene aus "The Zone of Interest" mit Sandra Hüller, Regie: Jonathan Glazer
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Familiäres Idyll im Schatten des NS-Horrors: kinokino über das schockierende und verstörende Täterdrama.

Das Grauen bewusst verdrängt

Nicht die Perspektive der Opfer wird gezeigt, sondern die der Täter. Das Leid hinter ihrer meterhohen und Stacheldraht-gekrönten Gartenmauer ignorieren sie bewusst. Das surreale Heimatfilm-Idyll wird aufrechterhalten, das KZ-Gelände nie betreten. Zu sehen sind nur die Dächer der Baracken, ein rauchender Schlot, die Balustrade eines Wachturms. Über die Alltag gewordenen Störgeräusche – die Schreie, die Schüsse, das permanente Dröhnen des Verbrennungsofens – wird hinweggeredet.

Das Drehbuch, das lose auf dem gleichnamigen Roman von Martin Amis basiert, verweigert jedwede Form der Dramatik. Die Kameras im nachgebauten Haus der Höß-Familie waren während der Dreharbeiten fest installiert. Es gibt kaum Close-ups, keine Gefühlsregungen in den Gesichtern von Sandra Hüller und Christian Friedel, den beiden beängstigend kalt agierenden Hauptdarstellern.

Die Banalität des Bösen

Gezeigt werden streng statische Momentaufnahmen eines hitlertreuen Spießerlebens: hier ein gemeinsames Abendessen, da eine Gute-Nacht-Geschichte. Die Kinder sammeln und untersuchen Zähne, als wären es Muscheln vom Strand. Die Dienstmädchen müssen eilig die Wäsche von der Leine nehmen, wenn es vom Gelände nebenan mal wieder Asche regnet. Und ab und an belohnt Hedwig Höß ihre zwangsrekrutierten Zugehfrauen gönnerhaft mit Kleidungsstücken neuer KZ-Insassen.

Die viel zitierte Banalität des Bösen wird in "The Zone of Interest" gnadenlos auf die Leinwand projiziert. Die strenge Bildkomposition, die entsättigten Farben und das Nerven zermalmende Sounddesign wirken dabei wie Verfremdungseffekte, verleihen dem dokumentarisch anmutenden Geschehen eine albtraumhafte Ebene. Unabhängig davon, ob "The Zone of Interest" bei der Oscar-Nacht gewinnt: Dieser Film muss gesehen werden.

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