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Publikationen  TELEVIZION   Ausgabe 14/2001/2


Dieter Wiedemann

Kinderfernsehen zwischen Fantasie und Pädagogik

Notizen zum Kinderfernsehen in der DDR



Das Kinderfernsehen in der DDR sollte Jungen und Mädchen einen festen Klassenstandpunkt vermitteln, dafür sorgen, dass sie sich für den Sozialismus und die Stärkung der DDR einsetzen u.v.m. Was wirklich erreicht wurde, wird jetzt wissenschaftlich untersucht.



Anders als das Kinderfernsehen in der Bundesrepublik gehört das Kinderfernsehen in der DDR zu den bisher kaum erforschten Gegenständen. Insofern kann ich nicht wie mein Kollege Erlinger (s. S. 23 ff.) über die Ergebnisse mehrjähriger Forschungen berichten, sondern lasse Sie daran teilhaben, wie sich eine kleine Forschergruppe an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF), Potsdam, diesem Forschungsgegenstand nähert.

Dabei geht es nicht primär um die Darstellung eines Forschungskonzepts, sondern vorrangig um eine Diskussion vorhandener Ergebnisse und möglicher Annäherungen an das Thema.

1. Zwischen Erziehung und Freizeitgestaltung

Das DDR-Fernsehen begriff sich als ein groß angelegtes Erziehungsprojekt für alle, das sich einerseits in Abhängigkeit von den jeweiligen "Verlautbarungen" der Herrschenden auf ideologische Einflussnahme hin orientierte und sich andererseits aus der Sicht der meisten MitarbeiterInnen und ZuschauerInnen als Unterhaltungs- und Kunstmedium definierte:

"Das Kinderfernsehen verstand sich als wichtiges Kettenglied im System der ErziehungsträgerInnen. In diesem Sinn wollte es Lebenshilfe und -orientierung vermitteln, nicht nur schlechthin Wegbegleiter für Generationen Heranwachsender, sondern wirksamer Begleiter sein. ‘Staatsbürgerliche Erziehung’ – später durch den umfassenderen und ideologisch stärker etikettierenden Begriff ‘kommunistische Erziehung’ ersetzt – war auf die Herausbildung moralisch-sittlicher Verhaltensweisen und Wertvorstellungen gerichtet. Im Blickpunkt des Kinderfernsehens stand sinn- und kulturvolle Freizeitgestaltung..."1

Wie kompliziert dieser Spagat zwischen dem staatlich gewünschten und nicht selten auch individuell gewollten ideologischen Erziehungsauftrag einerseits und dem gleichermaßen ausgeprägten Bemühen um Fantasieentwicklung, Kreativität und Unterhaltung andererseits war, zeigen die thematischen Pläne der Kinderdramaturgie. Da wird z.B. in der Planung für die Jahre 1980/81 von der verpflichtenden Aufgabe gesprochen, "die komplexe Erziehung der heranwachsenden Generation zu unterstützen, konstruktive Lebenshilfe zu vermitteln, kommunistische Haltungen, Überzeugungen und Ideale herauszubilden..., das bereichernde Gefühl für die Schönheit der Kunst, für menschliche Beziehungen hervorzubringen und ideologisch-ästhetische Imunität gegen alles Banale und Fortschrittsfeindliche zu erzeugen" (S. 1).

Und etwas später:

"Der wichtigen Forderung nach reicher Fantasie, die sowohl im Fernsehwerk prägnanten Ausdruck findet als auch im Zuschauer angeregt werden muß, gilt besonderes Augenmerk. Fantasie darf man jedoch nicht überanstrengen, so daß sie in Selbstzweck und Verspieltheit umschlägt und dabei die Wirklichkeit aus dem Blickfeld gerät... Eine größere ästhetische Rolle kommt Fragen der Romantik zu (womit nicht das Märchen gemeint ist, das weiterhin voll zur Geltung kommt), einer wirklichkeitsbezogenen Romantik, die das Alltagsleben wirkungsvoll über eine platte ‚Alltäglichkeit’ hinaushebt." (S. 3)

Zu Beginn der 70er-Jahre lasen sich die konzeptionellen Hauptaufgaben noch folgendermaßen:

"Entsprechend den Leitlinien des DFF hat das Kinderfernsehen innerhalb des Gesamtprogramms dazu beizutragen, daß sich die Mädchen und Jungen einen festen Klassenstandpunkt aneignen, ihre ganze Persönlichkeit, ihr Wissen und Können, Fühlen, Wollen und Handeln für den Sozialismus, für die allseitige Stärkung der DDR einzusetzen und ein von Optimismus, Freude und Frohsinn erfülltes Leben zu führen... Es gilt, die Dialektik zu meistern, hohen sozialistischen Ideengehalt mit Massenwirksamkeit zu verbinden".2

Bemerkenswerterweise standen in den "offiziellen" Konzeptionen Ideologie und Erziehung immer im Zentrum und die Kultur eher am Rande. In den jeweiligen fernsehspezifischen "Umsetzungen" standen aber fernsehästhetische Darstellungen von "Kindheiten in der DDR" für Kinder in der DDR meist im Mittelpunkt. Außerdem wurden die dramatischen Produktionen des Kinderfernsehens sowohl in Kooperation als auch in fernsehästhetischer Konkurrenz zu den anderen dramatischen Abteilungen des Fernsehens der DDR wie auch zur Kinderfilmproduktion der DEFA und insbesondere in Konkurrenz zu den Kinderprogrammen des bundesrepublikanischen Fernsehens hergestellt.

Diese Mischung aus notwendiger Ideologieprosa und gewolltem künstlerischen Anliegen konnte sich in ihren Programmergebnissen zu Beginn der 80er-Jahre durchaus sehen lassen: Gevatter Tod (RE: Wolfgang Hübner), Das große Abenteuer des Kaspar Schmeck (RE: Grunter Friedrich) Spuk im Hochhaus (RE: Günter Meyer kam erst im Dezember 1982 bis Februar 1983 ins Programm,) gehören zu den zweifellos gelungenen Ergebnissen dieser zwei Jahre. Moppel und das Manöver über zwei Kinder von NVA-Angehörigen, Genosse Renner und die geplante Serie Frag’ doch mal den ABV wurden offenbar als politisch-ideologisches Schwarzbrot konzipiert, aber soweit ich weiß nie realisiert.

Inwieweit dieses "Vergessen" der politisch-ideologisch relevanten Angebote eine Reaktion auf ein verändertes Zuschauerverhalten der Kinder war, kann gegenwärtig noch nicht schlüssig belegt werden. Zumindest kann die folgende "Einschätzung" aus dem Büro des Politbüroverantwortlichen für Agitation und Propaganda und damit auch für das DDR-Fernsehen Verantwortlichen, Joachim Herrmann, als ein Indiz in diese Richtung gesehen werden:

"Das Kinderfernsehen hat über mehr als zwei Jahrzehnte eine erfolgreiche und zum Teil international beispielgebende Arbeit geleistet. Die meisten Kindersendungen erzielten eine gute Zuschauerresonanz und zeichneten sich durch hohe politisch-ideologische, pädagogische und gestalterische Qualität aus. Lange Zeit besaß unser Kinderfernsehen auch einen echten Vorsprung gegenüber den Kindersendungen des BRD-Fernsehens. Dies betraf vor allem viele der populären Kinderfiguren und die Kinderdramatik.

In den letzten Jahren sind Wirkungsverluste eingetreten, weil nicht genügend den gewachsenen gesellschaftlichen Anforderungen an das Niveau dieser Sendungen Rechnung getragen wurde. So wurden im Kinderprogramm über viele Jahre kaum Neuerungen eingeführt, die der gewachsenen Reife, insbesondere auch dem höheren Bildungsstand der Kinder von heute gerecht werden. Die Palette der Figuren ist im Wesentlichen gleich geblieben. Es wurde zu wenig Wert darauf gelegt, Sendeformen zu entwickeln, die in kindgemäßer Form zum Knobeln, Forschen und Mitdenken anregen, die den Wissensdrang der Kinder befriedigen. Nicht genügend wurden die Anstrengungen des BRD-Fernsehens beachtet, durch moderne Gestaltungsformen die Wirksamkeit der Sendungen zu erhöhen."3 (Kursive Hervorhebungen, D.W.).

Wegen dieser Wirkungsverluste sollten die Programme des "ideologischen Gegners" ständig beobachtet werden: "Es ist eine ständige Analyse der Vorhaben der Fernsehanstalten der BRD zu sichern, damit rechtzeitig offensiv geeignete Konterprogramme gestaltet werden können."4

Auswirkungen dieser Wirkungskonkurrenz auf das eigene Programm äußerten sich aus der Sicht des langjährigen Chefdramaturgen des DDR-Kinderfernsehens u.a. folgendermaßen:

"Das Bestärken von Wohlbefinden, Geborgenheit und Zukunftsgewißheit in der Gesellschaftsordnung einerseits und die Herausforderung andererseits, Einflüsse des ‘West’fernsehens abzuwehren, indem man die Zuschauer an das eigene Programm binden wollte, ergaben einen auf die Dauer nicht lösbaren Widerspruch. Der Druck auf immer größere Attraktivität führte unaufhaltsam zu Prinzipienverlusten, Zugeständnissen und Unverbindlichkeit. Unterhaltsamkeit, Spiel und Spaß sowie insgesamt ‘Erlebnisfähigkeit’ wurden immer dringlicher zu maßgebenden Programmkriterien erklärt..."5

Wie groß dieser Druck tatsächlich war, lassen weiter hinten aufgeführte Forschungsergebnisse des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig aus den 80er-Jahren erahnen, die zeigen, dass die Lieblingssendungen der SchülerInnen in der DDR in dieser Zeit fast ausnahmslos im bundesdeutschen Fernsehen gesendet wurden! Eine wesentliche Determinante der Rezeptionsbedingungen für Kinder in der DDR war das Aufwachsen mit bzw. in zwei politisch unterschiedlichen Medienwelten, die allerdings thematisch und formal nicht erst in den 80er-Jahren sehr stark konvergierten.

Dennoch erfreuten sich Kindersendungen des DDR-Fernsehens beim Zielpublikum insbesondere bei dem im Vorschulalter durchaus großer Beliebtheit, wofür Ergebnisse medienbiografischer Interviews (vgl. hierzu u.a. Bier, Marcus6 und Hackl, Christiane7, aber auch die sporadisch bekannt gewordenen Daten der Zuschauerforschung sprechen:

"Für 1988 ist folgende Sehbeteiligung ausgewiesen: Kinder im Vorschulalter sahen durchschnittlich zu 40% das ihnen zugedachte Programm – auf das Sandmännchen entfielen 67%; Kinder im Unterstufenalter (6 bis 9 Jahre) widmeten sich ihren Sendungen zu 20% – die Flimmerstunde erreichte im Mittel 40%; Kinder im Mittelstufenalter machten von dem einschlägigen Angebot zu 10% Gebrauch..."8

Der Fernsehempfang wurde bei DDR-Kindern durch den Umstand begünstigt, dass nach Untersuchungen des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig Mitte der 80er-Jahre bereits 21% der SchülerInnen in 3. Klassen und mehr als 30% in 8. Klassen einen Fernsehapparat zur freien Verfügung hatten und das Fernsehen mit mehr als 90% Zuwendung die beliebteste Form kultureller Freizeitgestaltung war.

Die narrativen Kinderprogramme des DDR-Fernsehens es handelt sich hierbei um ca. 500 Eigenproduktionen (Märchenverfilmungen und Studioinszenierungen, Verfilmungen von Gegenwartsliteratur und von Originalstoffen, Filme für bestimmte Anlässe und solche fürs "Normalprogramm" etc.) sowie um etwa 150 Theaterübernahmen waren Bestandteil des Gesamtangebots an Kindersendungen und das betrug 1955 = 47 Stunden, 1960 = 267 Stunden, 1965 = 194 Stunden, 1970 = 383 Stunden (also erstmalig durchschnittlich mehr als eine Stunde pro Tag!), 1975 = 404 Stunden, 1980 = 444 Stunden, 1985 = 580 und 1988 = 607 Stunden.

Diese Programme waren, wie andere Programme auch, in das Gesamtgefüge des Staatsfernsehens in der DDR eingebunden und gleichzeitig Gegenstand eines besonderen politischen und pädagogischen Interesses.

2. Empirische Daten zum Mediengebrauch von Kindern in der DDR

Die DDR hatte, wie zu anderen Formen einer demokratischen Öffentlichkeit, in den vierzig Jahren ihres Bestehens auch ein gestörtes Verhältnis zur empirischen Sozialforschung. Öffentliche Meinung in der DDR war das, was die Staatsmacht als solche deklarierte; empirische Annäherungen an das tatsächliche Stimmungs- bzw. Meinungsbild in der Gesellschaft waren nicht bzw. durften nicht Bestandteil des öffentlichen Diskurses sein. Das heißt, DDR-BürgerInnen konnten nicht nur nicht in ihrer Tageszeitung überprüfen, ob ihre Fernsehnutzung vom Vortag der der quotenbestimmenden FernsehnutzerInnen entsprach; es fehlten ihnen überhaupt statistische Daten zu Meinungs-, Nutzungs- und Besitzverteilungen in der Gesellschaft.

Die methodisch durchaus aufwändigen und finanziell in der Regel gut ausgestatteten Qualifizierungsaktivitäten an Bildungseinrichtungen sowie die empirischen Studien der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, des Zentralinstituts für Jugendsforschung und der Zuschauerforschungen des DDR-Fernsehens und -Rundfunks unterlagen strengen Geheimhaltungsvorschriften. Außerdem war der Glaube an die Beweiskraft von Statistiken in der DDR durch die Erfahrungen mit manipulierten Wahlergebnissen und Wirtschaftsdaten ohnehin nicht gut entwickelt.

Im Zentrum der folgenden Darstellungen sollen Ergebnisse zur Fernsehnutzung von SchülerInnen in der DDR aus den 60er-, 70er- und 80er-Jahren stehen.

Eine Intervallstudie des ZIJ, beginnend bei etwa 1300 Leipziger SchülerInnen aus 3. Klassen (also 9- bis 10-Jährigen), erbrachte 1985 die folgende Hitliste an Lieblingssendungen im Fernsehen (offene Frage):

21% der Nennungen betrafen Unterhaltungssendungen, z.B. Die verflixte 7 (ARD), Wetten, daß ...? (ZDF), Donnerlippchen (ARD), die Mehrheit bezog sich auf Angebote des bundesdeutschen Fernsehens;

22% entfielen auf Kindersendungen, z.B. Spaß am Dienstag (ARD), Na, sowas!, Alles Trick, Die Biene Maja etc. auch hier ein sehr hoher Anteil an Angeboten des BRD-Fernsehens;

28% auf Serien, z.B. Simon & Simon (ARD) auf diese Serie entfielen mehr als die Hälfte aller Serien- bzw. 16% der Gesamtnennungen, Neumanns Geschichten (DDR-Fernsehen), Tom und Jerry, Pan Tau und Schwarzwaldklinik und

67% auf Spielfilme mit dem eindeutigen Favoriten Winnetou (37% aller Nennungen und Mehrheit der Spielfilmnennungen).

Ein Jahr später favorisierten die gleichen Kinder die folgenden Fernsehangebote:

Spaß am Dienstag, Verstehen Sie Spaß?, Die verflixte 7, Filme mit Bud Spencer, und Das Boot (!). Wiederum dominierten Angebote des BRD-Fernsehens, mit einer noch deutlicher werdenden Tendenz zu solchen aus den Abendprogrammen (7 der ersten 10).

Das heißt: Mitte der 80er-Jahre war die Fernsehrezeption von älteren Kindern (9- bis 11-Jährige) nur noch in einem geringen Umfang von Angeboten des Kinderprogramms und schon relativ deutlich von Angeboten des BRD-Fernsehens bestimmt (noch deutlicher zeigte sich diese Entwicklung, den Einfluss westlicher Kinder- und Jugendkulturen betreffend, innerhalb ihrer Musikvorlieben).

Das heißt "Medienkindheit" in den 80er-Jahren bedeutete für die Mehrheit der DDR-Kinder: Kindheit in unterschiedlichen Mediensystemen bzw. -welten.

Was letztlich auch bedeutete: Sie wuchsen mit unterschiedlichen politischen, kulturellen, medialen und wahrscheinlich auch pädagogischen Bezugssystemen auf: Die Mehrheit der DDR-Bevölkerung emigrierte medial allabendlich aus ihrem System, die sozialen Bindungen an dieses System waren dennoch relativ stark. Denn: Konstant, im Sinne von Grunderfahrungen, blieben eigentlich nur die sozialen Bezugssysteme mit ihren durchaus möglichen problematischen Implikationen.

Bevor ich weiter auf die damit verbundenen Erfahrungen, Probleme etc. eines so strukturierten Kindseins in den 80er-Jahren eingehe, sollen zunächst empirische Daten aus früheren Jahrzehnten dargestellt werden.

Anfang der 60er-Jahre gab es in der DDR die ersten Versuche von empirischen Analysen zum Themenkomplex "Schüler und Bildmedien", zunächst untersucht am Beispiel des Spielfilms (Hamisch 1959 und 1963), es folgten ab 1964 auch erste Studien zur Fernsehnutzung von Schülern.

Fritz Beckert hatte 1964 eine erste "Standortbestimmung des Fernsehens im pädagogisch-psychologischen Denken" vorgelegt.9 Im empirisch orientierten Teil seines Beitrags verwies Beckert u.a., darauf,

  • dass "gegenwärtig mindestens 60% aller Schüler in ‘Fernseh-Familien’ leben";
  • dass "das wöchentliche Fernsehpensum von Schülern der 6. Klasse ... bei 6,9 Stunden (liegt)";
  • dass "ernsthafte Probleme... durch die Teilnahme von Kindern an den Abendsendungen des Fernsehens aufgeworfen (werden)".

Im gleichen Jahr erschien eine erste ausführliche Darstellung der "Fernsehteilnahme und Fernsehgewohnheiten bei Jugendlichen",10 interessanterweise wieder aus dem Bezirk Karl-Marx-Stadt. Auf der Basis einer Befragung von 4486 Schülern aus 4. bis 10. Klassen, konnte der Autor u.a. feststellen, dass

  • 62% der Schüler "Fernsehteilnehmer" waren;
  • die durchschnittliche Fernsehteilnahme pro Woche zwischen 5.8 (4. Klasse) und 8.2 Stunden (9. Klasse) schwankte;
  • "eine Fernsehteilnahme bis zu 7 Stunden wöchentlich zur Normalstruktur der Freizeitgestaltung eines Schülers unserer Gesellschaft zu rechnen ist";
  • Professor Flimmrich und Meister Nadelöhr bei Schülern der 4. bis 6. Klassen besonders beliebt waren, während sich bei den älteren Schülern Spielfilme und Unterhaltungssendungen einer besonderen Beliebtheit erfreuten;
  • sich diese Tendenzen auch in den ermittelten Sehbeteiligungen für ausgewählte Fernsehangebote widerspiegelte: Professor Flimmrich zwischen 5,2% (9. Klasse) und 43,5% (4. Klasse) Sehbeteiligung; bunte Unterhaltungssendungen zwischen 11% (6. Klasse) und 69,5% (9. Klasse); Für den Filmfreund ausgewählt zwischen 2,6% (4. Klasse) und 50% (10. Klasse);
  • "im Durchschnitt 14% aller Schüler, die die Möglichkeit des Fernsehens besitzen, täglich die Aktuelle Kamera (verfolgen)."

Eine Untersuchung von Rolf Kahl11 bei 500 Schülerinnen und Schülern aus 7. und 8. Klassen (wiederum im Bezirk Karl-Marx-Stadt) zeigte ähnliche Nutzungsdaten: Professor Flimmrich erreichte 58%, Zu Besuch im Märchenland 45% und das Sandmännchen 21%, während die untersuchten Filme wiederum über diesen Werten lagen. Bestätigt werden diese Nutzungs- und Beliebtheitsdaten außerdem in einer methodisch interessanten Studie von Rolf Böhme12, die ebenfalls vom Institut für Pädagogik an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt realisiert wurde.

Zu Beginn der 70er-Jahre bricht die gerade angefangene Tradition in der Veröffentlichung und Diskussion empirischer Daten zum Fernsehgebrauch von Kindern und Jugendlichen in der DDR bereits wieder ab. Teilweise wird auf die weniger kritisch beäugte Kinonutzung bzw. auf die "Schubkastenforschung" ausgewichen; zumindest durften die entsprechenden Forschungsergebnisse des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig und auch die weniger kontinuierlich erhobenen der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften nicht bzw. nur stark gefiltert und verschleiert veröffentlicht werden.

3. Von der Ästhetik des Gewünschten zur Ästhetik des Wünschenswerten?

Im ersten Teil meines Beitrags waren die Themenkomplexe "ideologische Zielvorstellungen" für und "direkte und indirekte Einflussnahme" der SED auf das Kinderfernsehen schon kurz skizziert worden. Das Wissen um diese Zielvorstellungen und Beeinflussungsversuche führte in Abhängigkeit von "politischen Großwetterlagen", aber auch von individuellen Übereinstimmungen oder Distanzierungen von solcherart Zielvorstellungen bei den MacherInnen zu sehr unterschiedlichen Reaktionen.

Die Suche nach Gestaltungsräumen für versteckte Botschaften spielte hier ebenso eine Rolle wie der Wunsch nach einer (fernseh)ästhetischen Erziehung der Kinder. Der Ehrgeiz, einfach gute Sendungen zu machen, war ebenso vertreten wie der Glaube, in einer besseren Gesellschaft zu leben und dieses Kindern auch vermitteln zu müssen.

Hinzu kommt, dass sich das Kinderfernsehen der DDR immer auch den durch die Kinderangebote der DEFA-Studios geschaffenen Maßstäben und gesetzten Erwartungen stellen musste.

So gingen 12 der 20 von den Fachjurys während der 6 zwischen 1979 und 1989 vergebenen "Goldenen Spatzen" an die DEFA-Studios und nur 8 an das Fernsehen (kein einziger Spiel- bzw. Fernsehfilmpreis übrigens). Und auch von den 24 Preisen der Kinderjurys gingen 16 an die DEFA-Studios und "nur" 8 an das Kinderfernsehen (hier waren allerdings 4 Fernsehfilme vertreten!). Bemerkenswert hoch war in diesem Zusammenhang die Anerkennung der vom Fernsehen produzierten Dokumentarfilme für Kinder.

Auch in der DDR-typischen institutionellen Auszeichnungshierarchie wurde das DDR-Kinderfernsehen erst relativ spät für höhere Weihen entdeckt (1978: Vaterländischer Verdienstorden in Gold).

Es wird Aufgabe des von der HFF durchgeführten DFG-Teilprojekts "Fiktionale Programme im DDR-Kinderfernsehen zwischen ästhetischer Erziehung, Unterhaltung und Ideologievermittlung" sein, die Frage nach einem eigenständigen ästhetischen Stil des Kinderfernsehens der DDR und nach dessen Ausdrucksformen (Bildsprache, Erzählhaltungen etc.) zu beantworten. Dabei muss auch eine Diskussion darüber geführt werden, inwieweit spezifische Fernsehformate überhaupt ästhetische Entwicklungen ermöglichen bzw. zulassen können. Fernsehhistorische Forschung kann insofern nicht losgelöst von Produktionsbedingungen und institutionsinhärenten Parametern erfolgen.



LITERATUR

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ANMERKUNGEN

1Hans Jürgen Stock: Das Kinderprogramm des DDR-Fernsehens. In: Das Handbuch des Kinderfernsehens. Hans Dieter Erlinger u .a. (Hrsg.). Konstanz, UVK Medien 1995, S. 43.

2Hans-Jürgen Stock, a.a.O., S. 51.

3Bestand Büro Joachim Herrmann, Akte Fernsehen der DDR. Aufgaben. Vorbereitung Fernsehsendungen. Einschätzung Fernsehfilm. Vorschläge Gestaltung Programme ... Meinungsumfragen bei Zuschauern. Analyse Wirksamkeit Fernsehen DDR. Zusammenarbeit mit Autoren, SAPMO DY 30 / IV 2 / 2.037 / 41, zitiert nach: Ingelore König: Wenn man die Welt nicht anders begreifen kann... Ästhetische Konzepte des DDR-Kinderfernsehens: Zwischen Perfektion und Pädagogik", unveröffentlichtes Manuskript (1999). Frau König verdanke ich viele Anregungen für diesen Beitrag.

4Ebenda, S. 43.

5Ebenda, S. 43.

6Marcus Bier: Im Wendekreis des Westfernsehens – Über den individuellen Umgang mit der Television in der DDR. In: Hickethier, Knut (Hrsg.): Deutsche Verhältnisse. Beiträge zum Fernsehspiel und Fernsehfilm in Ost und West. Arbeitshefte Bildschirmmedien 41/1993, Universität Siegen (DFG-Sonderforschungsbereich 240: Ästhetik, Pragmatik und Geschichte der Bildschirmmedien).

7Hackl, Christiane: Fernsehen im Lebenslauf. Eine medienbiographische Studie. Konstanz: UVK 2001. (Leipzig 1999: Diss. Univ. Leipzig)

8Stock, a.a.O., S. 59

9Beckert, Fritz: Probleme der Standortbestimmung des Fernsehens im pädagogisch-psychologischen Denken. In: Pädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der sozialistischen Erziehung. Berlin 19/1964/7, S. 583 ff.

10Otto, Werner: Fernsehteilnahme und Fernsehgewohnheiten bei Jugendlichen. In: Pädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der sozialistischen Erziehung. Berlin 19/1964/4, Beiheft, S. 10-22.

11Kahl, Rolf: Das Verhältnis dreizehn- bis vierzehnjähriger Schüler zum Programmangebot des Deutschen Fernsehfunks. In: Film Fernsehen Filmerziehung. -/1968/1, S. 44-60.

12Böhme, Rolf: Entwicklungspsychologische Probleme des Fernsehverhaltens von Kindern und Jugendlichen. Ebenda, S. 61-81.


DER AUTOR
Dieter Wiedemann, Dr. phil., ist Professor an der Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf" in Potsdam.


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