Jan-Uwe Rogge
Fantasie, Emotion und Kognition
in der "Sesamstraße"
Anmerkungen zu den Rahmengeschichten
Kinder haben eine magisch-fantastische
Wirklichkeitsauffassung. Sie mögen einfache und klare Geschichten,
die märchenhafte Elemente aufweisen, die sie mit ihrer Fantasie
besetzen können. In einer Rezeptionsuntersuchung zur Sesamstraße
fanden Kinder dies vor allem in den Muppet-Geschichten oder der
Figur Pepe. In einigen Einspielfilmen hingegen fühlten Kinder
sich nicht ernst genommen.
1. Max trifft Ernie und Bert
Max, 4 ½ Jahre,
kommt mit seiner Mutter in die Beratung. Sie wirkt einigermaßen
genervt. Max zeichnet sich dadurch aus, dass er im Haus seiner Eltern
Chaos verbreitet.
Mutter (genervt): "Das Schlimmste, er sagt,
er mache nicht die Unordnung, sondern das machten Ernie und
Bert, die ihn besuchen." Sie sieht mich an: "Stellen Sie sich vor,
Ernie und Bert, der spinnt doch!"
Max: "Nicht Ernie und Bert, nur Ernie, Mama,
nur Ernie!"
Mutter: "Hör auf!"
Ich greife ein und frage Max: "Wie ist das?"
Max (lachend): "Die kommen, räumen alles
aus den Kisten und dann verschwinden die einfach, ohne wieder aufzuräumen!"
Mutter: "Max, bitte! Hör sofort auf
mit dieser Spinnerei!"
Max: "Aber du sagst, wer Unordnung macht,
muss das aufräumen! Nur Ernie macht das nicht! Der haut immer
gleich ab!"
Mutter mit schriller Stimme: "Max! Hör
sofort auf mit deinen Geschichten!"
Ich wende mich an Max und frage: "Ärgert
dich das?"
Max nickt.
"Wenn dich das stört" hake ich nach,
"warum sagst du dann nichts?"
Er sieht mich irritiert an.
"Hast du dir etwas überlegt?" Max schüttelt
den Kopf.
"Sagen Sie ihm", greift die Mutter ein, "er
soll gefälligst mit seinem Gespinne aufhören! Er soll
aufräumen!" Sie ist wütend. "Dieser verfluchte Mist aus
dem Fernsehen! Dabei soll die Sesamstraße doch eine
gute Sendung sein. Da soll man was lernen." Sie sieht mich entnervt
an: "Und dann dieses Ergebnis!"
Max lächelt mich an.
"Max", wende ich mich an ihn, "ich würde
mit Ernie sprechen, sagen, dass dich das ärgert, wenn er nicht
aufräumt!"
"Wie bitte?" platzt die Mutter dazwischen.
"Sie haben zu viel Verständnis mit ihm! Sie haben wohl auch
zu viel ferngesehen!"
Aber Max schaut mich aufmerksam an. "Ich
soll mit ihm schimpfen?" antwortet er zögerlich.
"Ja!"
"Wie denn?"
Ich sehe in an: "Ich würd’s so versuchen:
Ernie, du kannst mit mir spielen. Aber du musst dann wieder aufräumen,
bevor du gehst. Sonst brauchst du gar nicht mehr zu kommen!"
Max nickt heftig, so, als habe er die Botschaft
verstanden. Dann sieht er mich fragend an: "Und wenn er das nicht
macht?"
"Dann kannst du ihm sagen, du brauchst gar
nicht mehr zu kommen!"
Drei Wochen später. Die Mutter kommt
wiederum in die Beratung: "Er räumt auf!" Max ist dabei und
lacht: "Ich hab’ mit dem Ernie geschimpft!"
"Und?"
"Nun kommt er nicht mehr. Nun bleibt er in
der Sesamstraße und macht dort seinen Unsinn."
Kinder erfinden unsichtbare Gefährten,
unsichtbar nur für Erwachsene, für Kinder sind sie zum
Greifen nahe. Es sind Figuren, die in der Fantasie entstanden sind
oder wo Medien Geburtshelfer waren – Figuren, die mit den Kindern
durch Dick und Dünn gehen, für eine Zeit lang untrennbar
mit ihnen verbunden sind. Eltern haben Probleme damit, weil sie
meinen, das Kind würde aus der Realität fliehen und dabei
Wirklichkeit und Fantasie vermischen. Aber ganz im Gegenteil: Solche
Figuren sind für die gefühlsmäßige Entwicklung
des Kindes außerordentlich wichtig. Die Gefährten dienen
als Kleister, um Löcher im manchmal noch lückenhaft intellektuellen
Lernprozess zu stopfen – aber sie sind ungefährlich für
das Kind. Es lässt sich freiwillig auf sie ein, es bestimmt
über sie, es lenkt sie. Das Kind besetzt aber die Figuren mit
eigenen Wünschen und Gedanken. Um es auf Max zu übertragen:
Er hat eine ebenso einfache wie magische und kindgerechte Lösung
gefunden. Max konnte die Kritik der Eltern an seiner Unordnung nicht
annehmen. Er empfand sie wohl weniger als Kritik an der Sache denn
als Kritik an seiner Person. Je vehementer die elterlichen Vorwürfe
wegen seiner Unordnung kamen, umso intensiver führte er seine
kleinen Rachefeldzüge vor, die die Eltern allmählich zur
Verzweiflung trieben. Die Bedeutung von Max’ Fantasien wird sehr
schnell klar. Ernie verkörperte Max’ polare Sichtweise, die
so typisch für die Altersstufe zwischen drei und fünf
ist: die Aufspaltung in gute und böse Personen. Ernie repräsentierte
das "Böse", Max das "Gute". Eine differenzierte Betrachtung
von Personen – das heißt, dass sich auch eine Entweder-oder-Haltung,
eine Sowohl-als-auch-Haltung entwickelt – gewinnen Kinder frühestens
vom fünften Lebensjahr an. Erst allmählich wandelt sie
sich. Ernie diente Max als Vehikel, ein magisches Vehikel, dessen
Bedeutung für die Eltern auf den ersten Blick nicht zu erkennen
war. Meine Beobachtung: Wenn Eltern und Erwachsene sich mehr auf
eine genauere Beobachtung ihrer jüngeren Kinder einlassen könnten,
Eltern lernten, für deren magisch-fantastische Sichtweise Verständnis
zu entwickeln, dann gelänge es, schon mit Kindern zwischen
zwei und fünf Jahren zu Konfliktlösungen zu kommen. Zwar
hätten sie nur eine begrenzte Zeit Gültigkeit, könnten
aber manchen Machtkampf auf eine ebenso überraschende wie witzige
Weise beenden.
2. Die Bedeutung der magisch-fantastischen
Phase in der kindlichen Entwicklung
Die magisch-fantastische Phase des Kindes
reicht vom vierten Lebensjahr bis in das Grundschulalter hinein.
Dem magischen Denken wird in der Bildungsdiskussion der letzten
Jahrzehnte eine nachgeordnete Bedeutung zugewiesen – zu sehr stehen
Rationalität und die Orientierung an kognitiven Lernzielen
schon im Vorschulalter an vorderster Stelle. Der Leistungsgedanke
ist auf das intellektuelle Vermögen und weniger auf die sozialen,
motorischen und gefühlsmäßigen Fähigkeiten
des Kindes festgelegt. Aber es ist wichtig, sich zu vergewärtigen:
Das Kind empfindet sich in der magischen
Phase als eine Art Mischung aus Wissenschaftler und Magier, aus
Forscher und Künstler. Auf der einen Seite weiß das Kind
um reale Abläufe, weiß um die Hintergründe vieler
Dinge. Aber daneben gibt es – ganz zwangsläufig – riesige Lücken,
die das Kind mit eigenen Fantasien und selbst gestalteten Überlegungen
füllt.
Kinder denken in Bildern. Und diese vom Kind
konstruierten Bilder – seien es das Monster, der Schatten oder der
imaginäre Räuber – können genauso wahrhaftig sein
wie die Wirklichkeit, die das Kind umgibt.
Das Kind beseelt Dinge, haucht ihnen seinen
Willen ein, gibt ihnen eigene Bedeutung. So können die Legosteine
im dritten Lebensjahr noch zum imaginären Spielgefährten
werden – jene Steine, die das Kind dann ab dem fünften Lebensjahr
fast nur noch als Spielmaterial ansieht. Wenn im dritten Lebensjahr
noch der Batman-Umhang reicht, um sich wie dieses Vorbild
zu fühlen, so muss es im siebten Lebensjahr die Gesamtausrüstung
sein, um die Fantasie aufzubauen, man sei der Superheld.
Doch erweist sich die selbst bestimmte Beseelung
von Dingen manchmal als widersprüchlich: Sie gibt den Kindern
Kraft, um Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit zu demonstrieren.
Aber durch die magische Besetzung können aus harmlosen Gegenständen
oder Situationen fürchterliche Monster werden. Da entstehen
aus dunklen Schatten Geister, da werden aus wehenden Gardinen Einbrecher
und knarrende Geräusche mit überlebensgroßen Einbrechern
gleichgesetzt.
Kinder sind den Objekten der Um- und Nahwelt
niemals passiv ausgeliefert. Sie entwickeln selbstbewusste und eigenständige
Techniken, um sich der Wirklichkeit zu stellen, sich mit ihr auseinander
zu setzen. Kinder erfinden zum Beispiel Fantasiefiguren, unsichtbare
Gestalten, die eine Zeit lang Begleiter sind, um dann wieder aus
ihrer Welt zu verschwinden.
In Fantasiegeschichten und Märchen werden
dem Kind Erklärungen angeboten, die ihm emotionale Stärkung
geben. Solche Genres rufen deshalb Erstaunen und Verwunderung hervor,
weil das Kind schon Erkenntnisse darüber hat, dass es nicht
so sein kann, wie es in diesen Geschichten passiert. Die Perspektive
des "Es könnte so sein" stellt dabei neben dem realistischen
Blick eine andere Sichtweise auf Wirklichkeit dar.
Im Spiel verarbeiten Kinder bedrohliche,
ängstigende Eindrücke. Im Spiel durchlebt das Kind ganze
Gefühlspaletten, es hat deshalb – wie es der Psychologe Hans
Zulliger formulierte – "heilende Kräfte". Ähnliches gilt
für das Ritual, das Kinder entwickeln, um diffusen, unklaren
Erfahrungen eine Struktur zu geben. Im Ritual können Kinder
– ganz wie von Zauberhand –unsichere, ängstigende Lebenssituationen
bannen.
Manchmal regredieren Kinder, das heißt
sie fallen in frühere Entwicklungsstufen zurück, um sich
seelischen oder gefühlsmäßigen Belastungen zu entziehen.
So ein Rückzug kann schöpferisch, aber auch durchaus zwanghaft
sein. Manchmal hilft jedoch sogar das Gegenteil: Kinder machen Fantasiereisen
in die Zukunft, katapultieren sich nach vorne, um daraus Kraft für
die Gegenwart zu beziehen.
In der magisch-fantastischen Phase werden
bestimmte Genres für Kinder wichtig: das Märchen, Zauber-
oder Zeichentrickgeschichten, Comedy. Es gibt eine Entsprechung
zwischen den formalen Strukturen dieser Genres und der psychischen
Verfassung von Kindern zwischen dem vierten und achten Lebensjahr.
Ja es scheint so, als unterstützten diese Genres die Kinder
dabei, ihre Entwicklungsaufgabe in dieser Phase zu durchleben.
Der Märchenforscher Max Lüthi hat
fünf Gesichtspunkte entwickelt, die diese Verbindung bestätigen:
- Das Märchen ist eindimensional. Dies
meint, dass alles mit allem in Kontakt treten kann. Es ist normal,
wenn Fantasiegestalten auftreten. Autos, Tiere oder Bäume
verfügen über menschliche Eigenschaften. Sie unterstützen,
helfen und retten den Helden auch aus höchster Not. Und niemand
wundert sich darüber.
- Märchen sind flächenhaft. Dies
umschreibt die Aufhebung von Raum und Zeit, von Naturgesetzen,
von Schwerkraft und Logik. Märchen folgen ihren eigenen Gesetzen,
alles ist möglich, nichts ist unmöglich. Nicht um die
äußere Realität geht es im Märchen, vielmehr
bieten sich einem Kind Symbole, die ihm bei der Bearbeitung der
inneren Wirklichkeit helfen. Zwar passiert im Märchen ständig
Unerwartetes, Unvorhergesehenes, aber die Kinder wissen um den
Sieg des kleinen Helden. Alles ist in Bewegung, immer ist etwas
los.
- Das Märchen lebt von den Formeln:
"Es war einmal" oder "Und wenn sie nicht gestorben sind". Diese
Formeln sind Beschwörung, sind Momente der Vertrautheit,
sind altbekannte Rituale, mit denen man Angst und Schrecken bannen
und aushalten, in den Griff bekommen kann.
- Der Märchenheld besteht seine Abenteuer
allein, isoliert von der Außenwelt. Unsichtbare Hände
oder die helfende Außenwelt greifen nur dann ein, wenn er
in größter Gefahr ist.
- Das Märchen lebt von der polaren
Gegenüberstellung von groß und klein, stark und schwach,
gut und böse, wobei der kleine Listige, der zerbrechliche
Schwache, der Gute über das Böse oder das Unrecht siegt.
So wie das "Böse" symbolhaft – manchmal bis an die Grenze
von Klischee und Stereotyp – dargestellt ist, so lautet die abstrakte
Botschaft von Märchen: "Du musst dich schinden und bewähren!"
Es geht um Reifung, Identitätssuche und Entwicklung. Der
Märchenheld steht am Ende geläuterter, entwickelter,
schlichtweg reifer da.
Zweifelsohne kann man – wie es in manchen
Zeichentrickserien oder -filmen geschieht – solche Strukturen auch
missbrauchen, um Kinder gefühlsmäßig zu überfordern.
So steht der Held einer Zeichentrickserie zu Beginn einer neuen
Folge genauso ungeschickt und unbeholfen, überrascht und unbedarft
da wie in der Sendung zuvor. Fehler, Übermut, Dreistigkeit
und Dummheit wiederholen sich immer aufs Neue, die Suche nach Identität
wird zur immer dauernden Fortsetzung.
Wenn man Kinder mit Fantasiegeschichten erreichen
will, sollte man einige Überlegungen berücksichtigen:
- Kinder mögen einfache und klare Geschichten,
die märchenhafte Elemente aufweisen – Elemente, die sie mit
ihrer Fantasie besetzen können.
- Kinder brauchen Geschichten mit einem
Happy End, das Mut macht.
- Kinder verabscheuen elterliche Erklärungen
und Deutungen von Geschichten. Diese empfinden sie als störenden
Eingriff in selbstbestimmte, schöpferische Tätigkeit.
Je mehr Erklärungen die Erwachsenen zu magischen Geschichten
haben, umso mehr werden die inneren Bilder der Kinder berührt.
Wenn Kinder Fragen haben, werden sie diese stellen. Eltern sollten
(auch) in dieser Hinsicht Vertrauen in ihre Kinder haben. Allerdings
suchen Kinder häufiger das Gespräch mit Gleichaltrigen,
weil sie hier mehr Verständnis erfahren.
Um sich auf die Geschichten einzulassen,
brauchen Kinder Gewissheit, Vertrautheit und Verlässlichkeit.
Diese stellt sich nur durch wiederholtes Hören und Durchleben
der Geschichten ein. Je näher eine Story oder ein Märchen
geht, je intensiver die subjektiv bedeutsamen Themen des Kindes
getroffen werden, desto intensiver wird der Wunsch nach Wiederholung
geäußert. Viele Kinder geben sich auch deshalb nicht
mit einem einmaligen Hören zufrieden, weil sie die gehörte
Geschichte im Geiste durchspielen und –arbeiten, um zu einer Lösung
zu kommen. Das Prinzip der Wiederholung gehört für die
Kinder zum Hören einer Geschichte, und zwar so lange, bis das
innere Bild für das Kind bearbeitet ist, keine Bedeutung mehr
hat und eine andere Geschichte fasziniert.
3. Altersgemäße Sendungskonzeptionen
– Was heißt das?
Die Sesamstraße gliedert sich
in zwei Teile: Da sind zunächst die Studiogeschichten um Samson,
Finchen, Tiffy oder Rumpel, sowie die Stories mit den Puppen (Ernie,
Bert und Co).
|
Pepe (Dirk Bach) |
Und dann gibt es noch die Einspielfilme,
die aus amerikanischen Produktionen übernommen oder in Deutschland
hergestellt werden. Die Genres dieser Einspielfilme reichen vom
Realfilm über die Bildergeschichte bis hin zu den verschiedensten
Formen der Animation. Dieser Teil der Sesamstraße steht
nicht im Zentrum der folgenden Überlegungen und Untersuchung.
Diese konzentriert sich vor allem auf die "Bewohner" und die magisch-fantastische
Wirklichkeit der Sesamstraße, also die Puppen und Monster.
Das Konzept der Rahmengeschichten haben die
Redaktion des Norddeutschen Rundfunks (verantwortlich: Anke Schmidt-Bratzel),
die Produktion (Studio Hamburg, verantwortlich: Bettina Bergwelt),
und nicht zuletzt die Headautorin, Angelika Bartram, entwickelt.
Ich habe diese Arbeit unter psychologischen und pädagogischen
Gesichtspunkten begleitet. Ausgangspunkt der Konzeption war die
Lebens- und Alltagswelt der Zielgruppe, d.h. die Kinder im Alter
zwischen drei und sechs Jahren, vor allem deren Entwicklungsbesonderheiten.
Dazu heißt es im Manual zur Sendung, das Grundlage für
jene Autoren war, die die Rahmengeschichten entwickelten: "Kinder
ernst nehmen heißt, sie in jeder Phase ihrer Entwicklung ernst
zu nehmen und zu versuchen, ihnen auf dem Level ihres Erlebens zu
begegnen. Kinder ernst nehmen heißt deswegen auch, sie in
ihren Wünschen, Träumen und Allmachtsfantasien ernst zu
nehmen, sie nicht als eine Ansammlung von Niedlichkeiten zu sehen,
sondern als ein Riesenpotenzial an Möglichkeiten. Kinder ernst
nehmen heißt, die Kraft ihrer Fantasie ernst zu nehmen und
dafür zu sorgen, dass man diese Kraft nicht verbaut, sie nicht
einseitig in eine intellektuelle Richtung drängt, sondern sie
ausbaut zu einer Fähigkeit, die Lust darauf macht, das Leben
zu gestalten." Und zur Umsetzung dieser Auffassung in eine Dramaturgie
heißt es weiter: "Will man Kindern etwas vermitteln, muss
man sich ihrer Sprache bedienen. Das gilt auch für jeden, der
Kindern Geschichten erzählen will. Er muss nachvollziehen können,
wie Kinder in den verschiedensten Entwicklungsstufen mit ihrer Welt
umgehen, wie sie denken, wie sie sprechen, um diese Elemente dann
in seinen Geschichten benutzen zu können. Andernfalls läuft
man Gefahr, an den Kindern vorbei zu erzählen."
Angelehnt an die Alters- und Entwicklungsstufen
der drei- bis sechsjährigen Kinder sind die Entwicklungsstufen,
sind die Temperamente der Protagonisten in den Rahmengeschichten
aufgebaut.
Finchen ist eine Schnecke, drei Jahre alt.
Sie hat viel Fantasie, ist wissensdurstig und neugierig auf alles,
weil es für sie noch viel zu entdecken gibt.
Und dann gibt es natürlich Samson. Finchen
ist seine beste Freundin. Samson, der Bär, ist fünf Jahre
alt. Er reagiert stark emotional, schaut hinter die Dinge, fragt
immer weiter. Doch er hat eine Vorliebe für fantastische Geschichten.
Tiffy, der Vogel, sechs Jahre alt, geht gerade
in die Schule, setzt sich von Finchen und Samson geradezu ab. Tiffy
will alles wissen, und das, was sie weiß, will sie allen vermitteln.
Aber Tiffy braucht auch ihre Kuscheleinheiten, die sie sich bei
Samson holt.
Nicht zu vergessen ist Rumpel, ein altersloser
Grautsch. Rumpel stellt das aufmüpfige Kind dar, das nichts
gut findet, worüber andere sich freuen. Rumpel provoziert,
wo immer er kann. Und Rumpel liebt es, schlechte Laune zu haben.
Rumpel stellt das trotzige Kind dar, das erst einmal gegen alles
ist.
|
Finchen, Samson, Tiffy und Nils Julius |
Aus diesen Charakteren ergibt sich eine kreativ-anarchische
Beziehungsdynamik, die sich dann in den Handlungen und Dramaturgien
der Rahmengeschichten spiegelt. So in der Folge
2055 (Das Licht im Kühlschrank), in
der es darum geht, warum eigentlich Licht im Kühlschrank brennt.
Während Samson und Finchen nach magisch-fantastischen Erklärungen
suchen ("Vielleicht macht die Gurke, die im Kühlschrank liegt,
den Lichtschalter an?"), schwankt Tiffy zwischen einer wissenschaftlich
richtigen und einer fantastischen Erklärung. Nils, eine erwachsene
Bezugsperson aus den Rahmenhandlungen, lüftet am Ende das Geheimnis,
ohne Samson und Finchen mit seiner Erklärung vollständig
überzeugen zu können. Sie bleiben vielmehr bei ihrer Auffassung,
die ihnen altersgemäß vertrauter ist.
In einigen Folgen der Rahmengeschichten spielt
dann noch der Zauberer Pepe, dargestellt von Dirk Bach, eine zentrale
Rolle. Diese Figur wurde neu eingeführt und von den zuschauenden
Kindern schnell akzeptiert. Der Zauberer Pepe ist ein Kind, das
im Moment, im Hier und Jetzt lebt. Pepe misslingt vieles, kaum ein
Zauber, der zunächst nicht schief geht. Aber Pepe gibt nicht
auf, Hoffnungslosigkeit hat keinen Platz. Pepe versucht es immer
und immer wieder, bis es dann endlich klappt. Auch wenn Pepe wie
ein Kind daherkommt, er kindertümelt nie. Er agiert kindlich,
aber er wirkt nicht kindisch. Er hat etwas Geheimnisvolles an sich,
was Kinder schnell in den Bann zieht. Pepe spielt, zaubert, erzeugt
Geschichten, und darin erkennen sich Kinder wieder.
Das Spiel stellt eine aus der Sicht von Kindern
angemesse Form der Verarbeitung von Erlebnissen dar, weil es zentrale
Entwicklungsaspekte des Kindes berücksichtigt. Das Kind lässt
sich freiwillig auf das Spiel ein, das selbst bestimmten Regeln
unterliegt. Im Spiel kontrolliert der Heranwachsende, in welchem
Tempo er sein Problem und seine Lösung angehen will. Im Spiel
geht es um eine begriffliche Lösung des Problems. Das Spiel
lebt vom Grundsatz, wonach das Kind den Begriff über das Greifen
erlernt. Eigenständig und ausgerüstet mit eigenen Mitteln
stellt sich das Kind dem Problem, versucht es zu begreifen, um einen
Begriff vom Problem zu bekommen. Dies geschieht in einer Geschwindigkeit,
die das Kind vorgibt. Das Spiel kennt unterschiedliche Tempi: die
rasante Vorwärtsbewegung, das Schneckentempo, das Verweilen
oder die Rückschau, um zu prüfen, wie weit man gegangen
ist, das Sich-Niederlassen und -Einrichten an einem Ort – und auch
den Rückschritt. All dies stellt Pepe mit seinen Möglichkeiten
dar.
|
Finchen und Ole Murps |
Nun sind es nicht allein die Charaktere,
die die Faszination für Kinder ausmachen. Die Dramaturgie der
Rahmengeschichte erzeugt eine ganz eigene, für Kinder nachvollziehbare
Spannung:
- Da ist zunächst
die Identifikation mit den Muppets: Sei es, dass sich die Kinder
in sie hinein versetzen oder sich über sie erheben.
- Kinder werden
von den Protagonisten direkt begrüßt, sie fühlen
sich ernst genommen.
- Geschichten
knüpfen an die Kompetenzen der Kinder an.
- Geschichten
stellen Bezüge zum Alltag her, ohne dass sie aufgesetzt,
vordergründig und pädagogisch daherkommen.
4. Untersuchung zum Rahmenkonzept
Im Mittelpunkt einer Untersuchung zu den
Folgen 2046 und 2055 standen zwei Fragen:
- Wie gehen Kinder mit den magisch-fantastischen
Gestaltungselementen um? Akzeptieren sie die Mischung aus Unterhaltungs-
und Wissensvermittlung?
- Wie gehen Kinder auf die neu eingeführten
Puppen bzw. Pepe ein? Welche Bedeutung weisen sie ihnen zu?
Die Untersuchung erhebt somit nicht den Anspruch,
das Gesamtkonzept der Sesamstraße im Kontext anderer
Vorschulsendungen zu betrachten. Vergleicht man die Ergebnisse der
Begleiterhebung mit anderen, umfassenderen Studien, so lässt
sich allerdings festhalten: Die Ergebnisse sind durchaus repräsentativ
und lassen sich auf dem Hintergrund anderer Untersuchungen verallgemeinern.
Es wurden 310 Kinder in 12 Kindertagesstätten
befragt. Fünf Kindergärten lagen im Hamburger Stadtgebiet,
sieben befanden sich südlich von Hamburg in einer ländlichen
Region. Die Kinder waren zwischen drei und sechs Jahre alt. Mehrheitlich
kamen sie aus mittleren sozialen Schichten. Die Eltern achteten
auf den Fernsehkonsum ihrer Kinder, waren um anspruchsvolle Sendungen
für ihre Kinder bemüht. Häufig nutzten die Kinder
den Kinderkanal. Vielsehende Kinder gab es ebenso wenig wie Kinder,
die Sendungen sahen, die nicht für die Altersgruppe geeignet
waren.
Der Fernsehkonsum der Kinder lag im Durchschnitt
bei etwa ein bis zwei Sendungen pro Tag, meist Vorschulsendungen.
Genannt wurden die Sesamstraße, Die Sendung mit
der Maus, Sandmännchen, aber auch Löwenzahn,
Siebenstein, Teletubbies, Disney Club oder
Tigerenten Club. Hinzu kamen noch gängige Zeichentrickserien
wie Heidi oder Pokémon. Letztere wurden von
den älteren Kindern genannt.
Die Sesamstraße war allen Kindern
bekannt. Sie war jenes Format, das sie ohne große Auseinandersetzung
mit den Eltern sehen durften, weil diese mit dem Konzept der Serie
einverstanden waren.
Hinzu kommt noch ein anderer Gesichtspunkt,
der sich als bedeutsam erwies: "Sesamstraße dürfen
wir alleine sehen," erklärt der sechsjährige Michael,
"weil wir dort etwas lernen." Aus elterlicher Sicht hat die Sesamstraße
deshalb hohe Akzeptanz. Sie wird als kindgerecht eingestuft, weil
sie frei von Werbung, Gewalt und angsteinflößenden Teilen
ist. Aus der Sicht der Kinder stellt sich die Sesamstraße
als "ihre" Sendung dar. Sie lassen sich auf sie ein, fühlen
sich angenommen.
|
Pepe und Finchen |
Der Umgang mit der Sesamstraße
kommt einem Ritual gleich: Man weiß, wann die Sendung kommt,
richtet sich vor dem Fernsehapparat ein, vertraut den Abläufen,
die da kommen. Vertrautheit wird zum größten Teil durch
die Muppets aufgebaut, auf die sich die Kinder einlassen, deren
Charakter und Temperament sie einzuschätzen wissen. Da ist
der große, kuschelige, lustig-tapsige Bär. Samson möge
sie am liebsten, berichtet die fünfjährige Anne, der sei
so kuschelig, so groß, solch einen möchte sie als Bruder
haben, dann könne ihr nichts passieren. Mit dem würde
sie sogar nachts in den dunklen Wald gehen. Aber auch Ernie, Bert
oder das Krümelmonster werden als bekannt-vertraute Muppets
immer wieder hervorgehoben, ohne dass man nachfragen muss. Die Kinder
begründen ihre Zuneigung zu den Muppets inhaltlich und differenziert:
Alle seien lustig, machen hin und wieder Unsinn, man könne
über sie lachen. Die wären wie "gute Freunde", erklärt
der sechsjährige Jan. "Irgendwie weiß ich, was bei denen
kommt. Ernie, der nervt so ein bisschen und Bert ist der etwas Ruhigere."
Das sei wie mit seinem älteren Bruder, der lasse sich viel
von ihm gefallen.
Die Muppets stehen aus der Sicht der Kinder
nicht allein für bloße Unterhaltung, in ihnen verkörpern
sich Haltungen, Charaktere, Lebensprinzipien. Sie stellen Bezüge
zum eigenen Alltag her – und dies auf eine geistreich-witzige, nicht
vordergründig-oberlehrerhafte Art.
Auffallend waren die klaren Stellungnahmen,
die die befragten Kinder zum Sendungsformat hatten – je älter,
desto deutlicher war ihre Meinung ausgeprägt. Sie lobten die
Mischung aus Unterhaltung und Wissensvermittlung und fühlten
sich von der Sendung als eigenständige Persönlichkeiten
anerkannt. Und die Sesamstraße war schon deshalb eine
Sendung für sie, weil sie Ernie und Bert, Pepe und Momi allein,
ohne elterliche Beteiligung sehen durften. "Dann redet Mama nicht
immer dazwischen", so drückt es die sechsjährige Stefanie
aus, "Samson ist eben mein Freund, und Mami hat die Lindenstraße.
Die Untersuchung gliederte sich in zwei Abschnitte:
- Zunächst sahen die Kinder
jeweils zwei Folgen der Sesamstraße (2046 und 2055).
Dabei wurden die Kinder mittels Videokamera beobachtet. Damit
sollten die sprachlichen wie nichtsprachlichen Reaktionen der
Kinder und unmittelbare Effekte auf sendungsbezogene Teile eingefangen
werden.
- Im Anschluss fanden Gruppen- und
Einzelinterviews statt, in denen die Kinder Gelegenheit hatten,
ihre Meinung zur Sendung zu äußern. Die Befragung wurde
als offenes, leitfadengestütztes Interview durchgeführt
(vgl. Anm.).
Verhaltensbeobachtung während
der Rezeption
Die Kinder waren von den beiden Folgen fasziniert,
wobei Phasen der Konzentration mit Phasen, in denen sie sich abwandten,
abwechselten. Dies entspricht völlig kindlichen Wahrnehmungsbesonderheiten.
Für die untersuchte Altersgruppe ist es unmöglich, einer
Sendung über fast 30 Minuten aufmerksam zu folgen. Dies würde
sie kognitiv und emotional überfordern. Es fällt allerdings
auf: Erscheinen die Muppets, dann geht die Blickrichtung zum Fernseher,
Nebenaktivitäten, die nichts mit der Sendung zu tun haben,
hören auf. Die Kinder schauen gebannt den Protagonisten zu.
Für viele Kinder dienen die kurzen Einspielfilme dazu, abzuschalten,
sich neu zu besinnen, um sich dann wieder auf die Muppets und deren
Storys einzulassen.
Kritisch wird der Realfilm über die
türkischen Kinder aus der Serie Mischa in der Türkei
in beiden Folgen bewertet. Schon nach kurzer Zeit lässt die
kindliche Aufmerksamkeit nach, die Kinder wenden sich ab, nehmen
Kontakt zu neben ihnen sitzenden Kindern auf, lassen sich nicht
auf diese Teile ein. "Das ist langweilig", erklärt der sechsjährige
Jonas stellvertretend für andere Kinder. Ohne jetzt in eine
genaue Produktanalyse einzutreten: Die Storys über die türkischen
Kinder, deren Absichten zweifellos wichtig sind und die in den Lernzielkatalog
des Sesamstraßen-Konzepts passen, unterscheiden sich
von der Qualität und der ästhetischen Umsetzung der Muppet-Geschichten
grundlegend. Viele Storys der Einspielfilme haben keinen Spannungsbogen,
die ästhetische Umsetzung ist wenig ansprechend, der Sprecher
kindertümelnd. Die Konsequenz: Kinder fühlen sich nicht
ernst genommen, sie wenden sich ab.
Zweifellos stehen die Puppen im Mittelpunkt
des kindlichen Interesses. Dabei führen – wie schon erwähnt
- Ernie und Bert, Krümelmonster, Tiffy und Finchen, aber auch
der neu eingeführte Pepe die Beliebtheitsskala der Kinder an.
Kognition
und Emotion
gehören zusammen
Lernen und Unterhaltung gehen für Kinder
ein unauflösbares Gemenge ein. Eine nur auf das Kognitive gerichtete
Wissensvermittlung empfinden Kinder als langweilig, einseitig und
belehrend. Kognition und Emotion gehören zusammen. Emotionalität
finden die Kinder in den Charakteren und Temperamenten der Muppets
wieder, aber auch in den Songs und in der Musik der Folgen. Sie
binden die Aufmerksamkeit der Kinder, schlagen sie in den Bann,
ohne sie gefühlsmäßig zu überfordern. Die Kinder
singen mit, bewegen sich im Takt der Musik, lassen sich gestisch
und mimisch animieren.
Sendungsbezogene Aufmerksamkeit der Kinder
bedeutet nun nicht, dass Nebenaktivitäten ausgeschlossen sind.
Zwei unterschiedliche Formen kann man beobachten: Zum einen jene,
um sich abzulenken, zu entspannen, abzuschalten. Den Kindern sind
die Sendungsinhalte egal, kommen allerdings "ihre Lieblinge", wenden
sie sich wieder dem Programm zu. Da die Kinder mit dem Sendungsformat
vertraut sind, sie also wissen, wie die Folgen aufgebaut sind, können
sie "abschalten", ohne Gefahr zu laufen, etwas für sie Wichtiges
zu verpassen. Zum anderen finden sendungsbezogene Unterhaltungen
statt: Da unterhalten sich zwei Kinder über Pepe, wie der wohl
seinen Zauberspruch wiederfindet, andere Kinder erklären mit
großer Selbstverständlichkeit, wie das Licht im Kühlschrank
an- und ausgeht. Und dann gibt es noch die parasozialen Gespräche:
Sei es, dass man Pepe helfen will, den vergessenen Zauberspruch
zu finden, oder dass man die Dichterin aus einem Einspielfilm als
"blöd" oder "doof" empfindet.
Kinder mögen es deshalb, wenn sie von
den Muppets direkt begrüßt werden. "Das ist, als ob Samson
mit mir redet", kommentiert die sechsjährige Vanessa. Durch
diese Ansprache fühlen sich die Kinder angenommen, es wird
eine quasi persönliche Beziehung zu ihnen hergestellt, die
für die weitere Wissensvermittlung, die Umsetzung der intendierten
Lernziele wichtig ist. Denn, je sympathischer der Protagonist, je
kompetenter seine Erklärungen, je mehr er Kinder dort abholt,
wo sie sind – und dies ist räumlich und intellektuell gemeint
–, desto mehr sind Kinder bereit, sich auf ihn und seine Fähigkeiten
einzulassen. Dies haben die Verhaltensbeobachtungen deutlich gemacht.
Auswertung der Interviews
- Pepe hat sich sofort in die Herzen
der Kinder gespielt, ohne sich auf vordergründige Weise als
einer von ihnen anzubiedern. Kinder finden ihn lustig, witzig,
komisch. Kinder fühlen sich von ihm angesprochen. Er ist
einer wie sie – mit allen Stärken, mit allen Schwächen.
Er probiert vieles aus, ist manchmal traurig, dann wieder fröhlich.
Er fällt auf die Nase und weiß doch, wie man aus verzwickten
Situationen herauskommt. Irgendwie weiß er immer Rat – und
er hat etwas Geheimnisvolles an sich. Von daher ist es fast selbstverständlich,
wenn die Kinder durch Pepe angeregt werden, eigene (Zauber-) Geschichten
zu erfinden. Und so konnte man beobachten, dass Kinder in den
Interviews von eigenen Zaubereien, deren Gelingen und Misslingen
erzählten.
- Anders verhielt es sich mit der
Kühlschrankgeschichte. Auch hier fühlten sich
Kinder angesprochen, empfanden sich allerdings kompetenter als
die Protagonisten der Sendung. Auch dies erzeugte eine bestimmte
Sehhaltung: Die Kinder kommentierten die Aktionen der Muppets,
erzählten sich davon, was sie alles wüssten und kamen
sich insgesamt klüger vor. Während die Spannung in der
Pepe-Folge daraus erwuchs, wie er aus seinem "Schlamassel" heraus
kam, enthielt die Kühlschrankgeschichte eine ganz
andere Spannung: Die zuschauenden Kinder wussten um die technischen
Vorgänge, konnten zusehen, wie die Muppets in ihrem Wissen
endlich mit ihnen gleichzogen.
Kinder mögen die Mischung aus Wissens-
und Informationsvermittlung und Unterhaltung. Allerdings stellen
sie hohe Ansprüche an solche Formate. "Wenn es nicht lustig
ist, da mag ich nicht hinschauen", sagt die fünfjährige
Sandra. Und wie ein Fachmann kommentiert der sechsjährige Tim:
"Die Bilder müssen klasse sein. Ich muss das eben auch sehen,
was da erklärt wird, sonst verstehe ich das nicht!" Sein gleichaltriger
Freund Rafael ergänzt: "Wenn der nur erzählt, dann ist’s
auch nicht gut. Ein bisschen Musik, wo ich mitsingen kann, das ist
toll. Oder wenn sie das Alphabet mit einem Lied erklären, dann
behalt’ ich das viel schneller." Er könne sich das einfacher
merken, meint der sechsjährige Carlo, wenn er das, was er gesehen
habe, nachher nachmachen könne.
Damit haben die Kinder zwei wichtige Punkte
angesprochen, wenn es um die Umsetzung von Lernzielen, die Wissens-
und Informationsvermittlung geht: Die unterhaltend-emotionalisierenden
Gestaltungselemente sind ebenso zentral wie Alltagsbezüge ("Was
habe ich damit zu tun?"), doch kommt die Umsetzung dieser Gesichtspunkte
einer Gratwanderung gleich: So wichtig die dramaturgischen Elemente
(Musik, Songs, Kameraführung) auch sind, ein Zuviel an Spannung
würde ablenken, die angesprochene Zielgruppe verunsichern.
Ein überzogener Alltagsbezug könnte als bloße Belehrung
missverstanden werden.
Das Konzept, das auf der magisch-fantastischen
Wirklichkeitsauffassung der Kinder aufbaut – die Reaktionen und
Aussagen der befragten Kinder beweisen es – hat diese Gratwanderung
kompetent vollzogen.
5. Zusammenfassung
Kinder müssen – je nach Alter und Entwicklungsstand
– erproben, wie sie das Fernsehen gebrauchen können. Und deshalb
sind Eltern und Pädagogen, Produzenten und Programmverantwortliche,
Redakteure und Autoren gleichermaßen gefragt. Zweifelsohne
hat die Dramaturgie einer Sendung Einfluss darauf, ob Kinder überfordert
werden oder ob sie die Chance einer gefühlsmäßigen
Distanzierung erhalten. Es gibt Sendungen, die eine kindgerechte
Dramaturgie versuchen, aber kindgerecht ist nicht immer das, was
Erwachsene dafür halten. Heranwachsende verstehen unter kindgerecht
anderes: nicht belehrende Besserwisserei, langweilige Einstellungen,
betuliche Bilder und ein onkelhafter Ton. Vorschulsendungen wie
Die Sendung mit der Maus oder Sesamstraße bieten
Unterhaltung und Vergnügen, nehmen aber zugleich kindliche
Gefühle ernst. Solche Sendungen sind nicht auf den großen
Spannungsbogen ausgerichtet. Sie bestehen aus mehreren kleinen Spannungsbögen,
zwischen denen sich Kinder ausruhen können. Nur ein Kind, das
während des Sehens Aktivitäten zeigen darf, wird in der
Lage sein, mit den gefühlsmäßigen Herausforderungen
von Fernsehsendungen produktiv umzugehen. Kinder haben ihre Qualitätsansprüche
an Sendungen, die man mit Überschaubarkeit und Erleben umschreiben
kann. Kinder wollen von ihren Lieblingssendungen gefühlsmäßig
mitgerissen werden. Doch um das auszuhalten, brauchen sie Verlässlichkeit
und Sicherheit, die ihnen ein vertrauter dramaturgischer Rahmen
bietet. "Was Kinder am nötigsten brauchen," so Bruno Bettelheim
in seinem Essay über "Kinder und Fernsehen" ist, "aus ihren
Erfahrungen zu lernen und durch sie zu wachsen. Am meisten nützen
den Kindern Sendungen, die zeigen, wie sich Menschen durch Erfahrungen
wandeln – in ihrer Persönlichkeit, in ihrer Sicht des Lebens,
in den Beziehungen zu anderen und in der Fähigkeit, mit zukünftigen
Ereignissen zurechtzukommen." Die Rahmengeschichten der Sesamstraße
zeigen dies auf eine eindrucksvolle Weise.
ANMERKUNG |
In fünf Kindergärten
führten Studenten und Studentinnen der Universität Hamburg
unter der Leitung der Dozentin Eva Schäfer die Video-Beobachtung
und die Interviews durch. In zehn Kindergärten fand die Beobachtung
und Befragung von Erzieherinnen unter Anleitung von Jan-Uwe Rogge
statt. Eva Schäfer hat auch die Kurzauswertung der von ihr
durchgeführten Beobachtung und Interviews verfasst.
LITERATUR |
Bettelheim, Bruno: Themen
meines Lebens. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1990.
Fisch, Shalom M.; Truglio,
Rosemarie T.: G is for growing. Thirty years of research on children
in Sesame Street. London: Erlbaum 2001.
Lüthi, Max: Märchen.
Stuttgart: Metzler 1990.
Mediaperspektiven, -/2000/12.
Neuß, Norbert (Hrsg.):
Fantasiegefährten. Weinheim u.a.: Beltz 2001.
Rogge, Jan-Uwe: Geschichten
gegen Ängste. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2002.
Sesamstraße: Summary
of research findings in Germany. Prepared for workshop. July 2000.
Theunert, Helga; Eggert,
Suanne: Was wollen Kinder wissen? Angebot und Nachfrage auf dem
Markt der Informationsprogramme. In: Schächter, Markus (Hrsg.):
Reiche Kindheit aus zweiter Hand? Medienkinder zwischen Fernsehen
und Internet. (Medienpädagogische Tagung des ZDF, Mainz 19.-20.9.2000
). München: KoPäd 2001. S. 47 - 62.
Zulliger, Hans: Heilende
Kräfte im kindlichen Spiel. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch
1990.
DER
AUTOR |
Jan-Uwe Rogge, Dr. rer. soz., Familien-
und Kommunikationsberater in eigener Praxis, lebt in Bargteheide
bei Hamburg.
INFORMATIONEN |
Internationales
Zentralinstitut
für das Jugend-
und Bildungsfernsehen
IZI
Tel.: 089 - 59 00 29 91
Fax.: 089 - 59 00 23 79
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