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Alte Zeiten mit Champagner: Putin im November 2016 im Kreml

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"Khaki statt Lurex": Wird Korruption für Putin zum Problem?

Eine Welle von Festnahmen schreckte Russlands Superreiche und Spitzenpolitiker auf. Der Kreml steht in Kriegszeiten unter Druck, der demonstrativen Bereicherung Grenzen zu setzen, behaupten Politologen: "Hass ist ein äußerst gefährliches Gefühl."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Natürlich ist das Ausmaß der Korruption schockierend", so der russische Politikwissenschaftler Ilja Graschtschenkow. Er glaubt, das ein Laib Brot 30 Prozent billiger sein könnte, wenn die organisierte Kriminalität nicht in allen Herstellungsphasen die Hand aufhalten würde. Lange Jahre sei Korruption in Russland nicht als skandalträchtiges "Problem", sondern als willkommener "Schmierstoff" betrachtet worden [externer Link].

Es habe die Devise gegolten: "Wenn Sie eine Tüte erbeutet haben, verhalten Sie sich vorsichtig und meiden Sie die Schusslinie." Die bisher bekannt gewordenen Fotos von "Palästen" korrupter Oligarchen seien nur ein "Kinderzeichentrickfilm" gegenüber der Realität.

"Das löst nur Hass aus"

Der Experte verglich die russische Gesellschaft mit den Zuständen im Britischen Weltreich, als einige wenige "Kolonialisten mit Tropenhelm" ganz Indien rücksichtlos ausgebeutet hätten. Die Folgen sei dermaßen fatal gewesen, dass solche Länder auch nach dem Abzug der Engländer durch und durch korrupt geblieben seien. Vor allem der öffentlich vorgeführte Reichtum einiger weniger zersetze Russland: "Das löst nur Hass aus. Aber Hass ist, wie wir bereits gesehen haben, ein äußerst gefährliches Gefühl."

Der Kreml sei durch das protzige Verhalten der korrupten Oberschicht massiv unter Druck geraten, so Graschtschenkow, für Putin sei es allerdings höchst riskant, einzuschreiten, da innerhalb der Elite jeder mit jedem verfeindet sei, und zwar nach dem unversöhnlichen Motto "Auge um Auge, Zahn um Zahn": "Ja, sie können das nicht zeigen, aber sie belauern sich immer gegenseitig und ihr Hauptziel ist es, ihre ärgsten Rivalen zu schwächen. Das ist ein interner Kampf, der immer der schrecklichste ist. Aber diese Eliten selbst befinden sich in einer Informationsblase und werden, abgesehen von dem Wunsch, irgendeinem Nachbarn einen Schlag zu versetzen, wahrscheinlich keine strategische Lösung für das Problem anbieten."

"Nagen Sie am Pelzmantel wie die Motten"

Der Politologe schlug allen Ernstes vor, den Kampf gegen Korruption aufzugeben und sie stattdessen zu "institutionalisieren". In diesem Fall könne Russland womöglich von 30 Prozent "Bestechungsfaktor" auf fünf Prozent kommen, dem angeblichen europäischen Durchschnitt.

Mit solchen Äußerungen steht Graschtschenkow keineswegs allein da. Auch der prominente, in London lehrende Exil-Politologe Wladimir Pastuchow schrieb, die jüngste Verhaftungswelle betreffe weniger die Korruption als solche, sondern Leute, die nicht begriffen hätten, dass die Zeit des demonstrativen Reichtums vorbei sei, etwa den in U-Haft sitzenden Ex-Vize-Verteidigungsminister Timur Iwanow [externer Link]: "Er trug trotzig weiterhin Lurex, als die gesamte Elite begann, sich eifrig in Khaki zu kleiden. Wenn Sie was beiseite geschafft haben, verstecken Sie es, sitzen Sie ruhig da und benagen Sie den Pelzmantel im Schrank wie die Motten. Wenn Sie ihn trotzdem anziehen und anfangen, darin in der Öffentlichkeit herumzulaufen, dann wird er Ihnen öffentlich und für alle sichtbar vom Leib gerissen."

"Wachsende Bedrohung für Putin"

Putins Vorstellung von "Politik" sei ganz einfach, argumentiert Pastuchow: "'Ich werde überleben, wenn ich diesen Krieg gewinne.' Um den Krieg zu gewinnen, braucht er zunächst einmal nicht so sehr Waffen und Drohnen, sondern das Vertrauen der Bevölkerung und ihre Bereitschaft, für ihn zu sterben. Und in diesem Sinne ist es gerade das trotzige Konsumverhalten von Elitevertretern wie Iwanow, das heute eine wachsende Bedrohung für die Behörden und Putin persönlich darstellt."

Die Gängelung der berüchtigten "fetten Katzen" werde daher tendenziell zunehmen, als Signal an alle, die vom System profitierten. So gesehen sei Putin ins Fadenkreuz der rechtsnationalen "Ultrapatrioten" geraten, die seit Jahren auf die "Elite" schimpfen und Konsequenzen fordern. Offenbar kümmerten sich die Geheimdienste in erster Linie um die korrupten Kreise im Ausland, der Kreml knöpfe sich jetzt die "Daheimgebliebenen" vor.

"Clique unter Druck"

Im Wirtschaftsblatt "Wallstreet Journal" (WSJ) fasste ein US-Experte die russischen Verhältnisse in dem Satz zusammen: "Gewöhnlich wird Ihnen gestattet, korrupt zu sein, aber Sie werden niemals erfahren, unter welchen Umständen Sie dafür haftbar gemacht werden." Putin sei gerade dabei, die Machtverhältnisse neu auszubalancieren: Er kümmere sich normalerweise nicht um Korruption, doch sobald sie bei Untergebenen öffentlich sichtbar werde, gebe es sogar für ihn Grenzen.

"Es ist unvermeidlich, dass in einer Clique, in der die Macht weitgehend durch Pfründe verteilt wird, Leute manchmal den Zorn der Falschen auf sich ziehen", so General Jim Hockenhull, der vom WSJ befragte Chef des Strategischen Kommandos der britischen Armee: "Während sich der Krieg hinzieht, gerät diese Clique, die nach Macht und Geld strebt, zunehmend unter Druck. Und manchmal wird jemand ausgewählt, der 'die Schuld für das, was passiert, auf sich nimmt'."

"Korruption hat Leistungsfähigkeit erhöht"

Solche und weitere Äußerungen lösten eine lebhafte Debatte aus. Einer der russischen Polit-Blogger wollte sich der Erwartung nicht anschließen, dass Putin ernsthaft gegen allzu augenfällige Korruption durchgreifen werde und argumentierte überraschend: "Korruption hat in der Vergangenheit die Leistungsfähigkeit des Staates erhöht, selbst wenn der Staat selbst alles getan hat, um das zu unterbinden. Beispielsweise führte die Korruption der Sowjetzeit (Schwarzmarkt, informeller Produktaustausch zwischen Unternehmen in verschiedenen Wirtschaftszweigen, d. h. Tauschhandel usw.) tatsächlich Elemente der Marktwirtschaft in die UdSSR ein und verringerte die Schwere der Widersprüche in der Gesellschaft und stärkte dadurch die Stabilität des Landes."

Offenbar sei das heutzutage ähnlich: "Deshalb wird es in unserem Land, zumindest im gegenwärtigen Stadium seiner Entwicklung, höchstwahrscheinlich keinen systematischen Kampf gegen Korruption geben." Ein Kampf gegen "Windmühlen" sei jedenfalls nicht im Sinne der in sich verfeindeten Elite. Manch einer spricht schon von deutlichen Anzeichen für einen "Krieg der Türme", wie die unterschiedlichen Lager im Kreml bezeichnet werden, von einem regelrechten "Machtkampf", der in diesem Fall ein "Umverteilungskampf" wäre.

"Normalen Menschen nichts mehr zu nehmen"

"Viele erwarteten nach Putins Wiederwahl härtere Repressionen gegen die Russen, doch bisher leiden Beamte, Sicherheitskräfte und Geschäftsleute stärker", so ein Blogger mit Blick auf Recherchen eines russischen Exil-Portals [externer Link]: "Schon jetzt gibt es den normalen Menschen fast nichts mehr zu nehmen. Journalisten errechneten, dass zwischen dem 18. März und dem 26. April 21 Strafverfahren gegen Beamte, Sicherheitskräfte sowie Leiter öffentlicher und privater Organisationen bekannt wurden. Die Hälfte davon steht im Zusammenhang mit Bestechungsgeldern."

"Schoigu verfügt über spirituellen Reichtum"

Es gebe das weit verbreitete "Gefühl", dass die Anti-Korruptions-Säuberungen höchst "selektiv" seien, nur diejenigen treffe, die "völlig vom rechten Weg abgekommen" seien oder schlicht "nicht mehr benötigt" würden, so ein Beobachter: "Der Rest der potenziellen Verhaftungskandidaten ist natürlich ernsthaft alarmiert, genießt aber vorerst weiterhin ein angenehmes Leben. Die Behörden sehen in dieser Situation nicht besser aus als ein hartnäckiger Rückfälliger, wenn sie der Gesellschaft die Botschaft vermitteln: 'Geben Sie uns noch eine Chance, dann werden wir definitiv alles in Ordnung bringen, alle besiegen und uns reinigen.'"

An ironischen Kommentaren zur Korruptions-Debatte fehlt es nicht: "Darf [Verteidigungsminister] Schoigu ärmer sein als sein Stellvertreter [Iwanow]? Er kann ein harter Asket sein: Er schläft auf Filz, in einer Jurte. Möglicherweise verfügt er über spirituellen Reichtum; er hat sogar ein Buch mit Essays und Kurzgeschichten geschrieben."

"Drohnen wurden zum Hauptfaktor"

Spötter verwiesen darauf, dass die russischen Oligarchen derzeit ihre Einnahmequellen nicht mehr ganz eigenständig steuern können: "Es stellt sich heraus, dass die Ukraine und ihre Drohnen möglicherweise der Hauptfaktor sind, der den russischen Markt für Ölprodukte beeinflusst . Wer hätte vor ein paar Jahren gedacht, dass nicht in Moskau, sondern in Kiew darüber entschieden wird, welche Treibstoffmenge die russische Industrie produzieren und zu welchem ​​Preis sie ihre Produkte verkaufen würde."

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