Der russische Präsident auf einem Bildschirm
Bildrechte: Maxim Grigorjew/Picture Alliance

Putin beim Auftritt in Wladiwostok

Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

Putin über Kulturschaffende: "Niemand hält sie von Kritik ab"

Nur rund 170 russische Künstler und Intellektuelle hätten das Land verlassen, so der russische Präsident: "Es ist besser, sie im Ausland arbeiten zu lassen, als dass sie die Köpfe hierzulande verwirren und nicht-traditionelle Werte fördern."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Die einen vermuteten bei Putin "Wahnvorstellungen", andere verwiesen auf "gastfreundliche Arbeitslager", die für Regimegegner bereitstünden. Mit seinen Bemerkungen über Emigranten löste der russische Präsident eine Welle ironischer Kommentare aus. "Niemand hält sie davon ab, Kritik zu üben, während sie hier sind, aber sie haben sich entschieden zu gehen. Gott sei mit ihnen, das ist ihre Entscheidung", hatte Putin behauptet und den angeblich "160 bis 170" Emigranten gleichzeitig keine Träne nachgeweint: "Hat die russische Kultur darunter gelitten? Wenn eine begabte Person gegangen wäre, die hier etwas hätte ausrichten können, hätten wir wahrscheinlich etwas verloren. Andererseits sage ich ehrlich, dass es für manchen vielleicht besser ist, im Ausland tätig zu sein, dessen Interessen er dienen möchte, als die Gehirne von Millionen unserer Bürger hierzulande durcheinander zu bringen und nicht-traditionelle Werte zu verbreiten."

"Stört uns nicht besonders"

Der Präsident unterstellte den Emigranten, Russland wegen "materieller Dinge" verlassen zu haben: "Schließlich haben sie sich in den letzten Jahren Häuser und Wohnungen im Ausland gekauft und dort Konten eröffnet. Die Menschen wollen das alles behalten, sie haben Angst, es zu verlieren." Von den Emigranten werde verlangt, Russland zu kritisieren und zu denunzieren, also gehorchten sie. Über den russischen Oligarchen und Informatiker Arkadi Jurjewitsch Wolosch (Suchmaschine Yandex), der nach Israel ausgereist war und sich als Kriegsgegner geoutet hatte, sagte Putin: "Er saß lange Zeit schweigend da und beschloss dann, eine Erklärung abzugeben. Nun, Gott segne ihn, möge er dort [in Israel] ein gutes Leben haben. Ehrlich gesagt stört uns das nicht besonders." Allerdings sollten Menschen, die in Russland ausgebildet worden seien, ihrer Nation gegenüber ein "Gewissen" haben.

Putin: "Viele feine Unterschiede"

Was das berüchtigte Gesetz über "ausländische Agenten" betrifft, signalisierte Putin die Bereitschaft zur Überarbeitung. Jede Woche setzt das russische Justizministerium weitere Dissidenten auf die "schwarze Liste" angeblich vom Ausland gesteuerter Russen, zuletzt war Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow auf diese Weise abgestraft worden, was viel Aufsehen verursacht hatte. Insgesamt sollen schon rund 400 Personen erfasst sein. Jetzt sagte Putin: "Es gibt viele feine Unterschiede, worauf mich Menschenrechtsaktivisten hingewiesen haben, die damit zusammenhängen, dass das Gesetz auch Leute erfasst, die sich gar nicht wirklich im öffentlichen Leben engagieren, sondern sich mit Umweltfragen und solchen Dingen beschäftigen. Wir werden daher Anpassungen vornehmen. Und ich bitte Strafverfolgungsorgane, Staatsanwälte und Ermittlungsbehörden stets um Vorschläge, wie dieses Verfahren verbessert werden kann."

Laut Putin ist es möglich, das Stigma des "ausländischen Agenten" wieder loszuwerden, dafür gebe es bereits "Präzedenzfälle". Russland habe ein "liberaleres" Strafrecht gegenüber "ausländischen Agenten" als die USA, behauptete Putin. Dagegen hatte Nobelpreisträger Muratow darauf verwiesen, dass eine gerichtliche Überprüfung der Entscheidung laut Gesetz nicht vorgesehen sei.

"Putin streute statistische Wollmäuse"

Polit-Blogger Wladimir Pastuchow scherzte, er habe während Putins neuestem Auftritt das Rätsel um dessen "Doppelgänger" gelöst: Den gebe es wirklich, aber nicht neben Putin, sondern in Putin, wie bei "Dr. Jekyll und Mr. Hyde". Zwei Herzen schlügen offenbar im russischen Präsidenten: "Breschnew und Stalin leben in ihm nebeneinander und scheinen gut miteinander auszukommen. Der Breschnew in Putin spricht enthusiastisch von 'massiven Aufbauplänen', streut statistische Wollmäuse und vergisst nicht, ein Fitnessstudio in Woltschegonsk zu erwähnen. Der Stalin in Putin wünscht Arkadi Wolosch gute Gesundheit in Israel und fragt sich, was mit dem Loch im Haushalt des [ebenfalls emigrierten Ex-Politikers] Anatolij Tschubais los ist. Das erste Selbstverständnis ist so harmlos, dass völlig unklar ist, warum das zweite Kim Jong-un um Granaten anbettelt."

"Ich jedenfalls werde nicht gehen"

Blogger-Kollege Sergej Starowoitow sprach von "schlechten Nachrichten" für die Russen, die emigriert seien. Sie würden von Putin anscheinend zwar nicht als "gefährlich", aber als "lästig" eingeschätzt. Das sei auch für all diejenigen eine Warnung, die im Land selbst an den Verhältnissen irre würden. Die innere Emigration werde somit eingefroren, was vermutlich auch für die Netz-Debatten gelte. Blogger-Kollege Stanislaw Byschok kam auf die von Putin geschmähten "nicht-traditionellen" Werte zu sprechen: "Vernunft, Trennung von Kirche und Staat, Respekt vor dem Einzelnen, Meinungsfreiheit – das sind die nicht-traditionellsten Werte überhaupt. Tatsächlich ist auf ihnen ein moderner Staat aufgebaut. Und es besteht [bei Putin] die Tendenz, diese kleine Nuance zu übersehen."

Russische Leser fragten sich, an wen sich Putin mit seinen Bemerkungen eigentlich noch wendet. Ein Diskutant formulierte die Worte des Präsidenten geringfügig um: "Er hätte besser sagen sollen: An alle Emigranten, sie müssen mit der Politik der Behörden nicht einverstanden sein und können trotzdem bleiben. Ich jedenfalls werde nicht gehen." Ein weiterer Kommentator meinte, es sei richtig, das in Russland niemand mit Putin einer Meinung sein müsse - im Gefängnis sitzend. Das sei tatsächlich "nicht verboten": "Sie werden einfach Ihres Arbeitsplatzes und Ihrer Lebensgrundlage beraubt und die regierungsnahen Medien werden Sie verspotten. Es gibt unzählige Beispiele dafür." Die Aussichten für innerrussische Kritiker seien "kurz gesagt erstaunlich", hieß es: "Arbeitlos zu sein, gemobbt zu werden und möglicherweise ins Gefängnis zu gehen".

"Jeder sollte eine Chance haben"

Andere fragten sich entgeistert, ob Putin seine Worte ernst gemeint habe, angesichts vieler abgesagter Konzertauftritte von Kriegsgegnern: "So ein Heuchler!" Putin habe den "Mäusen ein Gefühl von Freiheit" vermittelt, spottete jemand auf dem Portal der St. Petersburger Zeitung "Fontanka". Andere sprachen von "bemerkenswertem Trolling" und einem ganz "eigenartigen Humor". Der kremlnahe Politologie Sergej Markow schrieb dagegen über die Emigranten: "Man kann die jungen Leute irgendwie verstehen, die Angst vor der Mobilisierung hatten. Aber diese reichen, berühmten Menschen im höheren Alter, die Russland, das ihnen alles gegeben hat, verlassen haben und lieber in einem fremden Land leiden, lösen bei mir eine Mischung aus Verurteilung, Widerwillen, Mitgefühl und Spott aus."

Unterdessen verlangte der rechtsextreme Autor und Propagandist Sachar Prilepin, russischen Kriegsgegnern müsse "vergeben" werden, falls sie ausreichend reumütig seien: "Wir sind Russen. Wenn jemand nicht völlig den Dämonen verfallen ist, sollte jeder eine Chance haben. Christus hat uns das gelehrt." Auch der Zar habe einst Aufrührern vergeben, sogar gefährlichen Elementen. Allerdings sei es unmöglich, "Fanatiker" umzuerziehen, die es mit Amerika hielten: "Sie sprechen zwar Russisch, sind aber in Wirklichkeit Amerikaner. Daran lässt sich nichts mehr ändern."

"So einfach ist das - wählen Sie"

Kriegsblogger Boris Rozhin erläuterte, welche Art "Buße" er von Rückkehrern erwartet, nämlich "öffentliche und aktive" Demut. Die messe sich seiner Meinung nach an "Reisen an die Front" und die "Bereitstellung materieller Hilfe aus persönlichen Mitteln für die Armee, die Verwundeten, die Behinderten und die Bewohner neuer Regionen Russlands", also Geldspenden für Soldaten und Kriegsopfer: "Das macht die Rückkehr nach Russland unumkehrbar. So einfach ist das – wählen Sie, mein Freund, Sie sind entweder auf unserer oder ihrer Seite. Man kann nicht auf zwei Stühlen sitzen." Die Wiederaufnahme in Russland müsse ein "Privileg" bleiben. Rozhin will von Rückkehrern "Worte und Taten" sehen, Aussagen nach dem Motto "Ich hatte Angst" oder "Mir ist jetzt erst alles bewusst geworden" reichten nicht aus.

Aufregung um ausgereisten Rapper

Kremlkritiker verwiesen darauf, dass zeitgleich zur Putin-Rede der in Russland beliebte Rapper, Videoblogger und Influencer Danilo Milochin, der erst vor wenigen Tagen in sein Heimatland zurückgekehrt war, überstürzt nach Dubai ausreiste. Damit habe er Putins Rede dem Gespött preisgegeben. Gerüchteweise hieß es, dass Milochin eigentlich der "Rückkehrer"-Kampagne des Kremls ein propagandistisches "Gesicht" geben sollte, gleichzeitig hätten Kriegsfanatiker allerdings seine baldige Einberufung betrieben. Insofern sei einmal mehr die innere Zerrissenheit des Apparats deutlich geworden.

Der eine oder andere gab sich bass erstaunt über Putins groteske Bestandsaufnahme und seufzte: "Wow! Gibt es wirklich 'welche, die mit der Politik des russischen Staates nicht einverstanden sind'?" Und damit nicht genug der wunderlichen Zitate. Als Putin gefragt wurde, wer für die Benzinknappheit in Russland verantwortlich sei, antwortete er: "Die Regierung hätte rechtzeitig reagieren müssen." 2009, als er noch Ministerpräsident gewesen sei, sei an den Tankstellen jedenfalls noch alles in Ordnung gewesen. Eine Realitätsverweigerung, die für viel Verblüffung sorgte.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!