Beim Besuch in einer Munitionsfabrik in Nischni Nowgorod
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Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu mit einer Rüstungsarbeiterin

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"Schwäche ist relativ": Setzt Putin jetzt auf Verhandlungen?

Selbst russische Propagandisten halten einen Sieg im Angriffskrieg gegen die Ukraine inzwischen für wenig wahrscheinlich: "Offenbar laufen irgendwo bereits Verhandlungen." Unterdessen darf der Konflikt in Russland ungestraft "Krieg" genannt werden.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Zum jetzigen Zeitpunkt kann dieser Krieg nicht mit Raketen gewonnen werden, weil es sich um einen Bürgerkrieg innerhalb eines gespaltenen Volkes handelt", so der bekannte russische Kriegsblogger Roman Alechin (115.000 Fans). Seine Warnung: Je mehr Putin die Ukraine bombardieren lässt, desto feindseliger werde die dortige Bevölkerung. Es bestehe die Gefahr, dass mit Bomben nur weitere "Märtyrer und Nationalhelden" produziert würden. Was Drohnen betreffe, sei Russland "extrem hinter dem Feind zurückgefallen", und zwar wegen seiner "Unfähigkeit, flexibel und schnell" zu handeln.

Ähnlich düster wird die Lage von weiteren wichtigen Bloggern beurteilt. Russland trete ständig auf dieselbe Harke, in dem es "teure Raketen für zivile Ziele" verschwende. Der Beschuss der ukrainischen Infrastruktur, vor allem von Kraftwerken, werde den grenznahen russischen Gebieten "nicht helfen".

Außerdem habe der Kreml ein Problem der "Logik" argumentiert ein russischer Blogger, denn offiziell heiße es ja immer, Russland befinde sich nicht im Krieg mit dem ukrainischen Volk. Das vertrage sich eindeutig nicht mit Angriffen auf dortige Kraftwerke.

"Moskau hat Krieg gegen Paris nur einmal gewonnen"

Es empfehle sich für den Kreml dringend, "einmal durchzuatmen und nachzudenken", rät der Politologe Andrei Nikulin: "Die berüchtigten 'roten Linien' sind längst verwischt und niemand kann den Schritt vorhersagen, der kritisch werden könnte. Nun, für diejenigen, die in Hülle und Fülle auf der Bildfläche erschienen sind und sich gerne über das Thema 'Franzosen' lustig machen, sei daran erinnert, dass Moskau einen Krieg gegen Paris nur einmal gewonnen hat, als es Teil einer mächtigen, fast europaweiten antinapoleonischen Koalition war [1814]. Wer ist jetzt zu seiner Unterstützung bereit?"

Der in London lehrende Exil-Politologe Wladimir Pastuchow (150.000 Follower) schätzt Putins Chancen ebenfalls deutlich negativ ein: "Die russische Bodenarmee ist heute auf ein Niveau gesunken, das ausreicht, um einen Krieg mit der Ukraine zu führen, aber nicht ausreicht, um ihn zu gewinnen. Russland gleicht die Schwäche seiner Streitkräfte mit Atomwaffen aus. Natürlich ist diese Schwäche relativ."

"Ziel unserer Aktion wurde erreicht"

Eine Auseinandersetzung mit dem Westen könne Putin nicht gewinnen, nicht mal der Türkei sei Russland derzeit militärisch gewachsen, so Pastuchow, deshalb setze der Kreml auf "beispielloses Abenteurertum" und baue eine nukleare Drohkulisse auf: "Wenn der Bluff nicht funktioniert, hat Russland nur zwei Möglichkeiten: einen konventionellen Krieg zu verlieren oder ein kollektiver Selbstmordattentäter zu werden. Meiner Meinung nach ist die gesamte patriotische Z-Bewegung Russlands im Wesentlichen nichts anderes als der größte Selbstmordclub der Welt."

Für teilweise befremdete Reaktionen sorgte der russische Vertreter bei den Vereinten Nationen in New York, Wassili Nebensja. Er postete einen Ausschnitt aus seiner jüngsten Rede: "Angesichts der Tatsache, dass die Streitkräfte der Ukraine schon lange nicht mehr mit ihren eigenen Waffen kämpfen, können wir sagen, dass das Ziel unserer Aktion, die Ukraine selbst zu entmilitarisieren, erreicht wurde." Das ließ nicht nur den Exil-Politologen Anatoli Nesmijan rätseln: "Es ist nicht ganz klar: Bedeutet das Gesagte , dass die Veranstaltung an dieser Stelle abgebrochen werden kann, da ihr Ziel erreicht wurde?"

Kremlsprecher Dmitri Peskow irritierte seine Landsleute derweil mit einem Interview, in dem er den Konflikt erstmals als "Krieg" bezeichnete, eine Wortwahl, die bisher unter Strafe stand: "Ja, es begann als eine spezielle Militäroperation, aber sobald sich diese Gruppe dort gebildet hatte, als der kollektive Westen auf der Seite der Ukraine daran teilnahm, wurde sie für uns zu einem Krieg. Davon bin ich überzeugt. Und jeder sollte das für seine eigene innere Mobilmachung verstehen."

"Darf man Rosen auch Rosen nennen?"

Spötter fragten sich nach dieser Äußerung, ob alle, die zu Geldstrafen verurteilt wurden, weil sie von einem "Krieg" sprachen, jetzt entschädigt würden. Putin könne jetzt wohl kaum weiter behaupten, Russland habe "noch gar nicht richtig angefangen". Peskow sei anscheinend "vom Kino in die Politik" zurückgekehrt: "Darf man die Rosen jetzt auch Rosen nennen?"

"Die russischen Behörden wollten das Scheitern der Sonderoperation und ihren qualitativen Übergang auf ein höheres Niveau wirklich nicht zugeben", so ein Propagandist voller Ironie: "Doch nach zwei Jahren spricht Peskow dieses Wort seelenruhig gegenüber dem ganzen Land aus, als wäre es etwas Selbstverständliches. Andererseits schien die Evakuierung von Kindern aus [der russischen Regionalhauptstadt] Belgorod früher unmöglich. Und jetzt ist das die Norm."

"Verhandlungen über Verhandlungen"

Ungeachtet der martialisch klingenden Botschaft von Peskow gab sich einer der lautstärksten Kreml-Propagandisten, Sergej Markow, überraschend "friedfertig": "Offenbar laufen bereits irgendwo Verhandlungen. Es gibt noch keine Friedensgespräche. Aber es gibt bereits Verhandlungen über Friedensverhandlungen."

Ein Indiz dafür ist für Markow eine Meldung der "Financial Times", wonach die USA die Ukraine gebeten haben, vorerst keine weiteren Drohnenangriffe auf russische Raffinerien zu starten, weil das die internationalen Treibstoffmärkte negativ beeinflussen könne. Markow spekulierte, Putin könne im Gegenzug eine "geheime Vereinbarung" treffen, die kritische Infrastruktur der Ukraine nicht weiter zu zerstören: "So ein Abkommen wurde von den Vereinigten Staaten initiiert. Sie glauben, dass eine solche Vereinbarung notwendig ist. Der Grund dafür ist, dass die Vereinigten Staaten nicht glauben, dass Angriffe auf russische Raffinerien schwerwiegende [militärische] Auswirkungen haben können, und dass die Vereinigten Staaten und die EU viel Geld für die Energiestruktur der Ukraine zahlen müssen."

"Bestatter können mit Taschenlampe arbeiten"

Russische Beobachter erwarten für den Fall, dass weitere Raffinerie-Kapazitäten kriegsbedingt ausfallen, bereits im Sommer eine Benzinknappheit. Dann könne Putin gezwungen sei, Treibstoff zu importieren, was ein massiver Gesichtsverlust wäre. Die Mineralölpreise in Russland sind ohnehin bereits drastisch gestiegen.

"Am 24. Februar 2022 wurde die Frage der möglichen Entwicklung Russlands komplett von der Tagesordnung gestrichen", hieß es sarkastisch in einem russischen Kommentar: "Bomben statt Rohre, Särge statt Möbel, Friedhöfe statt Dörfer. Nun senkt sich das Heilige Feuer immer wieder auf eine weitere unserer Raffinerien herab, aber was kümmert uns das? Die Bahren verbrauchen keinen Treibstoff und die Bestatter können sogar mit einer Taschenlampe arbeiten." Wenn es so weitergehe und die Ukraine ihre "Schlagfähigkeit" erhöhe, drohe entweder die "zweite Welle der teilweisen Mobilisierung oder die erste Welle der vollständigen Mobilisierung".

"Wackelige Verhandlungsplattform"

Putin müsse befürchten, dass die russische Grenzregion um die Regionalhauptstadt Belgorod in den "Treibsand" des Krieges hineingezogen werde, so Blogger Ilja Ananjew. Die dortige Bevölkerung erwarte eindeutig "mehr Aufmerksamkeit" für ihren zuverlässigen Schutz. Auch dies stellt den Kreml vor ein Dilemma: Noch aggressiver vorzugehen, könnte zu weiteren Massenevakuierungen der eigenen Bevölkerung führen, worüber sich die "Ultrapatrioten" schon jetzt aufregen.

Erhebliche Aufmerksamkeit in ihren Kreisen bekam ein "Geheimbesuch" des US-Sicherheitsberaters Jake Sullivan in Kiew. Für Russland seien eventuelle territoriale Gewinne bei einem Waffenstillstand wenig tröstlich, hieß es aus dem Lager der treuesten Kremlfans: "Die Hauptsache ist die Erhaltung des russenfeindlichen Projekts 'Ukraine', das langfristig nicht nur zu einer Quelle der Spannungen an Russlands Westgrenze, sondern auch zu einem Sammelpunkt aller antirussischen Kräfte werden wird. Wenn wir dazu noch den wachsenden Hass auf Russland in der Ukraine selbst addieren, kann man das kaum als unseren Erfolg bezeichnen."

Die vorläufige Bilanz eines russischen Bloggers mit 144.000 Fans: "All das ist eine ziemlich wackelige Verhandlungsplattform. Es lässt sich vielmehr festhalten, dass die Voraussetzungen für Verhandlungen allmählich reifen, aber noch nicht reif sind. Es ist wahrscheinlich, dass sich der Westen zu diesem Zeitpunkt nochmals dazu entschließen wird, auf die ukrainische Armee zu setzen, mehrere Maßnahmen ergreifen wird und die Parteien erst danach die Aussichten für Verhandlungen prüfen werden."

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