David Grossman im Jahr 2022 - was er da um seinen Hals trägt, ist kein jüdischer Gebetsschal, sondern der Erasmus-Preis am Bande
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David Grossman im Jahr 2022 - was er da um seinen Hals trägt, ist kein jüdischer Gebetsschal, sondern der Erasmus-Preis am Bande

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"Einzige Option": So blickt David Grossman auf den Gaza-Krieg

Literatur nach dem Terror-Angriff der Hamas: "Die, die wir einmal waren, werden wir nie wieder sein", schreibt der israelische Schriftsteller David Grossman - und überlegt in seinem neuen Buch, was für ihn und die "grobe, düstere Welt" daraus folgt.

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"Schwarzer Schabbat" nennt David Grossman einen Text, der nach dem 7. Oktober 2023 entstanden ist, nach dem Terrorangriff der Hamas. Der Schriftsteller und Friedensaktivist spürt darin den Schockwellen des Bewusstseins nach und rechnet ab: Die israelische Regierung habe das Kostbarste aller Israelis verraten, weil sie die Heimat für Juden nicht gehütet habe. 80 Durchbrüche an der bestgesicherten Grenzanlage der Welt.

Wütend holt Grossman aus gegen die "Dramen" der Familie Netanjahu, gegen ihre Shows in der Öffentlichkeit, gegen die grassierende Korruption. Eine einzige Anklageschrift, doch plötzlich und unerwartet – auch der Text hat den Charakter eines Angriffs – der Umschlag: "Die Gräueltaten dieser Tage sind nicht Israel zuzuschreiben. Sie gehen auf das Konto der Hamas."

Sich mit der Existenz des anderen Volkes abfinden - geht das noch?

Ein Bruch, ein Riss, nach dem nichts mehr so sein kann wie zuvor. Grossman fragt: "Ist die winzige Chance auf einen wahren Dialog, auf ein irgendwie geartetes Abfinden mit der Existenz des jeweils anderen Volkes am 7. Oktober 2023 nun für einige Jahre auf Eis gelegt worden, oder ist diese Aussicht womöglich auf ewig eingefroren?"

Immer wieder hat David Grossman versucht, Israelis und Palästinenser zu entpolarisieren, sie aus den Zuschreibungen einer Feind- und Gegnerschaft zu lösen und Schluss zu machen mit dem Krieg in den Köpfen. Daran ändert selbst der 7. Oktober nichts, der "Schwarze Schabbat".

Sieben Reden und Essays versammelt der Band "Frieden ist die einzige Option" – der Titel ist die wichtigste These und Aufforderung, ein ebenso mutiger wie entschlossener Aufruf aller schmerzhaften Einsicht zum Trotz, dass der Hamas-Hass nicht mit Israels Vorgehen und Vergehen in den besetzten Gebieten seit 1967 zu relativieren oder zu rechtfertigen sei.

Eine Trauerrede für die Terroropfer

Einnehmend ist Grossmans Klarheit und analytische Schärfe. Seine Texte bringen die festgefahrenen und erstarrten Fronten zwischen Israelis und Palästinensern in Bewegung, seine Worte durchstoßen den Hass und die Ausweglosigkeit, die Abschottung voreinander wird wieder durchlässig, Möglichkeiten scheinen auf. Es zeigt sich darin Grossmans unumstößliches Vertrauen in die Menschen und die Möglichkeit des Lebens trotz allem Leid.

Der zugleich schönste und traurigste Text des 64 Seiten schmalen Bandes ist Grossmans Trauerrede für die Terroropfer Mitte November 2023 in Tel Aviv. "Die, die wir einmal waren, werden wir nie wieder sein", heißt es da. "Die Bilder der Gräuel, die Fratzen des Hasses, denen wir ausgesetzt waren – so etwas sieht ein Mensch nicht, ohne ein anderer zu werden. Als hätte sich inmitten der Realität ein Strudel aufgetan und uns eingesogen."

Grossmans Sohn starb im Libanon-Krieg

David Grossman hat einmal gesagt, Kunst sei der einzige Ort, an dem Leben und Verlust nebeneinander existieren können. Neben der Wehklage in seiner Trauerrede hebt der Schriftsteller, der selbst seinen Sohn 2006 im Libanon-Krieg verloren hat, denn auch den Todesmut derjenigen Helden hervor, die sich bei der Terror-Attacke schützend vor andere gestellt haben, oder den Mut derjenigen, die unterschiedslos auch ihren Gegnern Gutes tun.

Auf den Schwingen dieser Couragiertheit könnte, sagt David Grossman "ein ganz neuer Anfang gelingen". Etwas "Zartes, Präzises zu schaffen in einer groben, düsteren Welt" – das ist David Grossman nicht nur literarisches Credo.

David Grossman: "Frieden ist die einzige Option". Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer und Helene Seidler. Hanser Verlag, 10 Euro.

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