Chor des DNT Weimar und Sarah Mehnert im Einsatz
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High in Amerika: Drogensüchtige im Rausch mit Reporterin

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Aufwärts der Vene: Amerikas Drogenkrise als Oper in Weimar

Die Österreicher Thomas Köck und Johannes Maria Staud haben ein 100-minütiges, fulminantes "Roadmovie" über die amerikanische Opiat-Epidemie verfasst. Der Trip führt von der Eroberung Amerikas bis in die ferne Zukunft: Die Welt geht drei Mal unter.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Gebt mir eure Müden, eure Armen, Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren", heißt es auf einer Inschrift an der amerikanischen Freiheitsstaue und allen, die ihrem Ruf folgen, leuchtet sie bekanntlich mit der Fackel den Weg. Aber wäre es inzwischen nicht passender, wenn sie eine Packung Oxycodon gen Himmel halten würde, ein Opiat zur Beruhigung der Müden und Armen? Amerika steckt ja mittendrin in einer Betäubungsmittelkrise. Oder sollte die Freiheitsstatue gleich ein Bolzenschussgerät bereit halten, wie es am Deutschen Nationaltheater in Weimar zu sehen war: Amerika als riesengroßes Schlachthaus.

"Du willst Kontrolle über die Märkte"

Das österreichische Künstlerduo Thomas Köck, der den Text geschrieben hat, und Johannes Maria Staud, der die Musik komponierte, präsentierten mit ihrem neuen Werk "missing in cantu (eure Paläste sind leer)" ein wildes, 100-minütiges Roadmovie entlang der Prachtstraße der Zivilisation, und wo führt die hin? Na klar, nach Eldorado, in die goldene Stadt, und das schon seit mehr als 500 Jahren. Früher lag der sagenhafte Ort ja irgendwo flussabwärts am Amazonas, mittlerweile wohl eher venenaufwärts an der Opiumnadel. Und so erzählt Thomas Köck Episoden von der Eroberung Amerikas durch die spanischen Eldorado-Sucher über die Hexenprozesse bis hin zum Drogenmissbrauch unserer Tage.

Was das miteinander zu tun hat, liegt für ihn auf der Hand: Der Kapitalismus hinterlässt beim Amoklauf nach Eldorado die Welt als Trümmerhaufen, so Thomas Köck gegenüber dem BR: "Du willst als Kolonialmacht ja auch Kontrolle über die Märkte. Da gibt es dann einen Sprung zur aktuellen Opiatkrise in den USA. Viele überforderte Menschen, die wegen der kapitalistischen Erwerbsarbeit am Ende sind und nicht mehr können und mit Pharmaka und Opiaten gefüttert werden, damit sie irgendwie über die Runden kommen und dadurch noch weiter in Abhängigkeit geraten."

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Auf dem Weg nach Eldorado

Ein einziger, ziemlich turbulenter Abgesang auf die Ausbeutung, zu dem Bühnenbildner Raimund Bauer einen mit Blattgold überzogenen Palast entworfen hat, vor dem ein protziger Pickup-Wagen steht: Doch der ganze Bau, dieses Sinnbild von Eldorado, ist schon halb versunken, wartet nur noch auf die finale Katastrophe.

"Ausflug in die Popmusik vorgezeichnet"

Dazu scheut Komponist Johannes Maria Staud keine Anleihen beim Gospel und Big Band-Sound, hier wird das "Easy Listening" zum makabren psychedelischen Horrortrip: "Das ist natürlich toll für einen Komponisten. Man kennt das ja von der Popmusik aus den sechziger, siebziger Jahren. Da kann man aus dem Vollen schöpfen. Das Interessante an Drogen ist ja, dass sie abschreckend gezeichnet werden, wenn man in Philadelphia sieht, wo die Zombie-Droge zuschlägt, das ist keine 'sexy' Droge, das ist eine zerstörerische Droge. Aber die Sucht an sich, die Ekstase, die hat ja auch etwas sehr Verführerisches, und das wollte ich schon zeigen. Da ist der Ausflug in die Popmusik ganz klar vorgezeichnet."

In der Regie von Andrea Moses wurde das zu einem rasanten Abend, der natürlich optisch streckenweise an Werner Herzogs Meisterwerk "Aguirre, der Zorn Gottes" erinnerte - einen Film, den niemand vergessen wird, der ihn jemals gesehen hat. Dort machen sich spanische Edelleute und ein Trupp Indigene auf den Weg nach Eldorado, und einer wird darüber irre - alle anderen krepieren im Dschungel. Mit anderen Worten: Niemand hat die Chance, daraus zu lernen. Und so wird die Welt in dieser Oper auch gleich drei Mal in die Luft gesprengt, weil keiner bereit ist, den Traum vom ewigen irdischen Glück aufzugeben.

Assoziationen an "Götterdämmerung"

Tragik und Zynismus wechseln sich dabei ab: Die gewissenlose TV-Reporterin klappert die Vorstadtvillen ab, auf der Suche nach fernsehtauglichen Drogenopfern. Die ehemals reiche, jetzt verwahrloste Hausbesitzerin gibt kein Interview, sondern holt ihr automatisches Gewehr und sorgt für Angst und Schrecken. Scharfschützen bringen sie zur Strecke - nachdem sie einen beeindruckenden Schlussmonolog über die Suche nach Eldorado "die Vene aufwärts" gehalten hat, der Assoziationen an Brünnhildes Untergang in der "Götterdämmerung" aufkommen lässt.

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Endspiel: Astrid Meyerfeldt als drogensüchtige Villenbesitzerin

Das alles wird gewürzt mit Religionskritik und Feminismus. Andrea Moses spart nicht an satirischen Schockeffekten: Im Schlachthof kippen nicht die Rinder um, sondern die Menschen, weil sie nur noch mit Drogen Schlaf finden. Das amerikanische Ehepaar dämmert im Pickup mit einer Überdosis ins Jenseits hinüber, der kleine Sohn schaut traurig zu, wie die Särge vorbeigeschoben werden und wird von der Polizei in Obhut genommen. Dazu swingt die Trauergemeinde: Das ist dann wohl ganz schwarzer Humor.

"missing in cantu - Im Gesang verloren gegangen"

Hervorragend, wie die Solisten in schneller Abfolge singen und sprechen, was die Stimmen ungemein fordert. Allen voran: Astrid Meyerfeldt als opiatsüchtige Villenbesitzerin und Otto Katzameier als Seher aus der Zukunft, aber auch Alexander Günther als eisiger Konquistador im weißen Leinenanzug. Dirigent Andreas Wolf sorgt für das "flammende Inferno" zwischen Choral, Partysound und Wolkenbruch-Elektronik. Viel Beifall für kraftvolles, aufwühlendes modernes Musiktheater.

Und was den etwas rätselhaften Titel betrifft: "missing in cantu" ist ein Wortspiel, heißt es doch übersetzt, dass da jemand im Gesang verloren gegangen ist, beim Singen irre geleitet wurde. Missa in cantu allerdings wäre ein Messgesang, ein gesungener Gottesdienst. Und irgendwo dazwischen stehen die titelgebenden "leeren Paläste" von Eldorado, denn in der goldenen Zukunft wird es keinen mehr geben, der sie bewohnt.

Wieder am 7. und 29. September, 8. Oktober, weitere Termine am Deutschen Nationaltheater Weimar.

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