Dieses vom Ukraine-Präsidialamt über AP veröffentlichte Videostandbild zeigt das Wasser, das durch den Durchbruch im Kachowka-Staudamm fließt.
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Dieses vom Ukraine-Präsidialamt über AP veröffentlichte Videostandbild zeigt das Wasser, das durch den Durchbruch im Kachowka-Staudamm fließt.

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Ukraine: Umweltdesaster nach Sprengung von Kachowka-Staudamm

Nach ukrainischen Angaben wurde der Kachowka-Staudamm in der Region Cherson von der russischen Armee gesprengt, Evakuierungen laufen. Moskau macht hingegen die Ukraine verantwortlich. Kanzler Scholz sieht in der Zerstörung eine neue Kriegs-Dimension.

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Im von Russland besetzten Teil der südukrainischen Region Cherson ist nach Angaben der Kriegsparteien ein wichtiger Staudamm nahe der Front schwer beschädigt worden. Kiew und Moskau machten sich am Dienstagmorgen gegenseitig für den Vorfall mit potenziell gravierenden Folgen verantwortlich. Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, berief demnach den Sicherheitsrat des Landes ein.

Tausende Menschen leben in "kritischer Zone"

Nach der teilweisen Zerstörung des Staudamms sind Orte in der Region Cherson überflutet und Bewohner in Sicherheit gebracht worden. Insgesamt seien 14 Orte und mehr als 22.000 Menschen von Überflutungen bedroht, erklärte der von Moskau eingesetzte Verwaltungschef der Region Cherson, Andrej Aleksejenko, am Dienstag. Der Staudamm ist laut der russischen Nachrichtenagentur Tass auf der Hälfte seiner Länge zerstört. Das Bauwerk stürze weiter ein, meldet die staatliche Agentur unter Berufung auf Rettungsdienste.

Auch nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP gibt es Überflutungen - dies hätten ukrainische Behörden gemeldet. Die russischen Besatzer riefen inzwischen den Notstand aus. Das Wasser sei bereits um zwölf Meter angestiegen, sagte Leontjew. Nowa Kachowka stehe unter Wasser. Auch das an den Staudamm angrenzende und völlig zerstörte Kraftwerk stehe unter Wasser.

Für das angrenzende Wasserkraftwerk sei es "offensichtlich", dass eine Reparatur nicht möglich sei, sagte der russische Besatzungsbürgermeister Leontjew im russischen Staatsfernsehen. Auch der ukrainische Kraftwerksbetreiber sprach von einer kompletten Zerstörung der Anlage. Die Darstellungen beider Seiten ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.

In den frühen Morgenstunden hatte sich in Nowa Kachowka eine schwere Explosion ereignet. Die Ukraine wirft Russland vor, Staudamm und Wasserkraftwerk gesprengt zu haben, um die geplante ukrainische Gegenoffensive zu stören. Moskau bestreitet das und behauptet, die ukrainische Armee habe die Anlage beschossen.

Kiew: 150 Tonnen Motoröl in Dnipro geflossen

Zudem sind nach ukrainischen Angaben 150 Tonnen Motoröl in den Fluss Dnipro geflossen. In den Online-Netzwerken warnte die Presseberaterin des Chefs des ukrainischen Präsidialamtes, Daria Sariwna, vor einer Gefährdung der Umwelt. "Es besteht auch die Gefahr neuer Öllecks, die sich negativ auf die Umwelt auswirken", erklärte sie bei Telegram.

Ukraine: "Damm in Panik gesprengt"

Das ukrainische Einsatzkommando Süd teilte mit, die russischen Besatzer hätten den Damm in der Stadt Nowa Kachowka selbst gesprengt. Der Militärgouverneur des Gebiets, Olexander Prokudin, warnte, innerhalb von fünf Stunden könne der Wasserstand eine kritische Höhe erreichen.

Es sei mit Evakuierungen begonnen worden. "Das Ausmaß der Zerstörung, die Geschwindigkeit und Menge des Wassers sowie die wahrscheinlichen Überschwemmungsgebiete werden gerade bestimmt", erklärte Prokudin.

"Das ist ein offensichtlicher Terrorakt und ein Kriegsverbrechen, das vor einem internationalen Tribunal als Beweis dienen wird", teilt der ukrainische Militärgeheimdienst auf Telegram mit. "Die Besatzer haben den Damm des Kachowka-Stausees in Panik gesprengt."

"Das ist eine hysterische Reaktion", sagt die Sprecherin des Militärkommandos Süd, Natalia Humeniuk. Den russischen Truppe sei klar gewesen, dass es zu einer Bewegung der ukrainischen Verteidigungskräfte kommen würde. "Sie versuchten auf diese Weise Einfluss auf die Verteidigungskräfte zu nehmen, damit die von ihnen befürchtete Überquerung des Dnipro nicht zustande kam."

IAEA: Keine direkten Risiken für AKW Saporischschja

Nach Einschätzung der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) besteht für die Sicherheit des Atomkraftwerkes Saporischschja keine direkte Gefahr durch die Situation rund um den Staudamm. Es gebe kein "unmittelbares nukleares Risiko". Experten der IAEA beobachteten die Lage, zitiert die russische Nachrichtenagentur Tass aus einer Erklärung der Behörde. Das größte Kernkraftwerk Europas wird durch den Staudamm mit Kühlwasser versorgt. Auch ein Sprecher des russischen Atomkonzerns Rosenergoatom sagte der Agentur Interfax, das Akw sei nicht betroffen. Die Atom-Anlage ist infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine von russischen Truppen besetzt.

Nach Einschätzung der ukrainischen Regierung stellt die Zerstörung keine direkte Bedrohung für die Stromversorgung des Landes dar. "Die Explosion (...) hatte keine direkte Auswirkung auf die Lage des Energiesystems des Landes", teilt das Energieministerium mit. "Es bestehen keine Gefahren für die Stabilität der Stromversorgung", heißt es in einer Erklärung.

Behörden: Rund 300 Häuser in Nowa Kachowka evakuiert

In der von Russland besetzten Stadt Nowa Kachowka sind nach Behördenangaben bereits rund 300 Häuser evakuiert worden. Das sagte der von Russland eingesetzte Verwaltungschef Leontjew laut der Nachrichtenagentur Tass. Ein Teil der Stadt sei aus Sicherheitsgründen von der Stromversorgung abgeschnitten worden.

Die russischen Besatzer machten ukrainischen Beschuss für die Schäden am Kachowka-Staudamm verantwortlich. Moskau wies Vorwürfe scharf zurück, für die Zerstörung verantwortlich zu sein. "Das war die Ukraine", sagt Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow. Die "Sabotage" stehe offenbar in Zusammenhang damit, dass die großangelegte Offensive der Ukraine ins Stocken gerate, sagt Peskow. Doch die ukrainischen Streitkräfte wollten sich nach eigenen Angaben nicht von der Rückeroberung russisch besetzter Gebiete abhalten lassen. Die Ukraine verfüge über "alle notwendigen Boote und Pontonbrücken, um Wasserhindernisse zu überwinden", hieß es in einer Mitteilung der Abteilung für strategische Kommunikation vom Dienstag.

Von Moskau eingesetzte Behörden meldeten, der Staudamm sei "durch mehrere Angriffe" der Ukraine teilweise zerstört worden. Leontjew erklärte auf Telegram, bei den nächtlichen Angriffen seien die Ventile des Damms zerstört und eine "unkontrollierbare Wasserfontäne" ausgelöst worden. Spekuliert wurde auch, dass der Damm aufgrund schlechter Wartung gebrochen sein könnte. Die Angaben beider Seiten konnten zunächst nicht unabhängig überprüft werden.

Scholz sieht in Angriff "neue Dimension" des Kriegs

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sieht in der teilweisen Zerstörung des Staudamms eine "neue Dimension" des Ukraine-Kriegs. Die Beschädigung des Damms sei etwas, "das zu der Art und Weise passt, wie Putin diesen Krieg führt", sagte er beim "Europaforum" des WDR in Berlin. Es sei eine Entwicklung, "die wir mit Sorgfalt und mit Sorge betrachten".

Eine eindeutige Schuldzuweisung an die Adresse Russlands vermied der Kanzler - allerdings wies er auf Anzeichen für eine russische Verantwortung hin. Russland habe "jetzt viele Rückschläge erleben müssen", sagte Scholz. Russland habe "daraus immer den Schluss gezogen, mit noch gesteigerter Aggression gegen die Ukraine vorzugehen".

Die Ereignisse um den Staudamm seien etwas, "das sich einreiht in viele, viele der Verbrechen, die wir in der Ukraine gesehen haben, die von russischen Soldaten ausgegangen sind", sagte Scholz weiter. Russland betreibe eine "Kriegsführung, die immer auch zivile Ziele - Städte, Dörfer, Krankenhäuser, Schulen, Infrastrukturen - angegriffen hat, was mit einer militärischen Kriegsführung ja erstmal gar nicht verbunden wäre".

Auch für Außenministerin Annalena Baerbock steht der Verantwortliche für den Staudammbruch fest: "Für diese Umweltkatastrophe gibt es nur einen Verantwortlichen: Der verbrecherische Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine", schreibt Baerbock auf Twitter. "Dieser neuerliche Angriff auf zivile Infrastruktur zeige auch die Verachtung für die intensiven internationalen Bemühungen, ein Mindestmaß an Schutz für die Menschen in der Region zu gewährleisten. Das Auswärtige Amt arbeite "mit Hochdruck an einem genauen Lagebild" und sei dabei in enger Abstimmung mit den G7-Partnern und der Ukraine.

Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, die ungeheuerliche Tat zeige erneut die Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine. Auch UN-Generalsekretär António Guterres hat die teilweise Zerstörung Kachowka-Staudamms als weitere Folge des russischen Angriffskriegs in bezeichnet. "Die heutige Tragödie ist ein weiteres Beispiel für den schrecklichen Preis des Krieges gegen Menschen", sagte Guterres in New York vor Reportern. Es handele sich um eine "weitere zerstörerische Folge der russischen Invasion in der Ukraine".

Karte: Die militärische Lage in der Ukraine

EU-Ratspräsident macht Russland für "Angriff" verantwortlich

EU-Ratspräsident Charles Michel verurteilte die Zerstörung ebenfalls. Er sei "schockiert über den beispiellosen Angriff auf den Nowa-Kachowka-Staudamm", schrieb er bei Twitter. "Die Zerstörung ziviler Infrastruktur gilt klar als Kriegsverbrechen - und wir werden Russland und seine Stellvertreter zur Verantwortung ziehen", schrieb Michel. Der Ratspräsident will den Vorfall Ende Juni beim nächsten EU-Gipfel in Brüssel zur Sprache bringen. Es müsse Hilfen für die überfluteten Gebiete in der ukrainischen Region Cherson im Süden des Landes geben, betonte Michel.

Nach den Worten von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigt die Situation die Brutalität des Krieges. "Die heutige Zerstörung des Kachowka-Staudamms gefährdet Tausende Zivilisten und verursacht schwere Umweltschäden", erklärt er ebenfalls über Twitter. "Das ist eine ungeheuerliche Tat, die einmal mehr die Brutalität des russischen Krieges in der Ukraine zeigt."

Der 30 Meter hohe und 3,2 Kilometer lange Damm wurde 1956 am Fluss Dnipro als Teil des Wasserkraftwerks Kachowka errichtet. Der dadurch gebildete Stausee fasst rund 18 Milliarden Kubikmeter Wasser und versorgt auch die bereits 2014 von Russland annektierte Halbinsel Krim.

Mit Informationen von Reuters, dpa und AFP.

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