Soldaten der Bundeswehr (Symbolbild)
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"Ohne die USA müsste die Nato blind kämpfen"

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"Ohne die USA müsste die Nato blind kämpfen"

Militärexperten warnen vor einem Angriff Russlands auf Nato-Staaten in den kommenden sechs bis neun Jahren. Sicherheitsexperte Christian Mölling erklärt bei BR24, worauf sich Europa gefasst machen müsste.

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach auf der Münchner Sicherheitskonferenz von der Gefahr, dass Russland nicht nur die Ukraine, sondern auch die baltischen Staaten sowie Polen angreifen werde. Es wäre ein weiterer russischer Angriffskrieg, nur diesmal auf Nato-Mitgliedstaaten. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius sieht ebenfalls diese Gefahr und forderte unlängst, dass Deutschland "kriegstüchtig" werden müsse.

Ist ein solcher Angriff tatsächlich möglich – und auf welche Szenarien muss sich Deutschland gegebenenfalls einstellen? Ein Interview mit Christian Mölling, dem Sicherheits- und Verteidigungsexperten von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Mölling will kein Szenario ausschließen, denn das, so sagt er, werde zur eigenen Schwäche.

BR24: Herr Mölling, wie groß sehen Sie denn die Gefahr eines nicht allzu fernen Krieges zwischen Russland und der Nato?

Christian Mölling: Wichtig ist, dass man sich vor Augen führt: Es geht nicht um die Gefahr heute, sondern es geht tatsächlich um die Gefahr morgen und übermorgen. Aber auf die muss man sich ja vorbereiten. Die Kriegswahrscheinlichkeit in Europa steigt erst dann, wenn Russland in der Ukraine nicht mehr durch Hauptkampfhandlungen gebunden ist, also ein wesentlicher Teil der Kriegshandlungen eingestellt worden ist. Aber ab dann läuft die Uhr. Denn dann kann Russland seine militärische Energie in den Wiederaufbau seiner Streitkräfte stecken.

BR24: Ab wann könnten Russlands Streitkräfte wieder bereit für einen neuen Angriffskrieg sein?

Mölling: Da variieren die Zeiten, die man von unterschiedlichen Expertinnen und Experten hört. Das kann zwischen sechs und neun Jahren dauern, bis diese Streitkräfte wieder aufgebaut sind. Andere glauben, dass das sehr viel schneller gehen kann.

Im Video: Nato vs. Russland - Kommt bald der große Krieg? Possoch klärt!

BR24: Wie kommt man eigentlich überhaupt auf den Gedanken, dass Russland nach der Ukraine weitere Angriffskriege führen könnte?

Mölling: Man erkennt einen dauerhaften Willen, Grenzen in Europa durch Waffengewalt, also durch Kriege, zu verändern. Da ist die Ukraine ein doppeltes Beispiel. Man hat es ja nicht nur 2022 versucht, sondern bereits 2014. Es gab den Krieg in Georgien, den Russland geführt hat. Syrien ist auch ein Beispiel, wo Russland mit militärischer Gewalt versucht, seine Ziele durchzusetzen.

Möglicher Angriff Russlands: "Alle Nato-Staaten bedroht"

BR24: Welche Nato-Staaten sind denn am meisten von einer russischen Aggression bedroht?

Mölling: Man kann Gefährdung erstmal von geografischer Nähe ausmachen. Dann wären es die Staaten, die an der Ostflanke der Nato liegen. Also vom Schwarzen Meer – Bulgarien, Rumänien – bis hoch zum hohen Norden. Also Norwegen und Finnland vor allen Dingen. Staaten, die eine lange Grenze mit Russland haben. Aber in der Tat muss man davon ausgehen, dass alle Nato-Staaten bedroht wären. Auf der einen Seite durch russische Raketen mit großer Reichweite, auf der anderen Seite auch durch nichtmilitärische Aktivitäten. Also durch Desinformationen, durch Sabotage, durch viele andere Dinge, die Russland in einem solchen Konflikt tun würde, um die Verteidigungsfähigkeit der Nato zu schwächen.

BR24: Wären die bedrohten Nato-Länder aktuell verteidigungsfähig?

Mölling: Man hat mit dem Anfang des Ukraine-Krieges 2022 festgestellt, dass die Europäer sich eben nicht verteidigen können, weil sie von falschen Planungsvoraussetzungen ausgegangen sind. Man hatte gedacht, dass ein Angriff Russlands auf Nato-Europa eine lange Vorlaufzeit hat und militärisch nicht so intensiv vorgetragen wird. Man hat gedacht, dass Russland nicht so risikobereit ist. Jetzt passt man die Planungen an. Man hat akzeptiert, dass Russland bereit ist, ein hohes Risiko militärisch zu gehen. Streitkräfte-Verluste spielen keine Rolle für Russland. Und deswegen geht man davon aus, dass man Russland im Grunde schon an den Grenzen, vor allen Dingen an den Grenzen der baltischen Staaten aufhalten muss. Das ist zurzeit eine große Schwierigkeit.

Im Audio: Mölling über das aggressive Verhalten Russlands

Dr. Christian Mölling ist stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts der DGAP und Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung.
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Dr. Christian Mölling

BR24: Dennoch würde Russland auch noch auf anderen Wegen versuchen, die Nato herauszufordern?

Mölling: Natürlich gehört als eine weitere Dimension hybride Kriegsführung dazu. Also mit nichtmilitärischen Mitteln versuchen, den Gegner unter Druck zu setzen. Da sind nicht die Streitkräfte das wesentliche Ziel, sondern das öffentliche Leben, die Zivilbevölkerung, ja das Aufstacheln der Zivilbevölkerung. Aber auch die Zerstörung kritischer Infrastruktur, das Sprengen von Brücken, das Zerstören von Telekommunikationseinrichtungen. Alles das, was das öffentliche Leben zum Zusammenbrechen bringen kann. Das wird Ziel dieser Aktivitäten sein. Man sollte nicht davon ausgehen, dass irgendetwas ausgeschlossen ist. Denn das, was wir ausschließen, wird damit automatisch zu einer Schwäche. Denn Russland sagt dann: Okay, da passen sie gerade nicht darauf auf, dann versuchen wir es doch da mal.

BR24: Auf welche Angriffsszenarien bereitet sich die Nato denn genau vor?

Mölling: Man geht davon aus, dass, wenn Russland es gelingt, in die baltischen Staaten einzudringen und möglicherweise zum Beispiel Vilnius als Hauptstadt einzunehmen, man einen militärisch großen Aufwand betreiben muss, um diese Stadt zurückzuerobern. Wahrscheinlich würde Putin ein Friedensangebot machen und sagen: Wir behalten Vilnius und ansonsten ist Frieden. Russland würde dann darauf warten, dass die Nato nicht militärisch, sondern politisch agiert und sich über die Frage politisch zerlegt: Schickt man deutsche Soldaten zur Befreiung von Vilnius oder ist einem das doch gar nicht so viel wert? Damit wäre dann auch eine militärische Kampfkraft der Nato nicht mehr vorhanden.

BR24: Wie könnte dann ein militärischer Konflikt mit Russland konkret ablaufen?

Mölling: Man sollte vielleicht davon ausgehen, dass Russland versuchen würde, im ganzen Frontverlauf der Nato anzugreifen oder militärische Probleme zu verursachen. Die Hauptstoßrichtung, so die Annahme, wird im Zentrum sein, also Richtung Baltikum und Polen. Aber an den anderen Abschnitten, also im Norden und auch im Süden dieses Frontverlaufes, wird Russland natürlich nicht nichts tun. Das ist das Wesen von militärischen Auseinandersetzungen: Sie versuchen, die Kräfte des Gegners zu verteilen, während der wiederum versucht, die Kräfte zu konzentrieren. Da würden wir sicherlich erleben, dass Russland Ablenkungsmanöver oder auch große Aktivitäten zum Beispiel im Schwarzen Meer starten wird.

300.000 Nato-Soldaten sollen schnell einsatzbereit sein

BR24: Wappnet sich die Nato eigentlich gegen Überraschungsangriffe?

Mölling: Natürlich kann man sich auch vorstellen, dass Russland versucht, eine Überraschung zu starten und ganz woanders anzugreifen. Deswegen stellt die Nato sich zurzeit darauf ein, dass sie überall aktiv sein muss und dass man im Zweifelsfall Kräfte schneller verlegen können muss, als wir das bislang gehabt haben. Die Nato-Streitkräfte, die jetzt neu aufgebaut werden, das sind etwa 300.000 Soldaten, die mit einer ganz kurzen Alarm-Frist von drei bis zehn Tagen einsetzbar sein sollen.

"Nato müsste ohne USA blind und taub kämpfen"

BR24: Es muss also schnell gehen. Welche Fähigkeiten bringen die Streitkräfte der USA dafür mit?

Mölling: Die Amerikaner sind die Armee auf der Welt, die sehr schnell bilateral Truppen verlegen und vor Ort sein können. Das haben sie immer wieder gezeigt. Das ist auch das, was sie jetzt noch können. Das heißt, die Amerikaner sind bei den militärischen Kräften ein wesentlicher Rückhalt. Und – das sehen wir auch im jetzigen russischen Angriffskrieg – die Unterstützung der Amerikaner an die Ukraine mit Informationen aus Satelliten, Aufklärungsdaten, wo auch immer sie herkommen, ist für die Ukraine eine Riesenhilfe. Das würde uns als Nato, wenn die Amerikaner aussteigen würden, wahrscheinlich nicht mehr zur Verfügung stehen. Das heißt, wir müssten bis zu einem gewissen Maß blind und taub kämpfen.

"Europa müsste Krieg ohne USA neu denken"

BR24: Europa auf sich allein gestellt – wie könnte das im Konfliktfall funktionieren?

Mölling: Es geht darum, dass sich die Europäer als Staatengemeinschaft, möglicherweise mithilfe der Infrastruktur und der Kommandostrukturen, die man innerhalb der Nato hat, dann neu und reorganisieren müssen. Und das natürlich auch unter Zuhilfenahme der Staaten, die nicht Teil der Europäischen Union sind. Also Norwegen, Großbritannien, das sind alles Staaten, die sehr wichtige militärische Beiträge leisten können. Und es wird darum gehen, sich zu überlegen, wie man die Lücken, die die Amerikaner reißen, so schnell wie möglich schließen kann. Man wird sich aber nicht nur auf das Lückenschließen verlegen müssen, sondern man wird auch sagen: Okay, bestimmte Sachen können wir gar nicht anders ohne die Amerikaner machen. Da werden wir ganz anders kämpfen müssen, als wir das in der Vergangenheit mit den Amerikanern gedacht haben. Das wird viel Kreativität verlangen. Da muss man, glaube ich, europäisch den Krieg neu denken.

BR24: Danke für das Gespräch.

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