ARCHIV - 16.10.2023, Palästinensische Gebiete, Rafah: Menschen warten auf die Öffnung des Grenzübergangs Rafah im südlichen Gazastreifen. Der einzige Grenzübergang zum Gazastreifen bleibt weiterhin geschlossen. Menschen, die auf der Flucht aus dem Gazastreifen sind, wie auch humanitäre Hilfsgüter die über Ägypten in das Krisengebiet sind, stecke an der Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen fest. Foto: Khaled Omar/XinHua/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
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Nahostkonflikt - Rafah

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Wegen geschlossener Grenze zu Gaza: Druck auf Ägypten wächst

Aus Furcht vor einer Massenflucht lehnt Ägypten die Aufnahme palästinensischer Flüchtlinge aus dem Gazastreifen ab. So bleibt die Grenze verschlossen, während die humanitäre Lage in Gaza immer extremer wird. Hilfsorganisationen schlagen Alarm.

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Eine Massenflucht der Palästinenser aus dem Gazastreifen nach Ägypten – davor warnt Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi seit Tagen. "Wir sind sehr daran interessiert, dass Hilfe den Gazastreifen in dieser schwierigen Zeit erreicht. Doch für den Gazastreifen besteht eine sehr große Gefahr. Es ist wichtig, dass das palästinensische Volk auf seinem Land standhaft bleibt. Wir werden alle Anstrengungen unternehmen, um es zu entlasten", so al-Sisi zuletzt.

Ägypten ist ein wichtiger Ausgangspunkt, um humanitäre Hilfe für Menschen in Gaza zu leisten. Der Gazastreifen grenzt im Süden an Ägypten. Der einzige Grenzübergang Rafah ist aber nach mehrmalige Beschuss durch die israelische Luftwaffe geschlossen. Nur über ihn könnten aktuell bereitstehende Hilfslieferungen in den Küstenstreifen gebracht werden. Und so warten in Ägypten seit Tagen Hilfskonvois, um über Rafah nach Gaza zu gelangen.

Kanzler Scholz sieht Fortschritte

Von internationaler Seite mehren sich Forderungen nach einer raschen Öffnung des einzigen nicht von Israel kontrollierten Zugangs zum Gazastreifen für Hilfslieferungen.

Doch Ägypten bleibt hart. Das Argument in Richtung Palästinenser: Würden alle Menschen den Gazastreifen verlassen, könnte Israel das Land übernehmen - und das gelte es schließlich zu verhindern. "Es ist sehr zynisch, das zu sagen", zitierte tagesschau.de Bente Scheller von der Heinrich-Böll-Stiftung. "Hier sitzen Millionen von Menschen, die berechtigt eine sehr große Angst haben." Sie würden von allen Seiten als politischer Spielball benutzt - die Interessen des jeweiligen Landes gingen stets über humanitäre Interessen.

So wird versucht, Ägypten umzustimmen. Kanzler Olaf Scholz etwa weilte am Mittwoch in Kairo. Scholz sieht Fortschritte bei den politischen Bemühungen um humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen. "Es hat sich was bewegt in den letzten Tagen." Er hoffe, dass bald Grenzübergänge für humanitäre Einsätze geöffnet werden könnten. "Die Bemühungen der Vereinigten Staaten, die Bemühungen unsererseits, die Bemühungen vieler anderer haben sicher dazu beigetragen, dass das jetzt hoffentlich bald bevorsteht", so Scholz.

Die Menschen im Gazastreifen brauchten Wasser, Nahrung und Medikamente. Scholz erläuterte, die Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen sähen sich in der Lage, diese Hilfe zu gewährleisten, "ohne dass die Hilfe in falsche Hände gerät". Das sei eine ganz wichtige Information.

Karte: Übersicht Israel und angrenzende Länder

Al-Sisi: Vermittler und Bekämpfer der Muslimbruderschaft

Während der Pressekonferenz mit Kanzler Scholz forderte der ägyptische Staatschef die internationale Gemeinschaft dazu auf, sofort einzugreifen, um die "vorsätzlichen Praktiken" gegen Zivilisten im von Israel abgeriegelten Gazastreifen zu stoppen.

Und dann fügte er hinzu: "Die Idee, die Menschen aus Gaza nach Ägypten (...) zu vertreiben, ist nicht umsetzbar und wir warnen vor den damit verbundenen Risiken." Die Sinai-Halbinsel könnte in dem Fall Ausgangspunkt für Angriffe militanter Palästinenser auf Israel werden, für die dann Ägypten verantwortlich gemacht werden könnte. Der Norden des Sinai gilt seit Längerem als instabil und als Rückzugsgebiet militanter Islamisten.

Die Lage und damit auch die Rolle des ägyptischen Regierungschefs ist somit komplex. Ägypten hat wiederholt in Konflikten vermittelt, die zwischen Israel und islamistischen palästinensischen Fraktionen in Gaza ausgebrochen sind. Dann vor eineinhalb Wochen überquerten Terroristen im Auftrag der Hamas die Grenze zu Israel und richteten das Massaker an.

Die Hamas steht der ägyptischen Muslimbruderschaft nahe, die in Ägypten als Terrororganisation eingestuft wird. Abdel Fattah al-Sisi geht seit seiner Machtübernahme hart gegen die Muslimbruderschaft vor und hat immer wieder auch Islamisten wegen Verbindungen zur Hamas verurteilt.

Lage in Gaza immer angespannter

Doch die Hoffnung ist groß, dass Ägypten bald seinen Grenzübergang öffnet, um humanitäre Hilfe möglich zu machen. Die diplomatischen Verhandlungen laufen im Hintergrund. Eine Abmachung über einen Zugang für Hilfslieferungen rücke näher, so ein Vertreter des Roten Kreuzes schon am Dienstagmorgen.

Es ist geplant, dass zumindest Ausländer und Doppelstaatler, darunter auch Deutsch-Palästinenser, den Gazastreifen Richtung Ägypten verlassen können. Viele warten seit Tagen verzweifelt mit kleinen Kindern und Koffern im Gazastreifen direkt an der Grenze und hoffen, bald rauszukommen. Doch bislang ist das nicht gelungen: Medienberichten zufolge hatte sich Ägypten zwar mit US-Außenminister Antony Blinken darauf verständigt, die Grenze zu öffnen, aber es mangelte bislang Berichten zufolge offenbar an Sicherheitsgarantien von Seiten der Terrororganisation Hamas und Israel.

Durch die israelischen Bombardements des Grenzübergangs soll die Zufahrtsstraße zur Grenze im Gazastreifen beschädigt sein – auch das könnte humanitäre Hilfe weiter verzögern. Dabei wird die Lage immer angespannter – auch durch den Raketeneinschlag am Dienstag in einem Krankenhaus in Gaza-Stadt mit palästinensischen Angaben zufolge Hunderten Toten und vielen Verletzten.

Noch ist vollkommen unklar, wer für den Einschlag verantwortlich ist. Die von der Terrororganisation Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde im Gazastreifen sowie mehrere arabische Staaten machen Israel verantwortlich - die israelische Armee hat dies entschieden zurückgewiesen und Luftaufnahmen veröffentlicht, die beweisen sollen, dass eine fehlgeleitete palästinensische Rakete eingeschlagen ist.

Karte: Übersicht des Gazastreifens

"Die Zivilbevölkerung fühlt sich als Zielscheibe"

Wer für den Einschlag verantwortlich sei, das sei Spekulation und müsse untersucht werden, sagte Matthias Schmale, mehrere Jahre Direktor des Palästinenserhilfswerks der Vereinten Nationen in Gaza, im Interview mit BR24. "Keine Spekulation ist, dass die Menschen im Gazastreifen nach elf Tagen Bombardierung keinen sicheren Zufluchtsort mehr haben", berichtete Schmale.

Am Morgen habe ihm ein Freund geschrieben. "Wir sind müde, wir wissen nicht mehr, was wir tun können." Auch eine UN-Schule in Gaza sei beschossen worden, mindestens sechs Menschen seien dabei ums Leben gekommen. "Ich glaube, dass die Zivilbevölkerung den Eindruck hat, dass sich das jetzt auf einem ganz anderen Level bewegt, als das, was sie vorher erlebt haben." Die Trinkwasserversorgung etwa sei nicht gesichert, so Schmale: "Mir berichten Freunde aus dem Gazastreifen, dass sie mittlerweile salziges Wasser trinken müssen. Das hört sich an, wie ein nackter Überlebenskampf. Die Zivilbevölkerung fühlt sich als Zielscheibe."

Christian Katzer, Geschäftsführer der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen, erinnerte daran, dass es einen sicheren Zugang für humanitäre Hilfe brauche. Die Lage habe sich nach dem Raketeneinschlag weiter verschlimmert. Medizinische Teams arbeiteten "mit dem letzten, was noch da ist". Die Organisation verhandele mit den Konfliktparteien und Ägypten, um einen Zugang zu ermöglichen. Am Grenzübergang zwischen Gaza und Ägypten stecken laut den Vereinten Nationen aktuell Hunderte Tonnen an Hilfsgütern fest. Katzer zufolge müssen Behandlungen in Gaza teils ohne Schmerzmittel durchgeführt werden.

Rotes Kreuz warnt: Leben von über zwei Millionen bedroht

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) warnte vor einem Kollaps des Gesundheitssystems in Gaza. "Die Lage ist äußerst prekär", sagt Präsidentin Mirjana Spoljaric Egger im Deutschlandfunk.

Die Krankenhäuser seien überfüllt. Es fehle an Ärzten, Material, Betten und Operationssälen. "Es ist eine Frage von Stunden oder Tagen, bis das ganze System zusammenbricht." Das Leid der Menschen sei unerträglich, sagte die Schweizer Diplomatin weiter. Im Gazastreifen drohe eine Katastrophe unbeschreiblichen Ausmaßes. Das Leben von über zwei Millionen Menschen sei bedroht. Spoljaric Egger unterstrich, dass Zivilisten durch das humanitäre Völkerrecht geschützt seien. Alle müssten sich daran halten.

Mit Informationen Reuters, dpa und KNA

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