Menschen auf Trümmerhaufen in Chan Yunis, Gazastreifen
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Menschen auf Trümmerhaufen in Chan Yunis, Gazastreifen

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Der Gaza-Streifen wird zur Todesfalle

Israel hat seine Luftangriffe im Gaza-Streifen nach dem Angriff der Hamas fortgesetzt, eine Bodenoffensive könnte folgen. Neben den direkten Todesopfern – zuletzt rund 1.400 – könnten in der dichtbesiedelten Region bald noch mehr Menschen sterben.

In der Nacht hat Israel einen großangelegten Angriff auf den Gazastreifen gestartet. Er habe sich gegen "Ziele einer Eliteeinheit der radikal-islamischen Hamas" gerichtet, teilte das Militär am Morgen mit - die Nuchba-Einheit stecke hinter den blutigen Attacken der Hamas vom Samstag.

Der Gazastreifen wird zur Todesfalle

Doch die Verantwortlichen für die Massaker zu treffen, ist schwierig. 2,3 Millionen Menschen leben im Gazastreifen auf nur 360 Quadratkilometern – das ist nur etwas mehr Fläche als die Stadt München hat. Die Hamas hat sich über Jahre ein weitverzweigtes Netz geheimer unterirdischer Fluchttunnel geschaffen – doch Bunker und Schutzräume für die Zivilbevölkerung fehlen. Auch Fluchtmöglichkeiten aus der Region gibt es derzeit nicht: Die Grenze zu Ägypten ist dicht, der Grenzzaun zu Israel sowieso. Auch den Weg vom 14 Kilometer langen Küstenstreifen über das Mittelmeer hat die israelische Armee abgeriegelt: Bewaffnete Palästinenser versuchten noch immer, über das Meer auf israelisches Territorium vorzudringen, so die Begründung eines Militärsprechers.

Also steigt die Zahl der Opfer weiter. Am Nachmittag meldete das - von der Hamas kontrollierte - Gesundheitsministerium neue Zahlen: 1.400 Tote, darunter der Meldung zufolge 447 Kinder, und 6.268 Verletzte - ein Zwischenstand. Eine Bodenoffensive der israelischen Armee, die nach der Bildung der Notstandsregierung in Jerusalem intensiv diskutiert wird, würde die Lage weiter verschärfen.

Augenzeuge: "Was hier passiert, ist verrückt"

Augenzeugen in Gaza-Stadt erzählen den Nachrichtenagenturen von der Lage vor Ort. Etwa Tahani Dschaber, die zu Fuß durch die Straßen irrt – Autofahren sei wegen der Trümmerhaufen nicht mehr möglich. Ihre Kinder habe sie bei ihrer Mutter nördlich von Gaza zurückgelassen. Jetzt müsse sie Medikamente für ihren Säugling besorgen, der schon den zweiten Tag in Folge an hohem Fieber leide, sagt sie. "Ich habe das Gefühl, dass ich jeden Moment dem Tod näherkomme, aber das Leben der Kinder ist wichtiger."

Mohammed Baroud berichtet nach den israelischen Luftangriffen von ganzen Straßenzügen in Schutt und Asche. Jeder, der aktuell rausgehe, könne jeden Moment bombardiert werden und sterben, so Baroud. "Wir können uns nicht bewegen oder wichtige Dinge für unsere Kinder kaufen." Nach jedem Angriff gebe es einen neuen Angriff. "Was hier passiert, ist verrückt".

Strom, Wasser und Nahrung fehlen

Neben den Bombardements macht vor allem der Ausfall der Infrastruktur den Menschen in Gaza zu schaffen. Die Stromversorgung im Gazastreifen ist bereits zusammengebrochen, nachdem das einzige Kraftwerk nach Beschuss seinen Betrieb einstellen musste. Der Treibstoff für Generatoren geht dem Roten Kreuz zufolge in Kürze zur Neige.

Zugleich warnt das UN-Hilfswerk für Palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) vor einer Wasserkrise im Gazastreifen. "Die UNRWA-Notunterkünfte sind überfüllt und die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, Non-Food-Artikeln und Trinkwasser ist begrenzt." Schon in Friedenszeiten ist Wasser in Gaza ein kostbares Gut von oft zweifelhafter Qualität. Durch die Blockade können die Trinkwasservorräte nicht mehr aufgefüllt werden.

Rotes Kreuz: Krankenhäuser in Gaza verwandeln sich in Leichenhallen

Geschätzt 340.000 Menschen haben wegen der Luftangriffe im schmalen Rechteck des Gaza-Streifens kein Dach mehr über dem Kopf. An die 218.000 Vertriebene suchen aktuell in den Gebäuden des Hilfswerks Zuflucht. Alle Krankenhäuser sind am Limit.

Das menschliche Leiden der Zivilbevölkerung sei abscheulich, sagt Fabrizio Carboni, Regionaldirektor für den Nahen und Mittleren Osten des Roten Kreuzes in Genf: Ohne Strom drohten sich die Krankenhäuser im Gazastreifen in Leichenhallen zu verwandeln. Neugeborene in Brutkästen und ältere Patienten, die Sauerstoff benötigten, seien gefährdet. Die Nierendialyse falle aus, Röntgenaufnahmen könnten nicht erstellt werden.

Mohammed Abu Mughaiseeb von Ärzte ohne Grenzen hat seit Tagen nicht mehr geschlafen. Seine Kollegen und er sind ohne Pause im Krankenhaus. Dem BR berichtet er:

"Wenn man hineinkommt, sieht man als Erstes Menschen, die Schutz suchen, auf dem Parkplatz, draußen mit ihren Familien. Sie suchen Schutz in den Krankenhäusern. Die Notaufnahme ist voller Patienten und medizinischem Personal, es ist wie eine Bienenzelle, alle sind beschäftigt. In den Operationssälen – es gibt 12 Operationssäle, in allen wird gearbeitet, es wird rund um die Uhr gearbeitet." Mohammed Abu Mughaiseeb, Arzt in Gaza

Das Leid der Geiseln und ihrer Familien

Israel beklagt unterdessen, dass noch nie seit dem Holocaust so viele Juden an einem Tag getötet wurden, wie bei den Massakern vom Samstag. Rot-Kreuz-Mann Carboni berichtet, israelische Familien seien "krank vor Sorge um ihre Angehörigen, die als Geiseln genommen werden". Hamas-Terrroristen hatten bei ihren Überfällen unter anderem auf ein Musikfestival mindestens 150 Menschen verschleppt - darunter auch Deutsche.

Fabrizio Carboni: "Geiselnahmen sind nach dem humanitären Völkerrecht verboten, und jeder, der festgehalten wird, soll sofort freigelassen werden". Das Rote Kreuz biete sich als neutraler Vermittler an. Die Türkei verhandelt nach eigenen Angaben bereits. Doch dass es zu einer schnellen Lösung kommt, ist unwahrscheinlich.

Kein Einlenken auf beiden Seiten

Die Hamas hat damit gedroht, im Gegenzug für jeden israelischen Angriff eine Geisel zu ermorden. Israels Energieminister Israel Katz argumentiert genau umgekehrt: Er knüpfte ein Ende der Belagerung des Gazastreifens an die Freilassung israelischer Geiseln. "Humanitäre Hilfe für Gaza? Solange die israelischen Geiseln nicht nach Hause zurückkehren, wird kein Stromschalter umgelegt, kein Wasserhydrant geöffnet und kein Treibstofftransporter eingelassen. Humanitär für humanitär. Und niemand sollte uns Moral predigen", schreibt Katz auf der Plattform X.

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