AfD-Politiker Joachim Kuhs bei einer Tagung im Plenarsaal des Europäischen Parlaments.
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AfD-Politiker Joachim Kuhs bei einer Tagung im Plenarsaal des Europäischen Parlaments

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AfD im Europaparlament: Radikaler als die Radikalen

"Identität und Demokratie" heißt eine rechtspopulistische Fraktion im Europaparlament. Mit dabei ist die AfD. Bei der Stärkung der Frauenrechte, der Demokratie und des Klimaschutzes tritt sie besonders hart auf die Bremse. Eine Datenanalyse.

Über dieses Thema berichtet: BAYERN 3-Nachrichten am .

Die AfD fällt im Europaparlament durch ihr Abstimmungsverhalten auf. Sie steuert bei Themen wie Frauenrechte, Demokratie-Defizite in Ungarn und bis vor kurzem in Polen sowie bei Klima- und Umweltschutz einen harten Kurs – selbst im Vergleich zum Rest der rechtspopulistischen Fraktion "Identität und Demokratie" (ID).

BR24 hat Daten des Projekts HowTheyVote.eu zum Abstimmungsverhalten aller Kräfte im Europaparlament in der noch laufenden Legislaturperiode (von Juli 2019 bis März 2024) ausgewertet. Insgesamt umfasst es über 18.000 Abstimmungen. In dieser Auswertung konzentrieren wir uns auf Hauptabstimmungen – insbesondere diejenigen, deren Relevanz durch eine gesonderte Pressemitteilung des Parlaments unterstrichen wurde.

Mag das Abstimmungsverhalten der ID insgesamt wenig überraschen, erweist sich die AfD innerhalb der Fraktion als noch konsequentere Neinsagerin. Das zeigt den radikalen Kurs der AfD-Abgeordneten, der zuletzt unter anderem bei der französischen Rechtspopulistin Marine Le Pen auf wenig Gegenliebe stieß. Die AfD war zu Beginn der Legislaturperiode mit elf, zuletzt mit neun Abgeordneten in der ID vertreten. Lars Patrick Berg war im Mai 2021, Jörg Meuthen im Februar 2023 ausgetreten.

Was ist die "Identität und Demokratie" (ID)?

Im Europaparlament gibt es zwei rechtspopulistische Fraktionen, die "Identität und Demokratie" und die "Konservativen und Reformer". BR24 Data konzentriert sich hier auf die ID, weil in ihr Abgeordnete bekannter rechtspopulistischer Parteien vertreten sind – unter anderem die deutsche AfD, die österreichische FPÖ, der Rassemblement National (RN) aus Frankreich und die italienische Lega.

Nimmt man das Abstimmungsverhalten in den Blick, fällt die ID im Vergleich mit den anderen Fraktionen durch besonders viele Nein-Stimmen auf.

Grafik: Abstimmungsverhalten im EU-Parlament bei Hauptabstimmungen

Die fünf relevanten Anträge oder Resolutionen, die Polen und/oder Ungarn einen Verstoß gegen Prinzipien der freiheitlichen Demokratie vorwarfen, lehnte die ID durchweg ab. Polen wird beispielsweise wegen Verstößen gegen die richterliche Unabhängigkeit im Zuge der sogenannten Justizreform gerügt. Die ungarische Regierung wird wegen Einschränkungen von Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung sowie der Diskriminierung von Minderheiten kritisiert.

Grafik: Abstimmungsverhalten zum Thema "Demokratie in Polen und Ungarn"

Im Folgenden gehen wir auf einzelne Themenkomplexe ein – und wir wollen die besondere Rolle der AfD herausstreichen, die, wie sich herausgestellt hat, selbst innerhalb der ID eine Sonderrolle einnimmt. Von den zehn Abgeordneten, die bei Hauptabstimmungen am häufigsten mit Nein stimmten, kamen acht aus der ID – unter ihnen gleich sechs aus der AfD.

AfD-Abgeordnete auf Konfrontationskurs

Die AfD-Abgeordneten im Europaparlament führen ein gewisses Eigenleben – innerhalb der ID-Fraktion und auch gegenüber der Mutterpartei in Deutschland. RN-Chefin Marine Le Pen hatte den Verbleib der AfD in der Fraktion offen in Frage gestellt. Der RN gibt sich gemäßigter und fährt damit in Frankreich auf Erfolgskurs. Der Dissens wird auch im Abstimmungsverhalten der ID deutlich. Wie folgende Grafik veranschaulicht, stimmten die AfD-Abgeordneten wesentlich häufiger mit Nein als der Rest der Fraktion.

Grafik: Abstimmungsverhalten der AfD im Vergleich zu anderen ID-Abgeordneten

Zum Beispiel beim Thema Arbeit: Im Oktober 2021 stimmte das EU-Parlament über Richtlinien zum Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegen die Gefährdung durch die krebserregende Mineralfaser Asbest am Arbeitsplatz ab. Innerhalb der ID Fraktion stimmen 56 Abgeordnete dafür, eine Person dagegen und 13 enthalten sich – darunter alle 10 AfD Abgeordneten.

Im September 2021 gab es eine Abstimmung über Richtlinien für bessere Arbeitsbedingungen für Plattformbeschäftigte, also Arbeiterinnen und Arbeiter von Online-Plattformen wie zum Beispiel Lieferdiensten. Die AfD stimmt geschlossen dagegen, Italien und Frankreich enthalten sich. Niemand in der ID stimmt dafür.

Besonders auffällig ist die Haltung der AfD-Abgeordneten bei den Themen Frauenrechte und geschlechterspezifische Gewalt. Bei fünf relevanten Hauptabstimmungen mit Pressemitteilung des Parlaments zu diesen Themenkomplexen sind 96 Prozent der AfD-Stimmen Gegenstimmen. Die fünf Vorlagen zielen auf eine Stärkung der Frauenrechte oder sollten den Schutz für geschlechtsspezifischer Gewalt erhöhen. Keiner der damals elf AfD-Abgeordneten stimmt zum Beispiel bei der Abstimmung vom 21. Januar 2021 für konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der digitalen Teilhabe von Frauen und Mädchen. Die folgende Grafik zeigt die Anzahl der abgegebenen Stimmen pro Land. Die meisten Nein-Stimmen kommen von der AfD.

Grafik: Abstimmungsverhalten zu Frauenrechten und geschlechterspezifischer Gewalt

Auf Gegenkurs beim Klima- und Umweltschutz

Beim Themenkomplex Klima- und Umweltschutz, dem BR24 Data 26 Abstimmungen zuordnen konnte, bietet sich ein ähnliches Bild. Die Vorschläge und Resolutionen zielten vor allem auf die Finanzierung des "Green Deal" (des ökologisch nachhaltigen Umbaus von Europas Wirtschaft und Gesellschaft), die Reduktion von Emissionen, die Förderung alternativer Kraftstoffe, die Auswirkungen des Klimawandels auf die Menschenrechte oder den besseren Zugang zu Umweltdaten. Ziel war jeweils eine Verbesserung des Klima- und Umweltschutzes. Was das Stimmenverhältnis betrifft, votierten die AfD-Abgeordneten im Vergleich zur restlichen ID häufiger mit Nein.

Grafik: Abstimmungsverhalten bei Umwelt- und Klimaschutz

Um die europäische Wirtschaft, die per Gesetz mehr für den Klimaschutz tun muss, vor Wettbewerbsnachteilen zu schützen, hat die EU einen Grenzausgleichsmechanismus eingeführt. Bei der Abstimmung darüber am 10. März 2021 wich das Abstimmungsverhalten der AfD krass von dem des RN ab. Kleinere Parteien der Niederlande, Finnlands, Dänemarks, Tschechiens und Österreichs (FPÖ) stimmten ebenfalls entschieden mit Nein.

Grafik: Abstimmungsverhalten zum Thema "EU-Grenzausgleichsmechanismus für Kohlenstoff"

Größere Einigkeit gab es hingegen bei einer neuen Verordnung über Batterien und Altbatterien (14. Juni 2023). Die Verordnung ist umfangreicher als die bisherige Richtlinie. Sie regelt nun den gesamten Lebenszyklus von Batterien, das heißt von der Herstellung bis zur Wiederverwendung und zum Recycling – unter anderem, um CO2 einzusparen. Eine einzige Nein-Stimme innerhalb der ID-Fraktion kam hier aus Tschechien. Dennoch erhielt die Verordnung von der ID im Fraktionsvergleich besonders wenig Zustimmung.

Grafik: Einzelbeispiel: Abstimmung zum Thema "Batterien und Altbatterien

Bei den beiden Einzelbeispielen enthielt sich die größte ID-Partei, die italienische Lega, in einem Fall und stimmte im anderen mit Ja. Der französische RN stimmte in beiden Fällen mit Ja.

Fazit

Maßnahmen gegen Polen und Ungarn sowie Frauenrechte und Umwelt- beziehungsweise Klimaschutz sind nicht Sache der AfD-Abgeordneten im Europaparlament. Unsere Analyse der entsprechenden Abstimmungen in der zu Ende gehenden Legislaturperiode zeigt: Die deutsche Partei fiel innerhalb der rechtspopulistischen ID-Fraktion durch häufigere Ablehnungen auf.

Die Vorwürfe der Radikalisierung, die nicht nur von politischen Gegnern der AfD, sondern auch vom RN aus Frankreich erhoben werden, werden für die hier untersuchten Themenbereiche gestützt. Deutlich wird auch: Die unterschiedlichen Strategien der rechtspopulistischen Parteien in Europa konterkarieren die oft beschworene Einheit dieses Lagers.

Über die Daten:

Die Daten wurden uns von “HowTheyVote.eu” zur Verfügung gestellt. Das Projekt bereitet die Ergebnisse von Abstimmungen im EU-Parlament auf und macht diese auf Ihrer Website zugänglich. Die Daten beinhalten namentliche Abstimmungen (Roll-Call Votes) vom 15. Juli 2019 bis zum 14. März 2024. Abstimmungen in den Ausschüssen sind nicht enthalten. Je nach Zeitpunkt der Abstimmung können unterschiedlich viele Abgeordnete an einer Abstimmung teilgenommen haben. Bei der hauptsächlich quantitativen Analyse spielen die Gründe für ein bestimmtes Votum keine Rolle.

Als besonders relevante Abstimmungen wurden diejenigen hervorgehoben und analysiert, weil sie direkt mit einer Pressemitteilung des Parlaments verknüpft werden können – insgesamt 186 von 18.274 Abstimmungen. 1531 Hauptabstimmungen sind insgesamt im Datensatz enthalten. Es besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit. Die thematische Zuordnung der Abstimmung erfolgte redaktionell.

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