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Susanne Müller
In Deutschland eigentlich
kein
Grund zum Jammern
Das ZDF-Kinderprogramm bietet Vielfalt, die
fordern und Optionen aufzeigen will. Die Leitlinie ist hierbei:
"Zuerst die Kinder" - eine Leitlinie, die auch von der
öffentlichen Diskussion wertgeschätzt wird. Der Markterfolg
spielt bei diesen Überlegungen nicht die Hauptrolle, auch wenn
es ohne die internationale Einbindung nicht geht. Dies bedeutet
aber nicht, sich der Stromlinienförmigkeit der Kinderprogrammindustrie
anschließen zu müssen.
Das ZDF-Kinderprogramm tivi ist ein modernes,
familienfreundliches Dienstleistungsunternehmen in wertekonservativer
Tradition. Wir haben weder den Auftrag, Geld am Markt zu verdienen,
noch den Auftrag, anderen beim Geldverdienen behilflich zu sein.
Unser Auftrag ist klar: wir erhalten Gebührengelder, um ein
öffentlich-rechtliches Kinderprogramm anbieten zu können,
das altersgemäß informiert, bildet und unterhält.
Unsere "Dienstherren" sind rund 8,5 Millionen Kinder zwischen
3 und 13 Jahren und ihre Eltern. Für sie - egal, ob klein oder
groß, Junge oder Mädchen, deutsch oder von anderer Nationalität,
egal, ob sie schon viel wissen oder noch viel lernen wollen - machen
wir unser Fernsehen. Dabei stellen wir uns auf die Seite der Kinder,
versuchen ihre Perspektive einzunehmen, bemühen uns, mit ihnen
auf Augenhöhe zu kommunizieren und vergessen dabei nicht unsere
Fürsorgepflicht ihnen gegenüber. Denn auch wenn Kinder
jünger älter werden und heute schon viele Entscheidungen
alleine treffen können - die Optionen müssen ihnen aufgezeigt
werden.
Wir wissen, wie Kinder sind, was sie mögen, wie sie lernen,
wem sie glauben und warum, was sie sehen, worauf sie neugierig sind,
welche Fragen, Ängste, Sorgen sie haben, aber auch, worüber
sie lachen, worüber sie sich amüsieren und womit sie sich
unterhalten. Das bestimmt die Leitlinien unseres Programms:
1. Wir bieten den
Kindern etwas an. Nämlich Programmvielfalt - so
wie auch das Leben vielfältig ist. Das heißt: Es gibt
aktuelle Informationsmagazine und Magazine zu Natur und Umweltthemen,
es gibt Nachrichten und Shows, Spielfilme und Dokumentarfilme und
natürlich Real- und Trickserien. Das ist der erste Schritt
zur Medienkompetenz - die Breite des Angebots zu kennen und daraus
auszuwählen!
2. Wir fordern die
Kinder. In unseren Magazinen, wie beispielsweise Löwenzahn,
finden sie oft mehr an Information, als sie schnell, im Vorübergehen
der Bilder, aufnehmen können. Aber wir wissen: Jeder nimmt
sich heraus, was ihn besonders interessiert. Der eine die Details,
die überraschenden Sachinformationen am Rande, mit denen man
renommieren kann, der andere erfasst den großen Zusammenhang.
Mancher wird versuchen, das Erfahrene zu reproduzieren, es in das
Gespräch mit Familie und Freunden einzubringen, in der Schule
nachzufragen, in einem Buch nachzulesen. Bei anderen entsteht plötzlich
ein Interesse an einem Thema und sie werden versuchen, das Gesehene
im Internet zu vertiefen oder mit einer CD-Rom weiter zu bearbeiten.
3. Wir fordern die
Kinder, wenn wir bei 1,2 oder 3 Fragen stellen, die schwer
sind. Schauen Sie mal rein - Sie werden nicht alles beantworten
können. Oder wissen Sie, wonach alle Galionsfiguren benannt
sind oder wie sich Krokodile verständigen? Kinder hassen es,
wenn man sie unterfordert - sie verstehen das als Unterschätzung.
Wenn man ihnen im Quiz zu leichte Fragen stellt und sie gewinnen,
dann freuen sich vielleicht einige, aber viele sind beleidigt, weil
ihre Fähigkeiten und Kenntnisse nicht gewürdigt werden.
4. Wir muten den
Kindern etwas zu. Man kann Kinder nicht abschotten von
einer Realität, die bedrohlich ist. Sie bekommen mit, wenn
Terroristen das World Trade Center in Schutt und Asche legen, wenn
Krieg in Afghanistan ist, ein Flugzeug - voll mit Kindern - mit
einem anderen zusammenstößt oder wenn die Flut den Menschen
Haus und Hof wegreißt. Seuchen, sexueller Missbrauch, Kindermord,
Amokläufer - Themen, die man Kindern eigentlich nicht zumuten
möchte (als Mutter weiß ich das). Aber dann müsste
man sie einsperren - ohne Kontakt zur Außenwelt und ohne Medien.
Eine Illusion. Deshalb meinen wir: Auch Kinder müssen die Gelegenheit
haben, sich mit solchen Themen auseinander zu setzen. Beispielsweise
in unserer Kindernachrichtensendung logo! Wir sprechen die Themen
an, wir zeigen auch die Bilder - aber nicht die schrecklichsten,
die voyeuristischen, nur die, die man zum Verstehen braucht. Und
wir versuchen immer wieder zu erklären, wo der Hass herkommt,
wie Katastrophen entstehen, wie man sich schützen kann - Informationen
gegen die Angst. Aber dazu muss man den Kindern die Realität
zumuten.
5. Wir nehmen Kinder
ernst. Wir interessieren uns für ihre Meinungen
und geben ihnen Gelegenheit, diese zu äußern. Wir greifen
die Themen auf, die sie sich wünschen, und beantworten ihre
Fragen. Wir reden nicht onkel- oder tantenhaft auf sie herunter,
sondern sprechen mit ihnen, wie mit normalen Menschen - denn das
sind sie.
6. Wir respektieren
Kinder und ihre Gefühle, Wünsche, Träume,
Hoffnungen, Fantasien. Kindheit ist vom Lernen geprägt. Aber
das vollzieht sich nicht nur kognitiv, sondern auch intuitiv, über
Emotionen und eigene soziale Erfahrungen. Wir erzählen Geschichten
von Familien, friedlichen und konfliktbeladenen, von Freundschaften,
und davon, wie sie wachsen, wie sie kaputt gehen und wie man sie
retten kann. Von Wut und Verzweiflung, von Gewinnen und Verlieren,
von starken Mädchen und von Jungen, die Schwäche zeigen
dürfen, von erster Liebe, Liebeskummer und Einsamkeit, von
Mut und Angst, von Erfolg und Misserfolg und wie man damit umgeht.
In fiktionalen Programmen wie Achterbahn, oder einem Erzählmagazin
wie Siebenstein - immer geht es darum, dass Kinder Identifikationsfiguren
finden, die ihnen in ihrer Entwicklung helfen.
Wenn wir Kindern Angebote machen, sie fordern, ihnen etwas zutrauen,
ihnen auch etwas zumuten, sie respektieren - dann fördern wir
sie auch. Schließlich wird es immer schwieriger für Kinder,
beim Spiel auf der Straße, im Gespräch und im gemeinsamen
Erleben mit Eltern und Großeltern ihre Erfahrungen zu machen.
Diesen wichtigen Prozess können wir nicht ersetzen, aber wir
können ihn medial, quasi mit Erfahrungen aus zweiter Hand,
unterstützen.
Achterbahn - Fernweh
Im Dreiecksverhältnis zwischen Markt, Öffentlichkeit und
Kindern liegt unsere Priorität also eindeutig bei den Kindern.
Natürlich ist es uns auch wichtig, dass unsere Arbeit wertgeschätzt
wird, dass sie von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, dass
wir Reputation und gute Kritiken haben. Aber unsere Erfahrung ist:
Genau das bekommen wir, wenn wir unserer Leitlinie "Zuerst
die Kinder" konsequent folgen. Unsere Sendungen sind vielfach
ausgezeichnet worden - mit Kinderfilm- und Fernsehpreisen aus aller
Welt. Dort liegt also nicht das Problem. Die Schwierigkeit mit der
Öffentlichkeit ist - zumindest in Deutschland: Das Interesse
am Kinderprogramm ist eher klein. Eine Kinderfernsehkritik gibt
es kaum. Kinderprogramm rückt eigentlich immer nur dann in
den Fokus, wenn wieder einmal eine Untersuchung über die Schädlichkeit
des Fernsehens veröffentlicht wird oder wenn nach Ereignissen
wie dem Amoklauf in Erfurt der negative Einfluss der Medien thematisiert
wird. Dabei wird dann leider häufig völlig undifferenziert
diskutiert. Allzu leicht wird dann von der "Öffentlichkeit"
dem Fernsehen generell die Schuld dafür zugewiesen, dass Kinder
aufsässig, unkonzentriert, laut oder aggressiv sind, oder dass
sie in ihrer Entwicklung - sprachlich, motorisch, sozial und emotional
- zurückbleiben. Nach dem Pisa-Schock ist diese Diskussion
gerade wieder neu entflammt. Wir können immer nur darauf hinweisen,
dass unser Kinderprogramm ganz sicher nicht für Probleme von
Kindern verantwortlich gemacht werden, sondern dass es im Gegenteil
manchen Kindern helfen kann, in ihrer Entwicklung voranzukommen.
Und dass das Fernsehen den Eltern nicht ihre Verantwortung abnehmen
kann!
Und der Markt? Der spielt bei uns glücklicherweise nicht die
Hauptrolle. Natürlich ist es auch für uns wichtig, dass
wir mit unseren Sendungen bei Kindern erfolgreich sind, aber die
Quote ist nicht das einzige Kriterium für Erfolg. Unser Kinderprogramm
ist werbefrei - wir können und dürfen also unsere Sendungen
auf die Bedürfnisse der Kinder abstellen und müssen nicht
die Bedürfnisse der werbetreibenden Industrie berücksichtigen.
Merchandising und Licensing sind für uns eher Elemente des
Programm-Marketing als Mittel der Refinanzierung. Und nicht zuletzt:
Bisher hatten wir auf dem internationalen Markt keine Probleme.
Wenn wir ein Programm wirklich haben wollen (und es uns leisten
können), dann bekommen wir es in der Regel auch. Das ZDF ist
für viele Anbieter weltweit ein anerkannter und respektierter
Partner. Mit der zusätzlichen Möglichkeit der Ausstrahlung
von Sendungen im Kinderkanal können wir das Programm zeitgemäß
planen (z.B. "Stripping") und so die notwendige Aufmerksamkeit
für eine neue Sendung erreichen.
Löwenzahn
Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Uns in Deutschland geht es damit
noch ziemlich gut. Wir verfügen über ein breites öffentlich-rechtliches
Kinderprogrammangebot, das mit der Existenz des Kinderkanals konkurrenzfähig
ist. Wir sind per Gesetz werbefrei und werden durch Gebühren
finanziert. Ähnlich gut sieht es im europäische Maßstab
eigentlich nur in Skandinavien und in Holland aus. Dort hat man
zwar weniger Geld, aber Kinderprogramm hat eine viel höhere
gesellschaftliche Akzeptanz als bei uns, und es wird in diesen Ländern
nach wie vor am frühen Abend, also zur Familienfernsehzeit,
gesendet. Aber auch dort beginnt der internationale Einfluss: Nach
Skandinavien strahlen inzwischen auch die globalen Unternehmen per
Satellit ein. In England ist die Situation auch immer noch ganz
ordentlich. Obwohl die Konkurrenz außerordentlich groß
ist, hat die BBC nach wie vor eine herausragende Position. Sie hat
das größte Budget aller Public Service Broadcaster, hat
jetzt zwei digitale Kanäle gegründet und hat aufgrund
einer nationalen Quotierung einen hohen Anteil von Programm, das
die kulturelle Identität der Kinder in England widerspiegelt.
Im Süden Europas hingegen besteht auch öffentlich-rechtliches
Kinderprogramm ausschließlich aus Zeichentrickserien - der
einzige Unterschied zu den konkurrierenden nationalen und internationalen
kommerziellen Sendern ist das eingeblendete Logo. In vielen Ländern
im Süden und auch in Osteuropa hat der Markt das nationale
Kinderprogramm zerstört, die Kinderprogrammredaktionen werden
immer weiter verkleinert (auch in Ländern mit großer
Tradition wie Tschechien und die Slowakei) und die Kinderprogrammgestaltung
obliegt den Einkäufern und Planern. Also: in Deutschland nur
wenig Grund zum Jammern.
Achterbahn - Die Spezialistenshow
Natürlich: Kinderprogramm "reist"
besonders gut, vor allem die beliebten Trickserien. Kinder auf der
ganzen Welt machen die gleichen Entwicklungsphasen durch, haben
die gleichen Wünsche und Fantasien. Und: Kinderprogramm ist
auf der ganzen Welt unterfinanziert. Kein Sender könnte es
sich leisten, nur selbst hergestelltes Programm zu senden. Fast
alle sind darauf angewiesen, Programm dazuzukaufen. Wir brauchen
also den Markt, damit wir den Kindern auch opulent produziertes
Programm anbieten können. So hat sich eine große Kinderprogrammindustrie
herausgebildet, die sich darum bemühen muss, ihre Programme
so stromlinienförmig zu machen, dass sie den Geschmack möglichst
vieler Kunden treffen. Das führt nicht gerade zu programmlichem
Reichtum, sondern vor allem zu Serien mit austauschbaren Geschichten
und Figuren. Wenn einer einen Trend kreiert hat, (man denke nur
an den etwas schrägeren Zeichentrick à la Nickelodeon
oder an die Teletubbies), gibt es spätestens nach einem halben
Jahr viele neue Formate, die diesem Trend nacheifern. Geschichten
und Sendungen, die die Lebensrealität von Kindern in ihrer
jeweiligen Heimat und Lebenszeit reflektieren, bleiben die Ausnahme.
Verstärkt wird die Tendenz noch dadurch, dass sich die großen
Kinderprogrammproduzenten auch gleich noch ihre eigenen Abspielstätten
schaffen. In allen Regionen dieser Welt gibt es Ableger von Nickelodeon,
Disney und anderen. Zwar setzt sich mehr und mehr die Philosophie
"think global, act local" durch - und so berücksichtigen
auch diese Kanäle teilweise den jeweiligen nationalen und kulturellen
Hintergrund - dennoch bleibt eine gewisse programmliche Beschränktheit
und Uniformität.
So schafft der Markt letztendlich auch Chancen und Aufgaben für
das "public" Fernsehen für Kinder: Wir müssen,
wollen und können die Defizite ausgleichen, die beim kommerziellen
Fernsehen mehr oder weniger zwangsläufig entstehen.
DIE AUTORIN |
Susanne Müller ist Leiterin des Programmbereichs
Kinder und Jugend beim Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) in Mainz.
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