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Heinz Hengst
Zur Verselbstständigung
der
kommerziellen Kinderkultur
Für ein angemessenes Verständnis
muss Kinderkultur in größeren Zusammenhängen des
soziokulturellen Wandels gesehen werden: Der Konsum von Kindern
ist zum typischen Teil der Ausbildung und Demonstration von Identität
geworden. Der Markt präsentiert sich hierfür zunehmend
entkindlicht. Kinderkultur wird "eher alt" und orientiert
sich an Normen und Konsumstilen von Jugendlichen. Die Absatzmärkte
für Kinder entpädagogisieren sich, gleichzeitig werden
andere Märkte ausgebaut, die vorwiegend auf Eltern und den
Ausbildungsmarkt zielen.
Die Zeitschrift "Childhood"
stellte jüngst eine qualitative Studie über die Fernsehvorlieben
fünfjähriger norwegischer Kinder vor (Hake 2001). Es handelt
sich um eine zweifach komparative Untersuchung. Sie bezieht sich
zum einen auf jeweils eine Serie des staatlichen norwegischen Fernsehens
und eine des Privatfernsehens. Und sie vergleicht zum anderen die
Perspektiven der Kinder mit denen ihrer Eltern. Ein Befund der Studie
ist, dass es - trotz aller Angleichungsprozesse in den letzten zehn
Jahren - immer noch bestimmte Differenzen in den Programmen der
öffentlichen-rechtlichen und der privaten Kanäle gibt,
dass sie auf unterschiedlichen Kindheitsbildern basieren und die
Zielgruppe entsprechend unterschiedlich ansprechen (ebd. S. 438
f.).
Die eher vorsichtige Interpretation der Autorin Karin Hake präsentiert
die nicht ganz unbekannte Interessenkoalition von Kindern und privaten
Anbietern auf der einen, und Eltern mit staatlichem Fernsehen auf
der anderen Seite. In letzterem Fall treffen sich die Koalitionspartner
auf der Ebene von Programmen, die Kinder vor Action und aggressiven
Fernsehinhalten schützen sollen (ebd. S. 439). Die beiden anderen
Koalitionspartner begegnen sich in der Vorstellung, dass Kinder
die Freiheit haben sollten, "eine Welt zu erfahren, die Unsicherheit
und Aufregung (excitement) einschließt" (ebd.). Bezogen
auf das für die Studie ausgewählte kommerzielle Programm
heißt das konkret: Die Kinder identifizieren sich mit einem
frechen Protagonisten, der gegen Autorität rebelliert, sich
mit Erwachsenen anlegt, Grenzen austestet, wie das Fünfjährige
im Alltag auch tun (ebd. S. 433). Ziemlich typisch ist inzwischen,
dass Medienwissenschaftler in Kindern nicht mehr primär verletzliche
und schutzbedürfte Wesen sehen. Entsprechend formuliert Karin
Hake am Schluss einer Passage, in der sie die Vorlieben der Kinder
kritisch würdigt, es gehöre zum Leben und zur Kindheit,
mit unvorhersehbaren Aufregungen konfrontiert zu werden. Und vielleicht
seien Kinder fähiger, mit Risiken und Suspense fertig zu werden,
als Erwachsene oft denken (ebd. S. 437). Auch bei der Elternschaft
ist, folgt man Hakes Kommentar, etwas in Bewegung geraten. Den Eltern
ist bewusst, dass Geschwindigkeit, Excitement, Ausgebufftheit und
Verschlagenheit Kinder faszinieren. Aber auf der anderen Seite gilt:
Die Kinder können vorsichtig überlegtem Handeln und Nettsein
nichts abgewinnen (ebd.). Die Codierung ist klar: Die Eltern fühlen
sich für die moralische Erziehung ihrer Kinder verantwortlich,
für die Kinder steht ihre wachsende Autonomie auf dem Spiel.
Allerdings stellt sich die Frage, ob mit dem Fernsehen nicht doch
ein Nebenschauplatz des Aushandelns von Autonomiespielräumen
avisiert wird.
Auflösung traditioneller Dualismen
Die Kinder der Gegenwart haben Zugang zu
einer komplexen, aus sehr heterogenen Strukturen und Elementen zusammengesetzten,
globalisierten Medienwelt. Sie spielt anders in ihre Bedeutungskonstruktionen
und Autonomiebestrebungen hinein als die dominierenden Medien und
kleinen Medienensembles einer gar nicht so fernen Vergangenheit.
Verändert haben sich auch Übereinstimmungen und Unterschiede
in den - weit gefasst - Medienerfahrungen verschiedener Bevölkerungs-
und Altersgruppen. Man kann z.B. nicht mehr einfach davon ausgehen,
die Erfahrungen von Kindern würden am besten erfasst, wenn
man sie unter Bezugnahme auf die traditionelle Kind-Erwachsenen-Differenz
analysiert - oder den tatsächlichen elterlichen Einfluss auf
die Medienaktivitäten von Kindern auf die Ausübung der
Elternrolle reduziert. Die Eltern heutiger Kinder sind bereits selbst
mit den Medien und einer expandierenden Konsumkultur aufgewachsen.
Das kommt sowohl in ihren alltäglichen kulturellen Praktiken
zum Ausdruck wie in ihren Interventionen in die Kinderkultur. Zu
den zentralen Bedeutungskonstruktionen heutiger Kinder stößt
man am ehesten dann vor, wenn man einen weiteren Horizont wählt,
wenn man ihre Erfahrungen nicht nur unter bloßer oder primärer
Bezugnahme auf die traditionellen Kategorien zu bestimmen sucht.
Das gilt für die Bedeutung von Alterskonzepten ebenso wie für
die Begriffe, mit denen wir Aktivitätsformen und -bereiche
identifizieren bzw. voneinander abgrenzen. Die Differenzen von Kindheit,
Jugend und Erwachsensein sind ebenso ins Fließen geraten wie
die zwischen medialen und nicht-medialen Aktivitäten sowie
von Spielen, Lernen, Konsumieren und Arbeiten.
Es ist sicher richtig, dass in Gegenwartsgesellschaften weiterhin
an der (Re-)Konstituierung einer generationalen Ordnung gearbeitet
wird, also Kindheit in Abgrenzung von, in (einer gewissen) Opposition
zum, Erwachsensein konstruiert wird. Aber es gibt doch auch bemerkenswerte
Entwicklungen, die diese Konstruktionsprozesse unterlaufen bzw.
relativieren, auf die eine oder andere Weise an der oppositionellen
Codierung rütteln, die bis vor ein paar Jahrzehnten ein (wenn
nicht der) Schlüssel zum Verständnis von Kindheit und
Kinderkultur war. Es erscheint mir sinnvoll, in Kinderkulturanalysen
die Erwachsenen-Kind-Differenz aus einer (gemessen an den vorherrschenden
Alltagskonzepten und denen der bisherigen Forschung) dezentrierten
Perspektive zu betrachten. Damit meine ich, dass die Hauptaufmerksamkeit
der Frage gelten sollte, wie sich die Kinder der Gegenwart mit soziokulturellem
Wandel auseinander setzen. In diesem umfassenderen, offenen Rahmen
kann dann (nachgeordnet) die Erwachsenen-Kind- bzw. Eltern-Kind-Differenz
rekonstruiert werden. Was mir vorschwebt, ist gleichermaßen
subjektorientierte wie zeitdiagnostisch sensible Kinderkulturforschung.
Kulturelle Akteure ohne verläßliche
"route map"
Ausgangs- und Angelpunkt meiner Überlegungen
ist die These von der kulturellen bzw. soziokulturellen Freisetzung
heutiger Kinder - und Jugendlicher (Ziehe/Stubenrauch 1982). Das
von mir favorisierte Kinderkulturkonzept zielt auf die Analyse von
(existenziell bedeutsamen) Bedeutungskonstruktionen unter den Bedingungen
(sozio-)kultureller Freisetzung. Ein solches Konzept harmoniert
mit wichtigen Befunden der aktuellen Diskussion gesamtgesellschaftlicher
Transformationen. So sieht der US-amerikanische Sozialtheoretiker
Manuel Castells, dem wir die bisher umfassendste Analyse gegenwärtigen
sozialen Wandels verdanken, die zentrale Herausforderung darin,
dass die Menschen zurzeit ihr Leben ohne "route map" führen
müssen, weil die Konturen neuer sozialer, ökonomischer
und kultureller Bedingungen noch relativ diffus sind (Castells 1998).
(Sozio-)kulturelle Freisetzung bedeutet u.a., dass die Heranwachsenden
heute nicht mehr in traditioneller Manier auf das Wissen und die
Erfahrungen - und damit die Ratgeberkompetenz - Erwachsener zurückgreifen
können und müssen.
Castells denkt bei denen, die ihr Leben ohne "route map"
führen, nicht speziell an Kinder oder Jugendliche. Ich unterstelle
die Geltung seiner Diagnose für tendenziell alle Zeitgenossen.
Auch deshalb taugt sie als Ausgangspunkt für eine Neuorientierung
der (Kindheits- und) Kinderkulturforschung: Der soziale Wandel hat
Kinder und Jugendliche in eine Lage gebracht, die neue Gemeinsamkeiten
und Differenzen mit sich bringt. Nicht zuletzt deswegen ist es problematisch,
in Kindern primär "Nicht-Erwachsene" oder "Noch-nicht-Erwachsene"
zu sehen. Angemessener ist es, sie als Neulinge bzw. "Neuankömmlinge"
in Gesellschaften und Kulturen zu betrachten, in denen auch die
Erwachsenen nicht richtig zu Hause sind. Soziokulturelle Freisetzung
ist ein ambivalentes Phänomen. Sie erweitert das Optionsspektrum,
bedroht aber möglicherweise die Ligaturen, die fest verankerten
kulturellen Bindungen, die Menschen befähigen, sich in der
Welt der Optionen zu behaupten. Es steht außer Frage, dass
der Medien- und Konsumwelt im Zusammenhang mit kultureller Freisetzung
außerordentliche Bedeutung zukommt. In meinem Beitrag versuche
ich (deshalb), neue Erfahrungen heutiger Kinder zum Einfluss von
Markt und Medien in Beziehung zu setzen.
Auf der Suche nach Alternativen zum Kindheitsbegriff
Wer sind die Kinder der Gegenwart? Bei ihren
Versuchen, das kollektive Subjekt der Kindheitsforschung zu bestimmen,
bemühen sozialwissenschaftliche Kindheitsforscher in jüngster
Zeit immer häufiger den Generationenbegriff (vgl. zusammenfassend
Hengst 2002). Im anstehenden Zusammenhang dürfte vor allem
die Vorstellung von Generationen Geburtskohorten interessant sein,
die durch soziokulturelle Merkmale, durch spezifische "(Lebens-)Orientierungen,
Einstellungen und Stile", nicht zuletzt durch ihren Umgang
mit Medien, Technik und Konsumgütern charakterisiert sind.
In den Medien und in (populär-)wissenschaftlichen Beiträgen
werden in diesem Sinne inflationär und mit wachsender Beschleunigung
des Umschlags der Etiketten Medien- und Konsumgenerationen kreiert.
Die Palette reicht von der Fernsehgeneration über die Computer-,
Nintendo-, Tamagotchigeneration bis hin zur Netz- und Cybergeneration
und zur Generation @.
Es liegt auf der Hand, dass der gemeinsame Umgang von Geburtskohorten
oder Altersgruppen mit dominierenden bzw. neuen Medien oder Medienangeboten
allein nicht für eine Etikettierung als Generation ausreicht.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn in seriöseren Auseinandersetzungen
mit soziokulturellem Wandel als einem Prozess der Mediatisierung
keine Fixierung auf einzelne Medien und Innovationen in der - weit
gefasst - Medienkultur erfolgt. In einschlägigen Arbeiten wird
deutlich, wie schwierig es ist, neue Selektions-, Wahrnehmungs-
und Verarbeitungsmuster zu identifizieren und Kollektiven im Sinne
des Generationsansatzes zuzuordnen. Schulze (1992), Kellner (1997)
und Baacke (1999) gehen beispielsweise - trotz aller sonstigen Unterschiede
- übereinstimmend davon aus, dass die relevanten Veränderungen
in der Medienlandschaft bereits in den 50er- bzw. 60er-Jahren beginnen
(und eine schleichende Revolution einleiten). Andere Autoren heben
hervor, dass die Veränderungen, die Medien und kommerzielle
Kultur in den letzten Jahrzehnten forciert und getragen haben, nicht
zu unterscheidbaren Generationen geführt haben, sondern zur
diffusen Identität einer neuen Jugendlichkeit. Gleichzeitig
wird in jüngster Zeit zunehmend Zersplitterung konstatiert:
dass Differenzierungs-, Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse
zunehmen und übergreifende kulturelle Orientierungslinien sich
in einer Vielzahl von Hinwendungen (zu medien- und kommerzkulturellen
Phänomenen) verlieren, deren Dauer und Stabilität aber
offensichtlich spürbar abnimmt (vgl. Baacke 1999 S. 139).
Solche Einschätzungen legen den Schluss nahe, dass man den
Generationenbegriff eher als Suchbegriff, denn als erklärenden
Begriff verwenden sollte. Die einschlägige Forschung zeigt,
dass er vielfach durch die These von einer neuen diffusen Jugendlichkeit
ersetzt wird. Bereits in den 80er-Jahren notierte Hans-Jürgen
Wirth: "Wir befinden uns 'auf dem Weg zur adoleszenten Gesellschaft'."
(Wirth 1984 S. 71) In der anglophonen Forschung ist von "elastic
adolescence" (Mackay 1997) und von "extended youth"
(Wood 1999) die Rede. Gemeinsam ist diesen Diagnosen - besonders
deutlich bei Wirth - eine Ablösung der Adoleszenzvorstellung
von einer Altersphase und ihre Umwandlung in eine Attitüde,
einen Habitus, einen Lebensstil, eine Lebensform. Wie immer man
zu solchen Einschätzungen steht: Es gibt genügend empirische
Hinweise dafür, dass es sich lohnt, die Bedeutungskonstruktionen
derer, die wir Kinder nennen, vor allem unter Bezugnahme auf die
Vorstellung zu beobachten, dass sich die Jugendkultur nicht nur
biografisch nach oben (ins Erwachsenenalter) geöffnet, sondern
auch nach unten (ins Kindesalter) ausgebreitet hat.
Kulturelle Aufladung der Konsumwelt
In der aktuellen Diskussion werden zeitgenössische
Gesellschaften in der Ersten Welt nicht selten als Konsumkultur(en)
identifiziert (vgl. u.a. Featherstone 1991; Slater 1997). Mit diesem
Begriff wird zunächst einmal unterstellt, dass charakteristische
soziale Praktiken und kulturelle Werte, Ideen, Bestrebungen und
Identitäten heute eher einen Bezug zum Konsum aufweisen als
zur Arbeitswelt. Er verweist nicht nur auf den Warencharakter kultureller
Güter, sondern vor allem auch darauf, dass die meisten kulturellen
Aktivitäten heute durch Konsum vermittelt sind. Vor allem betont
der Begriff den symbolischen Aspekt von Gütern und die Modi
ihrer kommunikativen Nutzung. Um es auf eine Kurzformel zu bringen:
Der Begriff Konsumkultur steht für eine Verschiebung vom materiellen
Gebrauchswert zum Zeichenwert kultureller Güter. Symbolischer
Konsum ist typisch für die Art und Weise, in der die Menschen
heute ihre Identitäten ausbilden und demonstrieren. Wobei mit
Identität das Gefühl dafür gemeint ist, wer wir sind
und wie wir uns auf andere und den kulturellen und sozialen Kontext
beziehen, in dem wir leben. Medienangebote und andere kulturelle
Güter sind bei der Identitätsarbeit von herausragender
Bedeutung. Sie sind zentrale Bestandteile in den Strategien sozialer
Distinktion.
Symbolischer
Konsum
ist typisch für
die Art und Weise,
in der die Menschen heute
ihre Identitäten ausbilden
und demonstrieren
Man kann die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten
als eine Phase der kulturellen Aufladung der Konsumwelt lesen, die
mit deren wachsender Bedeutung für die Identitätsarbeit
korrespondierte. Augenfälliges Beispiel einer Kulturalisierung
sind die gegenwärtigen Erscheinungsformen der Werbung. Auf
der einen Seite verfolgen die Werbetreibenden mit ihren Darstellungen
in aller Regel eindeutig instrumentelle Absichten. Dennoch sind
diese Darstellungen im engeren Sinn kulturell. Die Menschen gehen
mit ihnen sehr häufig nicht anders um wie mit Filmen und Romanen,
und zwar nicht ohne Grund; denn die Werbung bietet - wie verzerrt
und ideologisiert auch immer - Geschichten darüber an, wie
man leben sollte, Geschichten, die sich auf gemeinsame Identitätsvorstellungen
beziehen, die Selbstkonzepte berühren, Bilder von gelingenden
menschlichen Beziehungen, von Erfüllung und Glück entwerfen.
Solche Geschichten, so kann man zusammenfassend mit John Tomlinson
(1999) sagen, konfrontieren die Menschen mit "existenziell
bedeutsamen" Bedeutungen. Und eben diese existenziell wichtigen
Bedeutungen sind das Spezifikum der kulturellen Dimension. Fast
erübrigt sich der Hinweis, dass der Begriff Werbung mittlerweile
hinter der tatsächlichen Entwicklung in Richtung einer "promotional
culture" zurückbleibt, die aus einer Vielzahl heterogener
Elemente zusammengesetzt ist, und in der jedes Element für
jedes andere sowohl zum Werbeträger als auch zur Ressource
für die individuelle und kollektive Identitätsarbeit werden
kann. Auch wegen dieses hybriden Charakters der Konsumkultur ist
der Konsument heute schwer zu identifizieren. Folgt man einer Typologie
von Gabriel und Lang, so ist er in Alltagsdiskursen, denen der Wissenschaftler
und denen der Verbraucherorganisationen, als Wählender, als
Kommunikator, als Forschender, als Identitätssuchender, als
Hedonist oder Künstler, als Opfer, als Rebell und als Bürger
identifizierbar (Gabriel, Lang, 1995). Es gibt keinen Grund, sich
den zeitgenössischen Konsumenten Kind nicht ähnlich vielgestaltig
vorzustellen.
Kindheit als Konsumlaufbahn
Konsum ist den Kindern der Gegenwart zur
zweiten Natur geworden. Der Stichwortkatalog, mit dem sich das untermauern
lässt, ist lang. Die Kinder der Gegenwart sind Käufer,
Multiplikatoren, (manchmal) Aktionäre, - sehr häufig -
Sparer und manchmal Schuldner. Auch darüber hinaus sind sie
Adressaten einer Vielzahl von Dienstleistungen - nicht zuletzt von
Kreditinstituten und Versicherungen. Sie sind in mannigfache Diskurse
involviert, die mit diesen Gegenständen, Aktivitäten und
Zugehörigkeiten zusammenhängen. Und sie treten immer häufiger
auf ganz unterschiedlichen sozialen Bühnen in Erscheinung.
Ihr Tun kann im Übrigen nicht mehr ohne weiteres der Produktions-
oder der Konsumseite zugeordnet werden.
Die Konsumlaufbahn tendenziell aller Kinder - auch als Erfahrung
mit Warenumschlagplätzen - beginnt im Babyalter. In historischer
Perspektive werden vor allem drei signifikante Veränderungen
von Kinderkultur als Konsumkultur erkennbar:
- eine zunehmende Verallgemeinerung
und Multiplizierung von Medien- und Konsumerfahrungen
- eine durchgreifende Tendenz der
Verjüngung und
- ein Prozess der Enthierarchisierung
alterstypischer Aneignungsformen.
Die
Konsumlaufbahn
tendenziell aller Kinder -
auch als Erfahrung
mit Warenumschlagplätzen -
beginnt im Babyalter
Diese Entwicklungen bedeuten nicht, dass
Medien- und Konsumgütermarkt Kinder als eine spezifische Zielgruppe
einfach verabschiedet hätten. Sie bedeutet auch nicht, dass
die Marktfraktion die traditionellen Kategorien zur Binnendifferenzierung
von Kindheit - also Alter und Geschlecht - einfach über Bord
wirft. Aber in dem neuen, an Marktinteressen orientierten Skript
hat die teleologische Komponente, die Vorstellung von kultureller
Weiterentwicklung als Höherentwicklung und entsprechend qualitativ
unterschiedenem Erwachsensein keine Bedeutung mehr. Es unterscheidet
Konsumenten mit viel und wenig Kaufkraft, mit langer und weniger
langer Lebenserwartung, mit größerem oder geringerem
Einfluss auf Kaufentscheidungen. Es kennt Kinder als Zielgruppe
mit durchaus spezifischen, aber prinzipiell denen der Erwachsenen
gleichwertigen Bedürfnissen und Interessen. Auf solchen Kriterien
basieren die Versuche, Kinder als Markt zu definieren und entsprechend
zu segmentieren (vgl. Hengst 2001).
Markttendenz: Entkindlichte Ansprache
Forschungsaktivitäten und Marktstrategien
der großen Konzerne zielen seit ein paar Jahrzehnten vor allem
darauf ab, Kinder (als Konsumenten) zunehmend unabhängiger
von Eltern und Erwachsenen zu machen. Die dominierende Strategie
sieht so aus, dass Kinder auf der einen Seite überlegt als
Nicht-Erwachsene angesprochen werden, den an sie adressierten Angeboten
aber gleichzeitig das Prädikat "entkindlicht" verliehen
wird. Das heißt: Medien- und Konsumindustrien setzen auf die
Betonung einer nicht-hierarchischen Differenz zwischen Kindern und
Erwachsenen. Entkindlicht meint vor allem: entschult und entpädagogisiert
(vgl. Hengst 1996). An die Stelle der Noch-nicht-Erwachsenen sind
im Kindheitsbild der in zunehmendem Maße reflexiven Industrien
in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts kulturelle
Akteure getreten, deren Spiele, Vergnügungen und Wünsche
ernst genommen werden. Die Industrien erforschen und mobilisieren
durch ihre Inszenierungen das kulturelle und soziale Kapital, mit
dem Kinder in den pädagogisch verdünnten Zonen des Alltags
arbeiten.
Entkindlicht
meint
vor allem: entschult
und entpädagogisiert
Wenn es darum geht, Kinder in diesem Sinne
als gleichermaßen entkindlichte wie nicht-erwachsene kulturelle
Akteure in die Welt des Konsums zu involvieren, dann ist die Forderung
nur konsequent, Produktplaner und -entwickler müssten unter
Kindern leben, um verstehen zu lernen, was diese erregt, ihnen gefällt
und sie glücklich macht (McNeal, 1992). Diese Forderung entspricht
inzwischen einer weit verbreiteten und in immer wieder neuen Varianten
ausprobierten Praxis. Entscheidend anders als noch vor ein paar
Jahrzehnten ist, dass schon vor der Produktentwicklung zusammen
mit Kindern und Jugendlichen neue Angebote erarbeitet werden (Slogan:
"By kids, for kids"). Die Verantwortlichen arbeiten in
vielen Branchen mit Kindern und Jugendlichen bei der Produktion
von Spielzeugen, Sportartikeln, Kleidung, Computersoftware und Musiktiteln,
der Planung von Fernsehserien und der Konzeption von Programmen
fürs Internet zusammen. Dabei setzen sie nicht selten auf "Trend-Scouts",
"Trend-Spotters", "Change Agents" und "Coolness
Hunters". An solchen Praktiken lässt sich ein Skriptwechsel
in biografischer Perspektive sehr gut verdeutlichen: Maßstab
für Interventionen in die Kinderkultur sind nicht mehr Vorstellungen
davon, was Kinder künftig als Arbeitende, Eltern und Bürger
handlungsfähig macht, sondern der Kinder gegenwärtige
Geschmacksvorlieben, Interessen, Sozialformen, Handlungsspielräume
und die ihnen konsum-mental nahestehender Altersgruppen, vor allem
Jugendlicher und junger Erwachsener.
Markttendenz: Doppelstrategie der Anpassung
an Globalisierungs- und Individualisierungsprozesse
Zu beobachten ist bei den Aktivitäten
derer, die den Markt machen, eine Doppelstrategie der Anpassung
an Globalisierungs- und Individualisierungsprozesse. Diese zielt
einerseits auf Segmentierung und Mikromarketing ab, setzt andererseits
auf Konstanten bzw. neue Gemeinsamkeiten beim Zielgruppenmarketing.
Das führt dazu, dass die Kinder- und Jugendkultur zunehmend
von nationalen und sozioökonomischen Strukturen abgelöst
wird, Geschmäcker, Vorlieben und Praktiken sich innerhalb einer
Gesellschaft ausdifferenzieren, sich aber gleichzeitig nationen-
und kulturübergreifend ausbreiten. Den Rahmen, in dem diese
Gemeinsamkeiten zunehmend gedacht und konstruiert werden, indizieren
seit Beginn der 90er-Jahre Begriffe wie "global generation",
"global teenager" und "global child". Zielgruppe
aller Bemühungen derer, die den Markt machen, ist - so könnte
man sagen - eine zweifach erweiterte Peer-Group. Die eine Erweiterung
betrifft - wie bereits erwähnt - die Altersspanne (eingeschlossen
deren Umdeutung zu einer jugendlichen Lebensform oder doch jugendlichen
Einstellungen und Haltungen), die andere deren Verteilung über
den gesamten Globus.
Markttendenz: Verjugendlichung der Kindermedienkultur
Interessant sind bestimmte Implikationen
der Verjüngung, die man nur im Medienbereich beobachten kann.
Vor ein paar Jahren notierten die Zeitungen Absatzprobleme bei Europas
größtem Spielzeughersteller, dem Lego-Konzern. Erklärt
wurde die negative Entwicklung mit einer Umorientierung der Kinder.
Die Kinder der 90er-Jahre, so argumentierten Vertreter des Lego-Konzerns,
werden "eher alt". Gemeint war mit dieser Einschätzung
nicht nur, dass Kinder in immer jüngeren Jahren die Plastiksteine
aus Legoland verschmähen, sondern dass sie viel früher
als ihre Altersgenossen in den 70er-Jahren "erwachsenes Konsumverhalten"
an den Tag legen. Um vier Jahre - so genau glaubte man das im dänischen
Billund zu wissen - sei das Spielalter innerhalb von zwei Generationen
gefallen. Die Lego-Verantwortlichen unterstellen mit dieser Deutung
so etwas wie eine Mutation ehemaliger Spiel(zeug)kinder zu Konsumenten.
Sie passt zu einer Vielzahl von Befunden, die entweder pauschal
anmerken, dass Zehnjährige heute bereits Jugendliche seien,
oder die ganz konkret z.B. das Jüngerwerden von BRAVO-Leserinnen
und Lesern belegen. Erstaunen dürfte dieser Verjüngungsprozess
eigentlich nicht. Das Etikett Spielzeug trifft - schaut man genauer
hin - auf viele Produkte der kommerziellen Kinderkultur seit den
70er-Jahren nicht mehr zu. Vermarktet und von den Kindern angeeignet
werden seit dieser Zeit vielfach multimediale, für sämtliche
Sinne und Wahrnehmungskanäle aufbereitete Themen und Stil-Pakete.
Man erfasst ihre Bedeutung nicht (weder die für die Kinder
noch die für die Marktentwicklung), wenn man einzelne Elemente
aus diesen multimedialen Kontexten herauslöst. Dazu kommt,
dass vielfach - etwa auf den Weihnachtswunschlisten der Fünf-
bis Zwölfjährigen - schon zu Beginn der 90er-Jahre Kleidung,
Bücher und Fahrräder die konventionellen Spielzeuge in
den entwickelten Konsumgesellschaften des Westens (Japan eingeschlossen)
zurückgedrängt haben. Fakt ist, dass die Kinder der Gegenwart
zunehmend Medienangebote, Musikgruppen, Sportmoden etc. favorisieren,
mit denen man noch vor wenigen Jahrzehnten die Interessen Jugendlicher
assoziiert hätte.
Die
Kinder
der 90er-Jahre
werden "eher alt"
Eine für Kinder als Kollektiv charakteristische,
für die Identitätsarbeit relevante Komponente der Verjüngung
lässt sich am Beispiel der Ergebnisse einer Studie von Dominique
Pasquier verdeutlichen. Sie hat die Frage untersucht, wie Kinder
speziell das Fernsehen nutzen, um personale und soziale Identitäten
zu erkunden. Pasquiers Studie bezieht sich auf Teen-Serien, die
seit Beginn der 90er-Jahre auch im französischen Fernsehen
wachsende Bedeutung erhielten (Pasquier 1996 S. 351 f.). Die von
den Programmverantwortlichen an Teenager adressierten Serien stießen
nicht nur bei ihrer Zielgruppe auf große Resonanz, sondern
wurden zum ausgesprochenen Renner bei sehr viel jüngeren Kindern.
Die Serien avancierten zum bevorzugten Thema der Diskussion in Klassenzimmern,
vor allem bei Grundschulkindern. Besonders die Mädchen dieser
Altersgruppe partizipierten aktiv - und das intertextuelle Material
nutzend - am Kult um die Serien. Sie spielten Rollenspiele, sammelten
und tauschten die Objekte, die im Medienverbund um die Serien auf
dem Markt angeboten wurden und kleideten sich wie die von ihnen
favorisierten Fernseh-Charaktere. Die Studie zeigt (auf der Basis
eines "surveys", von Beobachtung und Interviews sowie
der Analyse von Fanpost), dass die Serien von Kindern dazu verwendet
werden, um Geschlechtsrollen zu erkunden und in Peer-Groups Verhaltensmaßstäbe
zu diskutieren. Die Programme der Serien fungieren dabei als eine
Art neutrales gemeinsames Territorium, das dabei hilft, die eigene
Position zu artikulieren und in der Gruppe auszutesten. Dominique
Pasquier interpretiert die Bedeutung der Serien im Sinne einer romantischen
Initiation, sieht in ihnen gewissermaßen Geburtshelfer bei
einer Art zweiter Geburt, beim Übergang von einer Welt, die
(primär) auf Generationsdifferenzen basiert, zu einer, in der
die Differenzen des Geschlechts im Zentrum stehen. Die Interpretation
ist sensibel für die neuen Herausforderungen, vor die der soziokulturelle
Wandel die Kinder und Teenager der Gegenwart stellt. Sie sind mit
der Notwendigkeit konfrontiert, sich außerhalb der traditionellen
Erziehungs- und Ratgeberinstitutionen Modelle zu suchen, in denen
reale und virtuelle Peer-Groups eine immer wichtigere Rolle spielen.
(In den Medienwelten sind die Peer-Groups zumeist älter als
in den realen.) Die Botschaft - es ist die Botschaft eines Großteils
der von den Medien- und kommerziellen Industrien präsentierten
Angebote - ist klar: Um sein Selbstbild verändern, sich mit
neuen Aspekten arrangieren zu können, ist man auf Gleichaltrige,
auf Freunde angewiesen. Erwachsene können dabei nicht helfen.
Die Art der Aneignung dieser Botschaft durch die Kinder ist eine
Antwort auf die kulturelle Freisetzung aus dem Kindheitsprojekt
der Moderne und der für dieses Projekt charakteristischen kulturellen
Differenz zwischen Erwachsenen und Kindern.
Für ein Verständnis der Verjüngung ist Pasquiers
Kennzeichnung des Themas, das die Rezeption der Serien beherrscht,
als eine im Kern romantische (in puncto Sexualität zurückhaltende)
Initiation nicht zuletzt deswegen interessant, weil die Dominanz
entsprechender Offerten in den Plots, Talks und Bildern die Voraussetzung
dafür ist, dass das Interesse an den Serien biografisch so
weit nach unten reichen kann, wie sich nicht nur in Frankreich zeigt.
So kann beispielsweise Bettina Fritzsche zeigen, wie jüngere
weibliche Boygroup-Fans ihr Fan-Sein als "virtuelle Verhandlung
heterosexueller Beziehungen" beschreiben (Fritzsche 2003).
Ihre Interpretation geht dahin, dass die Mädchen die Gefühle
von Verliebtheit und Begehren kennen lernen möchten, ohne die
Risiken von Beziehungen eingehen zu müssen.
An solchen Beispielen werden ansatzweise wichtige Implikationen
der Verjüngung als Verjugendlichung der Kinderkultur, also
signifikanter, für die Identitätsarbeit wichtiger Bedeutungskonstruktionen
von Kindern, deutlich. Es zeigt sich, inwiefern und in welchem Maße
es sinnvoll ist, eine starre Trennung von Kinder- und Jugend(kultur)
aufzugeben, dass sie aber nicht so verstanden werden darf, als gäbe
es in bestimmten Umgebungen keine wesentlichen Unterschiede in den
Konsum- und Mediengewohnheiten von Kindern und Jugendlichen. Es
kann nicht darum gehen, Unterschiede zwischen 6- und 16-Jährigen
einfach aufzulösen. Es ist nur so - wie auch die Studie Pasquiers
zeigt -, dass die traditionellen Grenzen verschwimmen und man deshalb
dem Einfluss der kulturellen Stile und Gewohnheiten von Jugendlichen
und jungen Erwachsenen auf die Orientierungen von Kindern größere
Aufmerksamkeit schenken muss als noch vor ein paar Jahrzehnten.
In der
Kinderkultur
dominieren die Normen
und Konsumstile Jugendlicher
und junger Erwachsener
Das Referenzmodell, in dem die Bedeutungskonstruktionen
von Kindern zu untersuchen sind, ist - wie sich nicht nur am Beispiel
von Daily Soaps zeigen lässt eine gemeinsame medienbasierte
Jugendkultur, die in zunehmendem Maße globalisiert wird. Kinder
und Jugendliche nutzen die globalen Medienangebote auf eine Weise,
die das jeweils sie übertragende Medium transzendiert. Sie
verfolgen die Themen, die sie interessieren, intertextuell, via
Fernsehen, Computerspiele, Comics, Internet etc. Das hat gerade
erst wieder eine von Sonia Livingstone und Moira Bovill edierte
vergleichende Untersuchung über "Children and their changing
media environment" gezeigt, die (1997-1998) in zwölf Ländern
(elf europäischen und Israel) realisiert wurde, und in der
15.000 Kinder im Alter von 6 bis 16 Jahren interviewt wurden (Livingstone/Bovill
2001). Aber diese Studie ist auch sensibel für Unterschiede
zwischen Kinder- und Jugend(medien)kultur. Auf der einen Seite werden
Multimedialität, Intertextualität und Globalisierung der
Jugendkultur als integrale Bestandteile der Medienwelten von Kindern
gebührend herausgearbeitet. Auf der anderen Seite wird z.B.
die Rolle des Fernsehens als einer Art altersspezifischen (d.h.
im engeren Sinne kindertypischen) Leitmediums betont. Allerdings
werden wir auch in dieser Studie mit Kinderkultur unter den Bedingungen
einer "adoleszenten Gesellschaft" konfrontiert, also mit
einer Kinderkultur, in der die Normen und Konsumstile Jugendlicher
und junger Erwachsener dominieren.
In einer australischen Studie wurden 5- bis 12-jährige Kinder
gefragt, in welcher Altersgruppe sie sich die Helden ihrer Fernsehfilme
und -serien wünschen. Die meisten Kinder (Mädchen wie
Jungen) sagten, sie sähen am liebsten Altersgleiche, etwas
Ältere, Teenager oder junge Erwachsene. Junge Erwachsene waren
für sie Leute um die 20 Jahre. Es erübrigt sich, nach
dem bereits über die Konstruktion der Publika durch Medien-
und kommerzielle Industrien Gesagten der Hinweis, dass es hier (vorsichtig
formuliert) Übereinstimmungen gibt. Erwähnenswert ist,
dass die interviewten Kinder oft Schwierigkeiten hatten, ihre Vorlieben
für diese Altersgruppen zu begründen. Dass sie ältere
Charaktere vorzogen, erklärten sie oft damit, dass diese besser
spielten, bessere Rollen als Kinder hätten und in der Regel
"more exciting things" täten (Sheldon 1998).
Zum neuen Zuschnitt einer Instrumentalisierung
informellen Lernens
Es gibt einen weiteren, für aktuelle
Veränderungen der Kinderkultur - im Sinne kultureller Freisetzung
aus dem Kindheitsprojekt der Moderne - wichtigen Aspekt, dem bisher
wenig Beachtung geschenkt wurde. Im Zuge der raschen Expansion der
mediatisierten Konsumkultur hat sich ein Angebotsmuster herausgeschält,
das nicht nur durch eine zunehmende Verwischung der Grenzen von
Unterhaltung, Werbung, Konsum und Technik charakterisiert werden
kann, sondern auch Erziehung und Bildung in bisher unbekannter Form
eingemeindet. In dem Zusammenhang ist zunächst einmal anzumerken,
dass an der Diskussion über die neuen Technologien auffällt,
dass ihnen von Vertretern ganz unterschiedlicher Fraktionen der
Erwachsenenwelt ein genuiner Bildungs- bzw. erzieherischer Wert
zugeschrieben wird. Die Computerwelt ist (auch im bildungsbürgerlichen
Lager) positiv besetzt, weil man sie zum einen mit prestigeträchtigen
Arbeitsplätzen in der Hochtechnologie assoziiert, und ihr zum
anderen eine zentrale Rolle dabei zuschreibt, Lehr- und Lernprozesse
unterhaltsamer zu machen. Aus dem "Spielen und Lernen"
bzw. dem spielerischen Lernen im Kinderkulturkonzept der Moderne
ist "Edutainment" (gemacht) worden. Bei der Computer-Werbung
rücken die Firmen sehr häufig von der Opposition zwischen
Kindern und Erwachsenen ab, die sie in den Domänen von Freizeit
und Unterhaltung ansonsten seit ein paar Jahrzehnten kultivieren
(vgl. Hengst 1996). Sie knüpfen an das Muster der Moderne an,
Konsumangebote für Lernprozesse, "self-education"
und "self-improvement" zu instrumentalisieren - bedienen
die Hoffnung der Eltern, auf diese Weise die richtigen Weichen für
die Zukunft ihrer Kinder stellen zu können. Kulturwaren werden
wieder verstärkt wegen der ihnen unterstellten kognitiven und
motivationalen Potenziale an Eltern (und Schulen) verkauft. In dem
Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Absatz-"Revolution"
auf den Märkten der neuen Medien in den 90er-Jahren in ganz
entscheidendem Maße von Familien mit Kindern mitgetragen wurde.
Ähnliches zeigt sich im Zusammenhang mit dem Internet und Online-Diensten.
Die verstärkte Präsenz dieser Technologien und Dienste
in den Schulen erhöht die Nachfrage in den Familien ebenso
wie deren Fehlen. Wenn man sich anschaut, wo und wie Kinder (und
Jugendliche) die einschlägigen Angebote nutzen, und welche
Aktivitäten sie dabei entfalten, dann wird deutlich, dass sie
sich eher auf dem ihnen eigenen - kinder- und jugendkulturellen
- Terrain bewegen als auf dem des schulischen formalen Lernens.
Es hat den Anschein, dass dem Etikett erzieherisch wertvoll (hier)
vor allem die Funktion einer Eintrittskarte in eine digitale Spielwelt
zukommt.
Empowerment-Effekte der kommerziellen
Kultur
Ein vorläufiges Fazit zum Status quo
der Kinderkultur muss zumindest zweierlei festhalten:
Erstens: Für Kinder, die heute in den globalisierten Konsum-
und Dienstleistungsgesellschaften des Westens aufwachsen, bedeutet
der Zugang zum Medienmarkt und zur kommerziellen Kultur eine Befreiung
aus traditionellen (pädagogischen) Abhängigkeiten, Beengtheiten,
Erwachsenenkontrollen und eine Öffnung zu den universellen
Mustern der einen Konsumkultur. Die Offerten des populären
Marktes sind vor allem interessant, weil sie 1. einen im "Ärgernis
der Kindheit" begründeten Wunsch nach einer (utopischen)
Freiheit von Erwachsenenautorität, Zukunftsorientierung etc.
thematisch aufgreifen und immer wieder neu inszenieren, und weil
2. die neuen Zeichenwelten (Entwicklung von der Dominanz diskursiver
zur Dominanz "präsentativer" Symbole) sowie die neuen
Technologien, Transportkanäle, Spiel- und Sportgeräte,
die Zugriffs- und Kontrollmöglichkeiten der Kinder erheblich
erweitern.
Der - wenn man so will - "historische Kompromiss" zwischen
dem Marktprojekt und dem der Kinder - ihr Bündnis gegen das
Erziehungsprojekt - beruht nicht auf symmetrischen Transaktionen.
Kinder und Kulturindustrien sind keine gleich starken Akteure, die
Wechselspiele zwischen kulturindustrieller Steuerung und Sozialisation
in eigener Regie sind nicht ausbalanciert. Der Markt bestimmt weitgehend
die Tagesordnung ("agenda setting"), die Angebotsspektren
und die Rhythmen, nach denen Kulturwaren und Skripts für Medienaktivitäten
und Freizeitgestaltung ausgetauscht werden. Kindergruppen, die sich
zu intensiv auf ein modisches Medienskript eingelassen haben, wissen,
was die erhöhte Umschlagsgeschwindigkeit von popularkulturellen
Moden bedeutet. Selbstständigkeit im Sinne des Kulturprojekts
der Kinder meint so vor allem: unabhängig werden von bzw. Freisetzung
aus den Zumutungen des Erziehungs- und Entwicklungsprojekts. Wir
haben es hier also mit einer Art Semi-Autonomie zu tun.
Kinder
und Kulturindustrien
sind keine
gleich starken Akteure
Mit dieser Stoßrichtung hat sich ein
kollektives Kinderinteresse - an der Erweiterung der Autonomiespielräume
beim Zugriff auf Welt und Umwelt (vgl. Hengst 1996) im letzten Drittel
unseres Jahrhunderts - durchgesetzt, einerseits dank der mächtigen
Bündnispartner Konsum- und Kulturindustrie, wohl aber auch,
weil die Erwachsenen heute selbstständigere Kinder brauchen
(veränderte Rolle der Frau, kulturelle Freisetzung Erwachsener,
Pluralisierung der Kindheitskontexte). Der Markt hat also einen
säkularen Liberalisierungsprozess verstärkt, indem er
direkten Anschluss an das Kulturprojekt der Kinder herstellte und
aus den Konzessionen an Sinnlichkeit und Eigenregie, die auch dem
bürgerlichen Konzept der Kinderkultur eingeschrieben waren,
ein Programm mit unpädagogischer bis antipädagogischer
Tendenz machte.
Zweitens: Die skizzierte "Befreiung" der Kinderkultur
aus elterlicher und Erwachsenenkontrolle - und damit aus dem bürgerlichen
Kindheitsprojekt - bedeutet selbstverständlich nicht, dass
die (kultur-)pädagogische Fraktion das Terrain völlig
preisgegeben hat. Es finden weiterhin kulturelle Auseinandersetzungen
zwischen den Generationen in den Familien der Gegenwart statt -
unter anderem auf den Bühnen öffentlicher Erziehung. Auch
der Markt versucht weiterhin, das Erziehungsprojekt zu bedienen.
Mit Konsumgütern, Medienangeboten, Spielzeugen werden weiterhin
auf ganz unterschiedlichen Bühnen (in der Familie, in der Schule,
in Jugendhilfeeinrichtungen und in der Kulturpädagogik) Generationskonflikte
und -differenzen ausgedrückt und ausgehandelt. Dass das traditionelle
Kulturkonzept nicht gegenstandslos ist, verhindern z.B. die Aufstiegsorientierungen
vieler Mittelschichteltern und der Distinktionsgewinn, den die Erfahrung
der "feinen Unterschiede" auch in Fragen der außerschulischen
Kinderkultur mit sich bringt. Medien und Konsum bleiben ein wichtiges
Betätigungsfeld für Eltern: aus Gründen der Erziehung,
aus ökonomischen, ethischen, Geschmacks- und Prestigegründen
sowie aus richtigen Einsichten in die selektive Funktion der Bildungsinstitutionen.
Zu bedenken ist nur: Auch diese Intentionen und Konzepte sind integrale
Bestandteile von Marktstrategien.
Die
Industrien
haben drei Absatzmärkte:
die Kinder, die Eltern
und den Ausbildungssektor
Nicht zu übersehen sind gegenwärtig
Aspekte einer friedlichen Koexistenz zwischen den Interessen der
Kinder, denen der Erziehungsfraktion und denen des Marktes. Am deutlichsten
wird sie im Zusammenhang mit den neuen Technologien. Das hängt
damit zusammen, dass - wie erwähnt - in der Computerwelt die
Grenzen von Unterhaltung, Werbung, Konsum, Technik und Erziehung
verschwimmen. De facto sieht es deshalb so aus, dass die Industrien
drei Absatzmärkte haben: die Kinder, die Eltern und den Ausbildungssektor.
Der vielleicht wichtigste Aspekt dieser Entwicklung liegt in einer
Tendenz der Entthronung formalen Lernens als dem Königsweg
des Wissenserwerbs. Wirkliches Lernen, so hört man heute affirmativer
als früher, findet außerhalb der Schule statt. Die Räume,
in denen die Aneignung des globalisierten Medien- und Kulturwarenoutputs
überwiegend stattfindet, sind die eher informellen Netzwerke
von Familien und Peers, sind flexible Arenen privater und öffentlicher
Interessenwahrnehmung. Ganz offensichtlich bedeutet das grundsätzlich
für Kinder und Jugendliche eine Verbesserung ihrer Möglichkeiten
zu individueller und kollektiver Eigenregie. Welche sozialen Gruppen,
welche Kinder von den neuen Möglichkeiten - unter welchen zusätzlichen
Rahmenbedingungen, in welcher Weise - für ihre Bildung profitieren
können, und wie sich dabei Kindheit, die Grenzen zwischen Kindheit
und Jugend sowie Generationenverhältnis und Arbeitsteilung
zwischen den Generationen verändern, das sollte nicht zuletzt
Gegenstand einer zukunftsorientierten Kinderkultur- und Kindheitsforschung
sein.
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DER AUTOR |
Heinz Hengst, Dr. Phil., ist Professor
an der Hochschule Bremen, Fachbereich Sozialwesen und Mitglied des
Instituts für Popularkultur an der Universität Bremen,
seit 1999 Sprecher der Sektion Soziologie der Kindheit in der Deutschen
Gesellschaft für Soziologie.
INFORMATIONEN |
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