Erfahren Sie mehr über das IZI !
Erfahren Sie mehr über das IZI
Die aktuellen Forschungsarbeiten des IZI
Die Liste der Publikationen des IZI
Recherche in der IZI-Datenbank
Der IZI-Veranstaltungskalender
Jobs und Praktika im IZI
Pressemitteilungen des IZI
E-Mail, Post, Fax, Telefon, ...
Sach- und artverwandte Internetangebote
Das englischsprachige Internet-Angebot des IZI
zurück zur Startseite
Publikationen  TELEVIZION   Ausgabe 15/2002/2

 


Text als PDF, 184 KB

Heinz Hengst

Zur Verselbstständigung der

kommerziellen Kinderkultur


Für ein angemessenes Verständnis muss Kinderkultur in größeren Zusammenhängen des soziokulturellen Wandels gesehen werden: Der Konsum von Kindern ist zum typischen Teil der Ausbildung und Demonstration von Identität geworden. Der Markt präsentiert sich hierfür zunehmend entkindlicht. Kinderkultur wird "eher alt" und orientiert sich an Normen und Konsumstilen von Jugendlichen. Die Absatzmärkte für Kinder entpädagogisieren sich, gleichzeitig werden andere Märkte ausgebaut, die vorwiegend auf Eltern und den Ausbildungsmarkt zielen.

Die Zeitschrift "Childhood" stellte jüngst eine qualitative Studie über die Fernsehvorlieben fünfjähriger norwegischer Kinder vor (Hake 2001). Es handelt sich um eine zweifach komparative Untersuchung. Sie bezieht sich zum einen auf jeweils eine Serie des staatlichen norwegischen Fernsehens und eine des Privatfernsehens. Und sie vergleicht zum anderen die Perspektiven der Kinder mit denen ihrer Eltern. Ein Befund der Studie ist, dass es - trotz aller Angleichungsprozesse in den letzten zehn Jahren - immer noch bestimmte Differenzen in den Programmen der öffentlichen-rechtlichen und der privaten Kanäle gibt, dass sie auf unterschiedlichen Kindheitsbildern basieren und die Zielgruppe entsprechend unterschiedlich ansprechen (ebd. S. 438 f.).
Die eher vorsichtige Interpretation der Autorin Karin Hake präsentiert die nicht ganz unbekannte Interessenkoalition von Kindern und privaten Anbietern auf der einen, und Eltern mit staatlichem Fernsehen auf der anderen Seite. In letzterem Fall treffen sich die Koalitionspartner auf der Ebene von Programmen, die Kinder vor Action und aggressiven Fernsehinhalten schützen sollen (ebd. S. 439). Die beiden anderen Koalitionspartner begegnen sich in der Vorstellung, dass Kinder die Freiheit haben sollten, "eine Welt zu erfahren, die Unsicherheit und Aufregung (excitement) einschließt" (ebd.). Bezogen auf das für die Studie ausgewählte kommerzielle Programm heißt das konkret: Die Kinder identifizieren sich mit einem frechen Protagonisten, der gegen Autorität rebelliert, sich mit Erwachsenen anlegt, Grenzen austestet, wie das Fünfjährige im Alltag auch tun (ebd. S. 433). Ziemlich typisch ist inzwischen, dass Medienwissenschaftler in Kindern nicht mehr primär verletzliche und schutzbedürfte Wesen sehen. Entsprechend formuliert Karin Hake am Schluss einer Passage, in der sie die Vorlieben der Kinder kritisch würdigt, es gehöre zum Leben und zur Kindheit, mit unvorhersehbaren Aufregungen konfrontiert zu werden. Und vielleicht seien Kinder fähiger, mit Risiken und Suspense fertig zu werden, als Erwachsene oft denken (ebd. S. 437). Auch bei der Elternschaft ist, folgt man Hakes Kommentar, etwas in Bewegung geraten. Den Eltern ist bewusst, dass Geschwindigkeit, Excitement, Ausgebufftheit und Verschlagenheit Kinder faszinieren. Aber auf der anderen Seite gilt: Die Kinder können vorsichtig überlegtem Handeln und Nettsein nichts abgewinnen (ebd.). Die Codierung ist klar: Die Eltern fühlen sich für die moralische Erziehung ihrer Kinder verantwortlich, für die Kinder steht ihre wachsende Autonomie auf dem Spiel. Allerdings stellt sich die Frage, ob mit dem Fernsehen nicht doch ein Nebenschauplatz des Aushandelns von Autonomiespielräumen avisiert wird.

Auflösung traditioneller Dualismen

Die Kinder der Gegenwart haben Zugang zu einer komplexen, aus sehr heterogenen Strukturen und Elementen zusammengesetzten, globalisierten Medienwelt. Sie spielt anders in ihre Bedeutungskonstruktionen und Autonomiebestrebungen hinein als die dominierenden Medien und kleinen Medienensembles einer gar nicht so fernen Vergangenheit. Verändert haben sich auch Übereinstimmungen und Unterschiede in den - weit gefasst - Medienerfahrungen verschiedener Bevölkerungs- und Altersgruppen. Man kann z.B. nicht mehr einfach davon ausgehen, die Erfahrungen von Kindern würden am besten erfasst, wenn man sie unter Bezugnahme auf die traditionelle Kind-Erwachsenen-Differenz analysiert - oder den tatsächlichen elterlichen Einfluss auf die Medienaktivitäten von Kindern auf die Ausübung der Elternrolle reduziert. Die Eltern heutiger Kinder sind bereits selbst mit den Medien und einer expandierenden Konsumkultur aufgewachsen. Das kommt sowohl in ihren alltäglichen kulturellen Praktiken zum Ausdruck wie in ihren Interventionen in die Kinderkultur. Zu den zentralen Bedeutungskonstruktionen heutiger Kinder stößt man am ehesten dann vor, wenn man einen weiteren Horizont wählt, wenn man ihre Erfahrungen nicht nur unter bloßer oder primärer Bezugnahme auf die traditionellen Kategorien zu bestimmen sucht. Das gilt für die Bedeutung von Alterskonzepten ebenso wie für die Begriffe, mit denen wir Aktivitätsformen und -bereiche identifizieren bzw. voneinander abgrenzen. Die Differenzen von Kindheit, Jugend und Erwachsensein sind ebenso ins Fließen geraten wie die zwischen medialen und nicht-medialen Aktivitäten sowie von Spielen, Lernen, Konsumieren und Arbeiten.
Es ist sicher richtig, dass in Gegenwartsgesellschaften weiterhin an der (Re-)Konstituierung einer generationalen Ordnung gearbeitet wird, also Kindheit in Abgrenzung von, in (einer gewissen) Opposition zum, Erwachsensein konstruiert wird. Aber es gibt doch auch bemerkenswerte Entwicklungen, die diese Konstruktionsprozesse unterlaufen bzw. relativieren, auf die eine oder andere Weise an der oppositionellen Codierung rütteln, die bis vor ein paar Jahrzehnten ein (wenn nicht der) Schlüssel zum Verständnis von Kindheit und Kinderkultur war. Es erscheint mir sinnvoll, in Kinderkulturanalysen die Erwachsenen-Kind-Differenz aus einer (gemessen an den vorherrschenden Alltagskonzepten und denen der bisherigen Forschung) dezentrierten Perspektive zu betrachten. Damit meine ich, dass die Hauptaufmerksamkeit der Frage gelten sollte, wie sich die Kinder der Gegenwart mit soziokulturellem Wandel auseinander setzen. In diesem umfassenderen, offenen Rahmen kann dann (nachgeordnet) die Erwachsenen-Kind- bzw. Eltern-Kind-Differenz rekonstruiert werden. Was mir vorschwebt, ist gleichermaßen subjektorientierte wie zeitdiagnostisch sensible Kinderkulturforschung.

Kulturelle Akteure ohne verläßliche "route map"

Ausgangs- und Angelpunkt meiner Überlegungen ist die These von der kulturellen bzw. soziokulturellen Freisetzung heutiger Kinder - und Jugendlicher (Ziehe/Stubenrauch 1982). Das von mir favorisierte Kinderkulturkonzept zielt auf die Analyse von (existenziell bedeutsamen) Bedeutungskonstruktionen unter den Bedingungen (sozio-)kultureller Freisetzung. Ein solches Konzept harmoniert mit wichtigen Befunden der aktuellen Diskussion gesamtgesellschaftlicher Transformationen. So sieht der US-amerikanische Sozialtheoretiker Manuel Castells, dem wir die bisher umfassendste Analyse gegenwärtigen sozialen Wandels verdanken, die zentrale Herausforderung darin, dass die Menschen zurzeit ihr Leben ohne "route map" führen müssen, weil die Konturen neuer sozialer, ökonomischer und kultureller Bedingungen noch relativ diffus sind (Castells 1998). (Sozio-)kulturelle Freisetzung bedeutet u.a., dass die Heranwachsenden heute nicht mehr in traditioneller Manier auf das Wissen und die Erfahrungen - und damit die Ratgeberkompetenz - Erwachsener zurückgreifen können und müssen.
Castells denkt bei denen, die ihr Leben ohne "route map" führen, nicht speziell an Kinder oder Jugendliche. Ich unterstelle die Geltung seiner Diagnose für tendenziell alle Zeitgenossen. Auch deshalb taugt sie als Ausgangspunkt für eine Neuorientierung der (Kindheits- und) Kinderkulturforschung: Der soziale Wandel hat Kinder und Jugendliche in eine Lage gebracht, die neue Gemeinsamkeiten und Differenzen mit sich bringt. Nicht zuletzt deswegen ist es problematisch, in Kindern primär "Nicht-Erwachsene" oder "Noch-nicht-Erwachsene" zu sehen. Angemessener ist es, sie als Neulinge bzw. "Neuankömmlinge" in Gesellschaften und Kulturen zu betrachten, in denen auch die Erwachsenen nicht richtig zu Hause sind. Soziokulturelle Freisetzung ist ein ambivalentes Phänomen. Sie erweitert das Optionsspektrum, bedroht aber möglicherweise die Ligaturen, die fest verankerten kulturellen Bindungen, die Menschen befähigen, sich in der Welt der Optionen zu behaupten. Es steht außer Frage, dass der Medien- und Konsumwelt im Zusammenhang mit kultureller Freisetzung außerordentliche Bedeutung zukommt. In meinem Beitrag versuche ich (deshalb), neue Erfahrungen heutiger Kinder zum Einfluss von Markt und Medien in Beziehung zu setzen.

Auf der Suche nach Alternativen zum Kindheitsbegriff

Wer sind die Kinder der Gegenwart? Bei ihren Versuchen, das kollektive Subjekt der Kindheitsforschung zu bestimmen, bemühen sozialwissenschaftliche Kindheitsforscher in jüngster Zeit immer häufiger den Generationenbegriff (vgl. zusammenfassend Hengst 2002). Im anstehenden Zusammenhang dürfte vor allem die Vorstellung von Generationen Geburtskohorten interessant sein, die durch soziokulturelle Merkmale, durch spezifische "(Lebens-)Orientierungen, Einstellungen und Stile", nicht zuletzt durch ihren Umgang mit Medien, Technik und Konsumgütern charakterisiert sind. In den Medien und in (populär-)wissenschaftlichen Beiträgen werden in diesem Sinne inflationär und mit wachsender Beschleunigung des Umschlags der Etiketten Medien- und Konsumgenerationen kreiert. Die Palette reicht von der Fernsehgeneration über die Computer-, Nintendo-, Tamagotchigeneration bis hin zur Netz- und Cybergeneration und zur Generation @.
Es liegt auf der Hand, dass der gemeinsame Umgang von Geburtskohorten oder Altersgruppen mit dominierenden bzw. neuen Medien oder Medienangeboten allein nicht für eine Etikettierung als Generation ausreicht. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn in seriöseren Auseinandersetzungen mit soziokulturellem Wandel als einem Prozess der Mediatisierung keine Fixierung auf einzelne Medien und Innovationen in der - weit gefasst - Medienkultur erfolgt. In einschlägigen Arbeiten wird deutlich, wie schwierig es ist, neue Selektions-, Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmuster zu identifizieren und Kollektiven im Sinne des Generationsansatzes zuzuordnen. Schulze (1992), Kellner (1997) und Baacke (1999) gehen beispielsweise - trotz aller sonstigen Unterschiede - übereinstimmend davon aus, dass die relevanten Veränderungen in der Medienlandschaft bereits in den 50er- bzw. 60er-Jahren beginnen (und eine schleichende Revolution einleiten). Andere Autoren heben hervor, dass die Veränderungen, die Medien und kommerzielle Kultur in den letzten Jahrzehnten forciert und getragen haben, nicht zu unterscheidbaren Generationen geführt haben, sondern zur diffusen Identität einer neuen Jugendlichkeit. Gleichzeitig wird in jüngster Zeit zunehmend Zersplitterung konstatiert: dass Differenzierungs-, Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse zunehmen und übergreifende kulturelle Orientierungslinien sich in einer Vielzahl von Hinwendungen (zu medien- und kommerzkulturellen Phänomenen) verlieren, deren Dauer und Stabilität aber offensichtlich spürbar abnimmt (vgl. Baacke 1999 S. 139).
Solche Einschätzungen legen den Schluss nahe, dass man den Generationenbegriff eher als Suchbegriff, denn als erklärenden Begriff verwenden sollte. Die einschlägige Forschung zeigt, dass er vielfach durch die These von einer neuen diffusen Jugendlichkeit ersetzt wird. Bereits in den 80er-Jahren notierte Hans-Jürgen Wirth: "Wir befinden uns 'auf dem Weg zur adoleszenten Gesellschaft'." (Wirth 1984 S. 71) In der anglophonen Forschung ist von "elastic adolescence" (Mackay 1997) und von "extended youth" (Wood 1999) die Rede. Gemeinsam ist diesen Diagnosen - besonders deutlich bei Wirth - eine Ablösung der Adoleszenzvorstellung von einer Altersphase und ihre Umwandlung in eine Attitüde, einen Habitus, einen Lebensstil, eine Lebensform. Wie immer man zu solchen Einschätzungen steht: Es gibt genügend empirische Hinweise dafür, dass es sich lohnt, die Bedeutungskonstruktionen derer, die wir Kinder nennen, vor allem unter Bezugnahme auf die Vorstellung zu beobachten, dass sich die Jugendkultur nicht nur biografisch nach oben (ins Erwachsenenalter) geöffnet, sondern auch nach unten (ins Kindesalter) ausgebreitet hat.

Kulturelle Aufladung der Konsumwelt

In der aktuellen Diskussion werden zeitgenössische Gesellschaften in der Ersten Welt nicht selten als Konsumkultur(en) identifiziert (vgl. u.a. Featherstone 1991; Slater 1997). Mit diesem Begriff wird zunächst einmal unterstellt, dass charakteristische soziale Praktiken und kulturelle Werte, Ideen, Bestrebungen und Identitäten heute eher einen Bezug zum Konsum aufweisen als zur Arbeitswelt. Er verweist nicht nur auf den Warencharakter kultureller Güter, sondern vor allem auch darauf, dass die meisten kulturellen Aktivitäten heute durch Konsum vermittelt sind. Vor allem betont der Begriff den symbolischen Aspekt von Gütern und die Modi ihrer kommunikativen Nutzung. Um es auf eine Kurzformel zu bringen: Der Begriff Konsumkultur steht für eine Verschiebung vom materiellen Gebrauchswert zum Zeichenwert kultureller Güter. Symbolischer Konsum ist typisch für die Art und Weise, in der die Menschen heute ihre Identitäten ausbilden und demonstrieren. Wobei mit Identität das Gefühl dafür gemeint ist, wer wir sind und wie wir uns auf andere und den kulturellen und sozialen Kontext beziehen, in dem wir leben. Medienangebote und andere kulturelle Güter sind bei der Identitätsarbeit von herausragender Bedeutung. Sie sind zentrale Bestandteile in den Strategien sozialer Distinktion.

Symbolischer Konsum
ist typisch für
die Art und Weise,
in der die Menschen heute
ihre Identitäten ausbilden
und demonstrieren

Man kann die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten als eine Phase der kulturellen Aufladung der Konsumwelt lesen, die mit deren wachsender Bedeutung für die Identitätsarbeit korrespondierte. Augenfälliges Beispiel einer Kulturalisierung sind die gegenwärtigen Erscheinungsformen der Werbung. Auf der einen Seite verfolgen die Werbetreibenden mit ihren Darstellungen in aller Regel eindeutig instrumentelle Absichten. Dennoch sind diese Darstellungen im engeren Sinn kulturell. Die Menschen gehen mit ihnen sehr häufig nicht anders um wie mit Filmen und Romanen, und zwar nicht ohne Grund; denn die Werbung bietet - wie verzerrt und ideologisiert auch immer - Geschichten darüber an, wie man leben sollte, Geschichten, die sich auf gemeinsame Identitätsvorstellungen beziehen, die Selbstkonzepte berühren, Bilder von gelingenden menschlichen Beziehungen, von Erfüllung und Glück entwerfen. Solche Geschichten, so kann man zusammenfassend mit John Tomlinson (1999) sagen, konfrontieren die Menschen mit "existenziell bedeutsamen" Bedeutungen. Und eben diese existenziell wichtigen Bedeutungen sind das Spezifikum der kulturellen Dimension. Fast erübrigt sich der Hinweis, dass der Begriff Werbung mittlerweile hinter der tatsächlichen Entwicklung in Richtung einer "promotional culture" zurückbleibt, die aus einer Vielzahl heterogener Elemente zusammengesetzt ist, und in der jedes Element für jedes andere sowohl zum Werbeträger als auch zur Ressource für die individuelle und kollektive Identitätsarbeit werden kann. Auch wegen dieses hybriden Charakters der Konsumkultur ist der Konsument heute schwer zu identifizieren. Folgt man einer Typologie von Gabriel und Lang, so ist er in Alltagsdiskursen, denen der Wissenschaftler und denen der Verbraucherorganisationen, als Wählender, als Kommunikator, als Forschender, als Identitätssuchender, als Hedonist oder Künstler, als Opfer, als Rebell und als Bürger identifizierbar (Gabriel, Lang, 1995). Es gibt keinen Grund, sich den zeitgenössischen Konsumenten Kind nicht ähnlich vielgestaltig vorzustellen.

Kindheit als Konsumlaufbahn

Konsum ist den Kindern der Gegenwart zur zweiten Natur geworden. Der Stichwortkatalog, mit dem sich das untermauern lässt, ist lang. Die Kinder der Gegenwart sind Käufer, Multiplikatoren, (manchmal) Aktionäre, - sehr häufig - Sparer und manchmal Schuldner. Auch darüber hinaus sind sie Adressaten einer Vielzahl von Dienstleistungen - nicht zuletzt von Kreditinstituten und Versicherungen. Sie sind in mannigfache Diskurse involviert, die mit diesen Gegenständen, Aktivitäten und Zugehörigkeiten zusammenhängen. Und sie treten immer häufiger auf ganz unterschiedlichen sozialen Bühnen in Erscheinung. Ihr Tun kann im Übrigen nicht mehr ohne weiteres der Produktions- oder der Konsumseite zugeordnet werden.
Die Konsumlaufbahn tendenziell aller Kinder - auch als Erfahrung mit Warenumschlagplätzen - beginnt im Babyalter. In historischer Perspektive werden vor allem drei signifikante Veränderungen von Kinderkultur als Konsumkultur erkennbar:

  • eine zunehmende Verallgemeinerung und Multiplizierung von Medien- und Konsumerfahrungen
  • eine durchgreifende Tendenz der Verjüngung und
  • ein Prozess der Enthierarchisierung alterstypischer Aneignungsformen.

Die Konsumlaufbahn
tendenziell aller Kinder -
auch als Erfahrung
mit Warenumschlagplätzen -
beginnt im Babyalter

Diese Entwicklungen bedeuten nicht, dass Medien- und Konsumgütermarkt Kinder als eine spezifische Zielgruppe einfach verabschiedet hätten. Sie bedeutet auch nicht, dass die Marktfraktion die traditionellen Kategorien zur Binnendifferenzierung von Kindheit - also Alter und Geschlecht - einfach über Bord wirft. Aber in dem neuen, an Marktinteressen orientierten Skript hat die teleologische Komponente, die Vorstellung von kultureller Weiterentwicklung als Höherentwicklung und entsprechend qualitativ unterschiedenem Erwachsensein keine Bedeutung mehr. Es unterscheidet Konsumenten mit viel und wenig Kaufkraft, mit langer und weniger langer Lebenserwartung, mit größerem oder geringerem Einfluss auf Kaufentscheidungen. Es kennt Kinder als Zielgruppe mit durchaus spezifischen, aber prinzipiell denen der Erwachsenen gleichwertigen Bedürfnissen und Interessen. Auf solchen Kriterien basieren die Versuche, Kinder als Markt zu definieren und entsprechend zu segmentieren (vgl. Hengst 2001).

Markttendenz: Entkindlichte Ansprache

Forschungsaktivitäten und Marktstrategien der großen Konzerne zielen seit ein paar Jahrzehnten vor allem darauf ab, Kinder (als Konsumenten) zunehmend unabhängiger von Eltern und Erwachsenen zu machen. Die dominierende Strategie sieht so aus, dass Kinder auf der einen Seite überlegt als Nicht-Erwachsene angesprochen werden, den an sie adressierten Angeboten aber gleichzeitig das Prädikat "entkindlicht" verliehen wird. Das heißt: Medien- und Konsumindustrien setzen auf die Betonung einer nicht-hierarchischen Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen. Entkindlicht meint vor allem: entschult und entpädagogisiert (vgl. Hengst 1996). An die Stelle der Noch-nicht-Erwachsenen sind im Kindheitsbild der in zunehmendem Maße reflexiven Industrien in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts kulturelle Akteure getreten, deren Spiele, Vergnügungen und Wünsche ernst genommen werden. Die Industrien erforschen und mobilisieren durch ihre Inszenierungen das kulturelle und soziale Kapital, mit dem Kinder in den pädagogisch verdünnten Zonen des Alltags arbeiten.

Entkindlicht meint
vor allem: entschult
und entpädagogisiert

Wenn es darum geht, Kinder in diesem Sinne als gleichermaßen entkindlichte wie nicht-erwachsene kulturelle Akteure in die Welt des Konsums zu involvieren, dann ist die Forderung nur konsequent, Produktplaner und -entwickler müssten unter Kindern leben, um verstehen zu lernen, was diese erregt, ihnen gefällt und sie glücklich macht (McNeal, 1992). Diese Forderung entspricht inzwischen einer weit verbreiteten und in immer wieder neuen Varianten ausprobierten Praxis. Entscheidend anders als noch vor ein paar Jahrzehnten ist, dass schon vor der Produktentwicklung zusammen mit Kindern und Jugendlichen neue Angebote erarbeitet werden (Slogan: "By kids, for kids"). Die Verantwortlichen arbeiten in vielen Branchen mit Kindern und Jugendlichen bei der Produktion von Spielzeugen, Sportartikeln, Kleidung, Computersoftware und Musiktiteln, der Planung von Fernsehserien und der Konzeption von Programmen fürs Internet zusammen. Dabei setzen sie nicht selten auf "Trend-Scouts", "Trend-Spotters", "Change Agents" und "Coolness Hunters". An solchen Praktiken lässt sich ein Skriptwechsel in biografischer Perspektive sehr gut verdeutlichen: Maßstab für Interventionen in die Kinderkultur sind nicht mehr Vorstellungen davon, was Kinder künftig als Arbeitende, Eltern und Bürger handlungsfähig macht, sondern der Kinder gegenwärtige Geschmacksvorlieben, Interessen, Sozialformen, Handlungsspielräume und die ihnen konsum-mental nahestehender Altersgruppen, vor allem Jugendlicher und junger Erwachsener.

Markttendenz: Doppelstrategie der Anpassung an Globalisierungs- und Individualisierungsprozesse

Zu beobachten ist bei den Aktivitäten derer, die den Markt machen, eine Doppelstrategie der Anpassung an Globalisierungs- und Individualisierungsprozesse. Diese zielt einerseits auf Segmentierung und Mikromarketing ab, setzt andererseits auf Konstanten bzw. neue Gemeinsamkeiten beim Zielgruppenmarketing. Das führt dazu, dass die Kinder- und Jugendkultur zunehmend von nationalen und sozioökonomischen Strukturen abgelöst wird, Geschmäcker, Vorlieben und Praktiken sich innerhalb einer Gesellschaft ausdifferenzieren, sich aber gleichzeitig nationen- und kulturübergreifend ausbreiten. Den Rahmen, in dem diese Gemeinsamkeiten zunehmend gedacht und konstruiert werden, indizieren seit Beginn der 90er-Jahre Begriffe wie "global generation", "global teenager" und "global child". Zielgruppe aller Bemühungen derer, die den Markt machen, ist - so könnte man sagen - eine zweifach erweiterte Peer-Group. Die eine Erweiterung betrifft - wie bereits erwähnt - die Altersspanne (eingeschlossen deren Umdeutung zu einer jugendlichen Lebensform oder doch jugendlichen Einstellungen und Haltungen), die andere deren Verteilung über den gesamten Globus.

Markttendenz: Verjugendlichung der Kindermedienkultur

Interessant sind bestimmte Implikationen der Verjüngung, die man nur im Medienbereich beobachten kann. Vor ein paar Jahren notierten die Zeitungen Absatzprobleme bei Europas größtem Spielzeughersteller, dem Lego-Konzern. Erklärt wurde die negative Entwicklung mit einer Umorientierung der Kinder. Die Kinder der 90er-Jahre, so argumentierten Vertreter des Lego-Konzerns, werden "eher alt". Gemeint war mit dieser Einschätzung nicht nur, dass Kinder in immer jüngeren Jahren die Plastiksteine aus Legoland verschmähen, sondern dass sie viel früher als ihre Altersgenossen in den 70er-Jahren "erwachsenes Konsumverhalten" an den Tag legen. Um vier Jahre - so genau glaubte man das im dänischen Billund zu wissen - sei das Spielalter innerhalb von zwei Generationen gefallen. Die Lego-Verantwortlichen unterstellen mit dieser Deutung so etwas wie eine Mutation ehemaliger Spiel(zeug)kinder zu Konsumenten. Sie passt zu einer Vielzahl von Befunden, die entweder pauschal anmerken, dass Zehnjährige heute bereits Jugendliche seien, oder die ganz konkret z.B. das Jüngerwerden von BRAVO-Leserinnen und Lesern belegen. Erstaunen dürfte dieser Verjüngungsprozess eigentlich nicht. Das Etikett Spielzeug trifft - schaut man genauer hin - auf viele Produkte der kommerziellen Kinderkultur seit den 70er-Jahren nicht mehr zu. Vermarktet und von den Kindern angeeignet werden seit dieser Zeit vielfach multimediale, für sämtliche Sinne und Wahrnehmungskanäle aufbereitete Themen und Stil-Pakete. Man erfasst ihre Bedeutung nicht (weder die für die Kinder noch die für die Marktentwicklung), wenn man einzelne Elemente aus diesen multimedialen Kontexten herauslöst. Dazu kommt, dass vielfach - etwa auf den Weihnachtswunschlisten der Fünf- bis Zwölfjährigen - schon zu Beginn der 90er-Jahre Kleidung, Bücher und Fahrräder die konventionellen Spielzeuge in den entwickelten Konsumgesellschaften des Westens (Japan eingeschlossen) zurückgedrängt haben. Fakt ist, dass die Kinder der Gegenwart zunehmend Medienangebote, Musikgruppen, Sportmoden etc. favorisieren, mit denen man noch vor wenigen Jahrzehnten die Interessen Jugendlicher assoziiert hätte.

Die Kinder
der 90er-Jahre
werden "eher alt"

Eine für Kinder als Kollektiv charakteristische, für die Identitätsarbeit relevante Komponente der Verjüngung lässt sich am Beispiel der Ergebnisse einer Studie von Dominique Pasquier verdeutlichen. Sie hat die Frage untersucht, wie Kinder speziell das Fernsehen nutzen, um personale und soziale Identitäten zu erkunden. Pasquiers Studie bezieht sich auf Teen-Serien, die seit Beginn der 90er-Jahre auch im französischen Fernsehen wachsende Bedeutung erhielten (Pasquier 1996 S. 351 f.). Die von den Programmverantwortlichen an Teenager adressierten Serien stießen nicht nur bei ihrer Zielgruppe auf große Resonanz, sondern wurden zum ausgesprochenen Renner bei sehr viel jüngeren Kindern. Die Serien avancierten zum bevorzugten Thema der Diskussion in Klassenzimmern, vor allem bei Grundschulkindern. Besonders die Mädchen dieser Altersgruppe partizipierten aktiv - und das intertextuelle Material nutzend - am Kult um die Serien. Sie spielten Rollenspiele, sammelten und tauschten die Objekte, die im Medienverbund um die Serien auf dem Markt angeboten wurden und kleideten sich wie die von ihnen favorisierten Fernseh-Charaktere. Die Studie zeigt (auf der Basis eines "surveys", von Beobachtung und Interviews sowie der Analyse von Fanpost), dass die Serien von Kindern dazu verwendet werden, um Geschlechtsrollen zu erkunden und in Peer-Groups Verhaltensmaßstäbe zu diskutieren. Die Programme der Serien fungieren dabei als eine Art neutrales gemeinsames Territorium, das dabei hilft, die eigene Position zu artikulieren und in der Gruppe auszutesten. Dominique Pasquier interpretiert die Bedeutung der Serien im Sinne einer romantischen Initiation, sieht in ihnen gewissermaßen Geburtshelfer bei einer Art zweiter Geburt, beim Übergang von einer Welt, die (primär) auf Generationsdifferenzen basiert, zu einer, in der die Differenzen des Geschlechts im Zentrum stehen. Die Interpretation ist sensibel für die neuen Herausforderungen, vor die der soziokulturelle Wandel die Kinder und Teenager der Gegenwart stellt. Sie sind mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich außerhalb der traditionellen Erziehungs- und Ratgeberinstitutionen Modelle zu suchen, in denen reale und virtuelle Peer-Groups eine immer wichtigere Rolle spielen. (In den Medienwelten sind die Peer-Groups zumeist älter als in den realen.) Die Botschaft - es ist die Botschaft eines Großteils der von den Medien- und kommerziellen Industrien präsentierten Angebote - ist klar: Um sein Selbstbild verändern, sich mit neuen Aspekten arrangieren zu können, ist man auf Gleichaltrige, auf Freunde angewiesen. Erwachsene können dabei nicht helfen. Die Art der Aneignung dieser Botschaft durch die Kinder ist eine Antwort auf die kulturelle Freisetzung aus dem Kindheitsprojekt der Moderne und der für dieses Projekt charakteristischen kulturellen Differenz zwischen Erwachsenen und Kindern.
Für ein Verständnis der Verjüngung ist Pasquiers Kennzeichnung des Themas, das die Rezeption der Serien beherrscht, als eine im Kern romantische (in puncto Sexualität zurückhaltende) Initiation nicht zuletzt deswegen interessant, weil die Dominanz entsprechender Offerten in den Plots, Talks und Bildern die Voraussetzung dafür ist, dass das Interesse an den Serien biografisch so weit nach unten reichen kann, wie sich nicht nur in Frankreich zeigt. So kann beispielsweise Bettina Fritzsche zeigen, wie jüngere weibliche Boygroup-Fans ihr Fan-Sein als "virtuelle Verhandlung heterosexueller Beziehungen" beschreiben (Fritzsche 2003). Ihre Interpretation geht dahin, dass die Mädchen die Gefühle von Verliebtheit und Begehren kennen lernen möchten, ohne die Risiken von Beziehungen eingehen zu müssen.
An solchen Beispielen werden ansatzweise wichtige Implikationen der Verjüngung als Verjugendlichung der Kinderkultur, also signifikanter, für die Identitätsarbeit wichtiger Bedeutungskonstruktionen von Kindern, deutlich. Es zeigt sich, inwiefern und in welchem Maße es sinnvoll ist, eine starre Trennung von Kinder- und Jugend(kultur) aufzugeben, dass sie aber nicht so verstanden werden darf, als gäbe es in bestimmten Umgebungen keine wesentlichen Unterschiede in den Konsum- und Mediengewohnheiten von Kindern und Jugendlichen. Es kann nicht darum gehen, Unterschiede zwischen 6- und 16-Jährigen einfach aufzulösen. Es ist nur so - wie auch die Studie Pasquiers zeigt -, dass die traditionellen Grenzen verschwimmen und man deshalb dem Einfluss der kulturellen Stile und Gewohnheiten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf die Orientierungen von Kindern größere Aufmerksamkeit schenken muss als noch vor ein paar Jahrzehnten.

In der Kinderkultur
dominieren die Normen
und Konsumstile Jugendlicher
und junger Erwachsener

Das Referenzmodell, in dem die Bedeutungskonstruktionen von Kindern zu untersuchen sind, ist - wie sich nicht nur am Beispiel von Daily Soaps zeigen lässt eine gemeinsame medienbasierte Jugendkultur, die in zunehmendem Maße globalisiert wird. Kinder und Jugendliche nutzen die globalen Medienangebote auf eine Weise, die das jeweils sie übertragende Medium transzendiert. Sie verfolgen die Themen, die sie interessieren, intertextuell, via Fernsehen, Computerspiele, Comics, Internet etc. Das hat gerade erst wieder eine von Sonia Livingstone und Moira Bovill edierte vergleichende Untersuchung über "Children and their changing media environment" gezeigt, die (1997-1998) in zwölf Ländern (elf europäischen und Israel) realisiert wurde, und in der 15.000 Kinder im Alter von 6 bis 16 Jahren interviewt wurden (Livingstone/Bovill 2001). Aber diese Studie ist auch sensibel für Unterschiede zwischen Kinder- und Jugend(medien)kultur. Auf der einen Seite werden Multimedialität, Intertextualität und Globalisierung der Jugendkultur als integrale Bestandteile der Medienwelten von Kindern gebührend herausgearbeitet. Auf der anderen Seite wird z.B. die Rolle des Fernsehens als einer Art altersspezifischen (d.h. im engeren Sinne kindertypischen) Leitmediums betont. Allerdings werden wir auch in dieser Studie mit Kinderkultur unter den Bedingungen einer "adoleszenten Gesellschaft" konfrontiert, also mit einer Kinderkultur, in der die Normen und Konsumstile Jugendlicher und junger Erwachsener dominieren.
In einer australischen Studie wurden 5- bis 12-jährige Kinder gefragt, in welcher Altersgruppe sie sich die Helden ihrer Fernsehfilme und -serien wünschen. Die meisten Kinder (Mädchen wie Jungen) sagten, sie sähen am liebsten Altersgleiche, etwas Ältere, Teenager oder junge Erwachsene. Junge Erwachsene waren für sie Leute um die 20 Jahre. Es erübrigt sich, nach dem bereits über die Konstruktion der Publika durch Medien- und kommerzielle Industrien Gesagten der Hinweis, dass es hier (vorsichtig formuliert) Übereinstimmungen gibt. Erwähnenswert ist, dass die interviewten Kinder oft Schwierigkeiten hatten, ihre Vorlieben für diese Altersgruppen zu begründen. Dass sie ältere Charaktere vorzogen, erklärten sie oft damit, dass diese besser spielten, bessere Rollen als Kinder hätten und in der Regel "more exciting things" täten (Sheldon 1998).

Zum neuen Zuschnitt einer Instrumentalisierung informellen Lernens

Es gibt einen weiteren, für aktuelle Veränderungen der Kinderkultur - im Sinne kultureller Freisetzung aus dem Kindheitsprojekt der Moderne - wichtigen Aspekt, dem bisher wenig Beachtung geschenkt wurde. Im Zuge der raschen Expansion der mediatisierten Konsumkultur hat sich ein Angebotsmuster herausgeschält, das nicht nur durch eine zunehmende Verwischung der Grenzen von Unterhaltung, Werbung, Konsum und Technik charakterisiert werden kann, sondern auch Erziehung und Bildung in bisher unbekannter Form eingemeindet. In dem Zusammenhang ist zunächst einmal anzumerken, dass an der Diskussion über die neuen Technologien auffällt, dass ihnen von Vertretern ganz unterschiedlicher Fraktionen der Erwachsenenwelt ein genuiner Bildungs- bzw. erzieherischer Wert zugeschrieben wird. Die Computerwelt ist (auch im bildungsbürgerlichen Lager) positiv besetzt, weil man sie zum einen mit prestigeträchtigen Arbeitsplätzen in der Hochtechnologie assoziiert, und ihr zum anderen eine zentrale Rolle dabei zuschreibt, Lehr- und Lernprozesse unterhaltsamer zu machen. Aus dem "Spielen und Lernen" bzw. dem spielerischen Lernen im Kinderkulturkonzept der Moderne ist "Edutainment" (gemacht) worden. Bei der Computer-Werbung rücken die Firmen sehr häufig von der Opposition zwischen Kindern und Erwachsenen ab, die sie in den Domänen von Freizeit und Unterhaltung ansonsten seit ein paar Jahrzehnten kultivieren (vgl. Hengst 1996). Sie knüpfen an das Muster der Moderne an, Konsumangebote für Lernprozesse, "self-education" und "self-improvement" zu instrumentalisieren - bedienen die Hoffnung der Eltern, auf diese Weise die richtigen Weichen für die Zukunft ihrer Kinder stellen zu können. Kulturwaren werden wieder verstärkt wegen der ihnen unterstellten kognitiven und motivationalen Potenziale an Eltern (und Schulen) verkauft. In dem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Absatz-"Revolution" auf den Märkten der neuen Medien in den 90er-Jahren in ganz entscheidendem Maße von Familien mit Kindern mitgetragen wurde. Ähnliches zeigt sich im Zusammenhang mit dem Internet und Online-Diensten. Die verstärkte Präsenz dieser Technologien und Dienste in den Schulen erhöht die Nachfrage in den Familien ebenso wie deren Fehlen. Wenn man sich anschaut, wo und wie Kinder (und Jugendliche) die einschlägigen Angebote nutzen, und welche Aktivitäten sie dabei entfalten, dann wird deutlich, dass sie sich eher auf dem ihnen eigenen - kinder- und jugendkulturellen - Terrain bewegen als auf dem des schulischen formalen Lernens. Es hat den Anschein, dass dem Etikett erzieherisch wertvoll (hier) vor allem die Funktion einer Eintrittskarte in eine digitale Spielwelt zukommt.

Empowerment-Effekte der kommerziellen Kultur

Ein vorläufiges Fazit zum Status quo der Kinderkultur muss zumindest zweierlei festhalten:
Erstens: Für Kinder, die heute in den globalisierten Konsum- und Dienstleistungsgesellschaften des Westens aufwachsen, bedeutet der Zugang zum Medienmarkt und zur kommerziellen Kultur eine Befreiung aus traditionellen (pädagogischen) Abhängigkeiten, Beengtheiten, Erwachsenenkontrollen und eine Öffnung zu den universellen Mustern der einen Konsumkultur. Die Offerten des populären Marktes sind vor allem interessant, weil sie 1. einen im "Ärgernis der Kindheit" begründeten Wunsch nach einer (utopischen) Freiheit von Erwachsenenautorität, Zukunftsorientierung etc. thematisch aufgreifen und immer wieder neu inszenieren, und weil 2. die neuen Zeichenwelten (Entwicklung von der Dominanz diskursiver zur Dominanz "präsentativer" Symbole) sowie die neuen Technologien, Transportkanäle, Spiel- und Sportgeräte, die Zugriffs- und Kontrollmöglichkeiten der Kinder erheblich erweitern.
Der - wenn man so will - "historische Kompromiss" zwischen dem Marktprojekt und dem der Kinder - ihr Bündnis gegen das Erziehungsprojekt - beruht nicht auf symmetrischen Transaktionen. Kinder und Kulturindustrien sind keine gleich starken Akteure, die Wechselspiele zwischen kulturindustrieller Steuerung und Sozialisation in eigener Regie sind nicht ausbalanciert. Der Markt bestimmt weitgehend die Tagesordnung ("agenda setting"), die Angebotsspektren und die Rhythmen, nach denen Kulturwaren und Skripts für Medienaktivitäten und Freizeitgestaltung ausgetauscht werden. Kindergruppen, die sich zu intensiv auf ein modisches Medienskript eingelassen haben, wissen, was die erhöhte Umschlagsgeschwindigkeit von popularkulturellen Moden bedeutet. Selbstständigkeit im Sinne des Kulturprojekts der Kinder meint so vor allem: unabhängig werden von bzw. Freisetzung aus den Zumutungen des Erziehungs- und Entwicklungsprojekts. Wir haben es hier also mit einer Art Semi-Autonomie zu tun.

Kinder und Kulturindustrien
sind keine
gleich starken Akteure

Mit dieser Stoßrichtung hat sich ein kollektives Kinderinteresse - an der Erweiterung der Autonomiespielräume beim Zugriff auf Welt und Umwelt (vgl. Hengst 1996) im letzten Drittel unseres Jahrhunderts - durchgesetzt, einerseits dank der mächtigen Bündnispartner Konsum- und Kulturindustrie, wohl aber auch, weil die Erwachsenen heute selbstständigere Kinder brauchen (veränderte Rolle der Frau, kulturelle Freisetzung Erwachsener, Pluralisierung der Kindheitskontexte). Der Markt hat also einen säkularen Liberalisierungsprozess verstärkt, indem er direkten Anschluss an das Kulturprojekt der Kinder herstellte und aus den Konzessionen an Sinnlichkeit und Eigenregie, die auch dem bürgerlichen Konzept der Kinderkultur eingeschrieben waren, ein Programm mit unpädagogischer bis antipädagogischer Tendenz machte.
Zweitens: Die skizzierte "Befreiung" der Kinderkultur aus elterlicher und Erwachsenenkontrolle - und damit aus dem bürgerlichen Kindheitsprojekt - bedeutet selbstverständlich nicht, dass die (kultur-)pädagogische Fraktion das Terrain völlig preisgegeben hat. Es finden weiterhin kulturelle Auseinandersetzungen zwischen den Generationen in den Familien der Gegenwart statt - unter anderem auf den Bühnen öffentlicher Erziehung. Auch der Markt versucht weiterhin, das Erziehungsprojekt zu bedienen. Mit Konsumgütern, Medienangeboten, Spielzeugen werden weiterhin auf ganz unterschiedlichen Bühnen (in der Familie, in der Schule, in Jugendhilfeeinrichtungen und in der Kulturpädagogik) Generationskonflikte und -differenzen ausgedrückt und ausgehandelt. Dass das traditionelle Kulturkonzept nicht gegenstandslos ist, verhindern z.B. die Aufstiegsorientierungen vieler Mittelschichteltern und der Distinktionsgewinn, den die Erfahrung der "feinen Unterschiede" auch in Fragen der außerschulischen Kinderkultur mit sich bringt. Medien und Konsum bleiben ein wichtiges Betätigungsfeld für Eltern: aus Gründen der Erziehung, aus ökonomischen, ethischen, Geschmacks- und Prestigegründen sowie aus richtigen Einsichten in die selektive Funktion der Bildungsinstitutionen. Zu bedenken ist nur: Auch diese Intentionen und Konzepte sind integrale Bestandteile von Marktstrategien.

Die Industrien
haben drei Absatzmärkte:
die Kinder, die Eltern
und den Ausbildungssektor

Nicht zu übersehen sind gegenwärtig Aspekte einer friedlichen Koexistenz zwischen den Interessen der Kinder, denen der Erziehungsfraktion und denen des Marktes. Am deutlichsten wird sie im Zusammenhang mit den neuen Technologien. Das hängt damit zusammen, dass - wie erwähnt - in der Computerwelt die Grenzen von Unterhaltung, Werbung, Konsum, Technik und Erziehung verschwimmen. De facto sieht es deshalb so aus, dass die Industrien drei Absatzmärkte haben: die Kinder, die Eltern und den Ausbildungssektor.
Der vielleicht wichtigste Aspekt dieser Entwicklung liegt in einer Tendenz der Entthronung formalen Lernens als dem Königsweg des Wissenserwerbs. Wirkliches Lernen, so hört man heute affirmativer als früher, findet außerhalb der Schule statt. Die Räume, in denen die Aneignung des globalisierten Medien- und Kulturwarenoutputs überwiegend stattfindet, sind die eher informellen Netzwerke von Familien und Peers, sind flexible Arenen privater und öffentlicher Interessenwahrnehmung. Ganz offensichtlich bedeutet das grundsätzlich für Kinder und Jugendliche eine Verbesserung ihrer Möglichkeiten zu individueller und kollektiver Eigenregie. Welche sozialen Gruppen, welche Kinder von den neuen Möglichkeiten - unter welchen zusätzlichen Rahmenbedingungen, in welcher Weise - für ihre Bildung profitieren können, und wie sich dabei Kindheit, die Grenzen zwischen Kindheit und Jugend sowie Generationenverhältnis und Arbeitsteilung zwischen den Generationen verändern, das sollte nicht zuletzt Gegenstand einer zukunftsorientierten Kinderkultur- und Kindheitsforschung sein.

LITERATUR
  • Baacke, Dieter: Die neue Medien-Generation im New Age of visual thinking: Kinder- und Jugendkultur in der Medienkultur. In: Gogolin, Ingrid; Lenzen, Dieter (Hrsg.): Medien-Generation. Beiträge zum 16. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske u. Budrich 1998, S. 137-149.


  • Castells, Manuel: The end of the millennium. Oxford: Blackwell 1998.

  • Castells, Manuel: Das Informationszeitalter I. Die Netzwerkgesellschaft. Opladen: Leske u. Budrich 2001.

  • Featherstone, Mike: Consumer culture and postmodernism. London: Sage 1991.

  • Fritzsche, Bettina: Performative Annäherungen an Identität in der Fan-Kultur. In: Hengst, Heinz; Kelle, Helga (Hrsg.): Kinder, Körper, Identitäten. Weinheim u.a.: Juventa 2003.

  • Gabriel, Yiannis; Lang, Tim: The unmanagable consumer. Contemporary consumption and its fragmentations. London: Sage 1995.

  • Hake, Karin: Five-year-olds' fascination for television. In: Childhood, -/2001/4, S. 423-441

  • Hengst, Heinz: Kinder an die Macht! Der Rückzug des Marktes aus dem Erziehungsprojekt der Moderne. In: Zeiher, Helga; Büchner, Peter; Zinnecker, Jürgem (Hrsg.): Kinder als Außenseiter? Umbrüche in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Kindern und Kindheit. Weinheim u.a.: Juventa 1996, S. 117-133.

  • Hengst, Heinz: Kinderkultur und -konsum in biographischer Perspektive. In: Behnken, Imbke; Zinnecker, Jürgen (Hrsg.): Kinder. Kindheit. Lebensgeschichte. Ein Handbuch. Seelze-Velber: Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung 2001, S. 855-869.

  • Hengst, Heinz: Ein internationales Phänomen: die neue soziologische Kindheitsforschung. In: Soziologie. Forum der deutschen Gesellschaft für Soziologie, -/2002/2, S. 57-77.

  • Kellner, Douglas: Jugend im Abenteuer Postmoderne. In: SpoKK (Hrsg.): Kursbuch Jugendkultur. Stile, Szenen und Identitäten vor der Jahrtausendwende. Mannheim: Bollmann 1997, S. 70-78.

  • Livingstone, Sonia; Bovill, Moira (Hrsg.): Children and their changing media environment. A European comparative study. Mahwah, N.J. u.a.: Erlbaum 2001.

  • Mannheim, Karl: Das Problem der Generationen. In: Friedeburg, Ludwig von (Hrsg.): Jugend in der modernen Gesellschaft. Köln u.a.: Kiepenheuer u. Witsch 1952, S. 23-48.

  • McNeal, James U.: Kids as customers. A handbook of marketing to children. New York, N.Y.: Lexington Books 1992.

  • Pasquier, Dominique: Teen series' reception. Television, adolescence and culture of feelings. In: Childhood, -/1996/3, S. 351-373.

  • Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a.M. u.a.: Campus 1992.

  • Sheldon, Linda: The middle years: Children and television - cool or just plain boring? In: Howard, Sue (Hrsg.): Wired-up: Young people and the electronic media. London: UCL Press 1998, S. 77-94.

  • Slater, Don: Consumer culture and modernity. Cambridge: Polity Press 1997.

  • Tomlinson, John: Globalisation and culture. Cambridge: Polity Press 1999.

  • Wirth, Hans-Jürgen: Die Schärfung der Sinne. Jugendprotest als persönliche und kulturelle Chance. Frankfurt a.M.: Syndikat 1984.

  • Ziehe, Thomas; Stubenrauch, Herbert: Plädoyer für ungewöhnliches Lernen. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1982.

DER AUTOR
Heinz Hengst, Dr. Phil., ist Professor an der Hochschule Bremen, Fachbereich Sozialwesen und Mitglied des Instituts für Popularkultur an der Universität Bremen, seit 1999 Sprecher der Sektion Soziologie der Kindheit in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

INFORMATIONEN
Internationales
Zentralinstitut
für das Jugend-
und Bildungsfernsehen
IZI


Tel.: 089 - 59 00 21 40
Fax.: 089 - 59 00 23 79
eMail: izi@brnet.de
internet: www.izi.de

COPYRIGHT
© Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) 2000-2002
Nachdruck oder Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Herausgebers!
nach oben
Das IZI ist eine Einrichtung des Bayerischen Rundfunks