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Maya Götz
Der Gebrauchswert
von Kindersendungen im
Alltag
Bei Kindern erfolgreiche Sendungen und
ihre pädagogischen Probleme
Kindern steht heute ein ausdifferenziertes
Angebot an Fernsehprogrammen zur Verfügung. Sie wählen
sich das aus, was für sie einen hohen Gebrauchswert hat. Dabei
entsteht ein komplexes Zusammenspiel von Fernsehmarkt und Alltag
der Kinder. Aus pädagogischer Sicht zeigen sich hier durchaus
Chancen, aber auch Problembereiche, die es wahrzunehmen gilt.
Kinder als Entscheider
Kindern stehen wöchentlich etwas mehr
als 300 Stunden explizites Kinderprogramm zur Verfügung, hinzu
kommen das reichhaltige Angebot an Familienprogramm und Sendungen
für Erwachsene, die sie mit zunehmendem Alter mehr nutzen.
Die durchschnittliche Zeit, die Kinder vor dem Fernseher verbringen,
ist jedoch über Jahre annähernd stabil geblieben. Das
bedeutet, Kinder haben die Möglichkeit zu wählen, sie
müssen wählen - und sie wählen. Zumindest bei älteren
Kindern und in Haushalten, in denen die Fernsehnutzung weniger der
elterlichen Steuerung unterliegt, sind die Kinder selbst die Entscheider.
Sie suchen sich im Alltag das aus, was sie für sich nutzen
können. Das heißt, ein Medium muss sich eben für
diese Integration und Nutzung im Alltag eignen und "alltagsfunktionalen
Gebrauchswert" besitzen.
Kinder
haben die
Möglichkeit zu wählen,
sie müssen wählen -
und sie wählen
Hauptorientierungspunkt für
Kinder ist der Inhalt der Sendung. Er muss ihre Themen treffen,
sie emotional berühren und ihnen das bieten, was sie erwarten.
Die Zuwendung steht aber immer auch im Kontext der Peer-Group, in
der Moden und Trends entstehen. Konkret heißt dies: Eingeschaltet
wird auch, was derzeit "in" ist und über das "alle"
reden. Im Alltag schafft Fernsehen dabei als Tätigkeit an sich
immer auch eine bestimmte Situation. Sie kann ablenken (z.B. von
Langeweile) oder Gemeinsamkeit bieten (z.B. zu den Eltern). Analytisch
zusammenfassend formuliert, übernehmen Medien im Alltag der
Kinder "situative, interaktive und subjektiv-thematische Funktionen"
(Bachmair 1996, S. 72).
Grafik 1
Die jeweilige Presseberichterstattung trägt hier ihren Teil
zum öffentlichen Diskurs bei. Durch das Aufgreifen von Themen
und die Einnahme bestimmter Positionen qualifiziert sie die "öffentliche
Meinung" und damit auch die Einstellung von Eltern zu bestimmten
Sendungen mit. Doch die von JournalistInnen gern gestellte Frage,
ob ein Medium denn nun "gut" oder "schlecht"
ist, kann aus pädagogisch-professioneller Sicht bei weitem
nicht so einfach beantwortet werden, wie oft angenommen. Gerade
die Trends und "Hypes" bei den Kindern haben in ihrem
Alltag meist hohen Gebrauchswert und bieten in diesem Sinne individuell
Positives. Sie sind aber auch häufig Zündstoff in den
Familien und pädagogischen Einrichtungen und ihre Aneignung
trägt problematische Momente in sich. Eine pädagogisch-professionelle
Einschätzung dieser Phänomene muss die Bedeutung des Mediums
im Alltag ernst nehmen, um vor diesem Hintergrund zu fragen, ob
die Aneignung Kinder in der Identitätsfindung stärkt,
bei der Bewältigung von Alltag hilfreich ist und die Integration
in unsere Gesellschaft unterstützt. Zwischen dem Alltag der
Kinder und dem Fernsehmarkt entsteht ein Wechselspiel, zu dem auch
die Presseberichterstattung ihren Teil beiträgt.
Fernsehzeit in der Wechselwirkung von
Alltag und Markt
Programmplaner wissen: Die Sendezeit muss
an den Sehgewohnheiten der ZuschauerInnen anknüpfen. Kinder
stellen ihre Zeitplanung auf die bevorzugte Sendung ein. Sie versuchen,
rechtzeitig zu Sendebeginn mit ihren Aufgaben fertig zu sein oder
kommen gezielt vom Spiel mit den Freunden nach Hause. Dragon Ball
Z-Fans beispielsweise erzählen:
"Manchmal ist es stressig mit der
Uhrzeit. Ich muss dann ja zu Hause sein, wenn es anfängt."
(Sven, 13 Jahre); "Zu Hause beeilen wir uns jetzt abends beim
Essen, um Dragon Ball nicht zu verpassen." (Amelie, 9 Jahre)
Aus der individuellen Perspektive der Kinder
und Jugendlichen ist die tägliche Fernsehzeit hier zum Teil
Strukturierungshilfe, setzt sie aber auch unter Druck. Sie nehmen
selber wahr, wie sie andere Aktivitäten für das Fernsehen
zurückstellen.
Steffen (14 Jahre) antwortet auf die Frage,
was sich für ihn, seit er Dragon Ball Z sieht, verändert
hat: "Ich bin kaum noch draußen. Aber ich gucke auch
gern fern."
Auf individueller Ebene liegen pädagogische
Problembereiche - zunächst unabhängig vom Inhalt der Serie
- in der Vorstrukturierung, die die Gestaltung des Alltags einschränkt
und andere Aktivitäten und Erfahrungen verhindert.
Wie sich das gezielt gesetzte Programm eines Senders in den durchschnittlichen
Sehgewohnheiten der 3- bis 13-Jährigen niederschlägt,
deutet die Grafik 1 an. Im Vergleich der 1. Halbjahre 2001 und 2002
zeigen sich Veränderungen. In der Zeit von 14.00 bis 17.00
Uhr ist die Sehbeteiligung von Kindern wieder um 2 bis 3% gesunken.
2001 liefen zu dieser Zeit Sendungen wie Digimon (47% Marktanteil,),
Pokémon (44,6% Marktanteil) und Dragon Ball (41,7% Marktanteil)
besonders erfolgreich. Im ersten Halbjahr 2001 hat RTL2 im Nachmittagsprogramm
Kinder zum Fernsehen gebracht - bzw. im ersten Halbjahr 2002 wieder
"entlassen". 2002 zeigt sich ein leichter Anstieg zwischen
19.00 und 20.00 Uhr (s. Grafik 1). Die auffallende Parallele der
Marktgewinne von RTL2, der um diese Zeit Dragon Ball Z sendet, deutet
an, dass der Sender auch hier wieder mit einem gezielt gesetzten
Markttrend Fernsehgewohnheiten im Alltag von Kindern verändert.
Die Höhe der Marktgewinne in der Zielgruppe weist darauf hin,
dass hier sowohl Kinder von anderen Sendern zu RTL2 "gezogen"
als auch "neue" SeherInnen um diese Zeit gewonnen wurden.
Diese detaillierten Zusammenhänge zwischen einzelnen Angeboten
und den zeitlichen Sehgewohnheiten von Kindern werden in der Pressediskussion
bisher kaum wahrgenommen.
Familien sitzen gemeinsam vor kinderrelevanten
Sendungen
In dem konkreten Zeitraum, wenn Medien rezipiert
werden, entsteht eine bestimmte Situation, die zum Beispiel durch
Gemeinsamkeit geprägt sein kann. Quantitativ lässt sich
dies in Personenkonstellationsanalysen berechnen, die zeigen, dass
am Vormittag im Durchschnitt weniger als ein Fünftel der Kinder
mit ihren Erwachsenen zusammen fernsehen. Bis zum Abend steigt der
Anteil stetig an, am Abend dann sitzt jedes zweite Kind zusammen
mit Erwachsenen gemeinsam vor dem Fernseher (vgl. Hofmann 2001,
S. 39). Bestimmte Sendungen haben dabei ein höheres Potenzial
für eine Gemeinsamkeit als andere.
Das bekannteste Beispiel aus dem Kinderfernsehen für Jüngere
ist Die Sendung mit der Maus. Für Eltern ist sie der Inbegriff
an deutschem Qualitätsfernsehen, wobei Nostalgie sicherlich
auch eine wichtige Rolle spielt (Götz 2001). Dies wird von
Angebotsseiten durchaus wahrgenommen und als "hohes Gut"
gehandelt. Die Lizenzprodukte und Veranstaltungen rund um den Klassiker
sind demgemäß so angelegt, dass sie den Qualitätsvorannahmen
entsprechen und immer auch die Eltern einbeziehen. Über die
Eltern werden so die Kinder erreicht. Die Presseberichterstattung
zur Sendung unterstützt Eltern in ihrer Ansicht, dass es sich
um ein wertvolles Programm handelt (vgl. Nagl in diesem Heft). Hier
gehen öffentliche Diskussion, Markt und Gebrauchswert der Sendung
in Familien in die selbe Richtung. Klassiker, das heißt über
Jahre und Generationen hinweg eingeführte Serien, haben es
hierbei sicherlich sehr viel leichter als neue Programme.
Aus pädagogischer Perspektive eröffnet diese Gemeinsamkeit
vor Klassikern vor allem Chancen für ein gemeinsames Erlebnis
und symbolisches Material für Gespräche - für die
Eltern ohne Frage ein Nutzen in der Erziehungsarbeit. Potenzielle
Einengung kann dadurch entstehen, dass Eltern sich auf innovative
Angebote, die vielleicht für die Kinder hohen Gebrauchswert
hätten, vergleichsweise schwer einlassen.
Ein anderes Beispiel für die Bedeutung der Gemeinsamkeit in
der Rezeptionssituation bei älteren Grundschulkindern sind
Daily Soaps, z.B. das Format Gute Zeiten, schlechte Zeiten (GZSZ).
Hier sind Kinder zwar nicht die angestrebte Zielgruppe, dennoch
sehen 540.000 3- bis 13-Jährige (28,2% Marktanteil) allabendlich
die Sendung. Während es bei den Älteren die Freundinnen
sind, die sie auf die Soap bringen, sind es bei den Jüngeren
die Eltern.
Abbildung 1: Vivian (9 Jahre) malt, wie sie
GZSZ sieht
Interviewer:
"Wie bist du zu Gute Zeiten,
schlechte Zeiten gekommen, wie fing das an?
Vivian:
"Das waren eigentlich meine Eltern, weil die haben da jeden
Tag reingeguckt und ich wollte immer Kinderkanal oder so gucken,
und dann haben sie gesagt: Nein Vivian, du gehst entweder ins Bett
oder du guckst mit uns Gute Zeiten, schlechte Zeiten."
Sie malt ein Bild zur "typischen
Rezeptionssituation", in dem Vater, Mutter und sie selbst lachend
auf dem Sofa sitzen, zu ihren Füßen der Hund und auf
dem Tisch die Katze. Vorn und eher klein gezeichnet steht der Fernseher,
der auch wichtig ist, vor allem aber geht es um die Gemeinsamkeit
in der Familie.
Eltern sehen mit ihren Kindern zusammen fern.
Diese Gemeinsamkeit ist für Familien auch durchaus etwas Schönes.
Entsprechend versucht der Markt, für diese Zeit gezielt Programme
anzubieten, die eine gemeinsame Rezeption ermöglichen. Dies
ist eine Chance für Familien, bringt aber die Gefahr mit sich,
dass Kinder Sendungen ansehen, die sie eigentlich nicht sonderlich
interessieren oder die sie auch überfordern können. Bei
der Daily Soap GZSZ ist dies zeitweise durchaus der Fall (vgl. Tilemann
2002). Die öffentliche Diskussion stellt Gute Zeiten, schlechte
Zeiten jedoch vor allem als "erfolgreiche Sendung" dar
(vgl. Nagl in diesem Heft). Auf mögliche Überforderungen,
wie sie zum Beispiel auch im "Flimmo" aufgezeigt werden,
geht die Presse kaum ein.
Fernsehen schafft Kommunikationsanlässe:
Pokémon zwischen Chance und vom Markt initiierten Trend
Über Fernsehen lässt sich leicht
Kommunikation herstellen. Beispielsweise sind die neuesten Dramen
der Daily Soaps bei Mädchen (Pre-Teens) regelmäßig
Thema in der Schulpause (Vocke 2002). In der Peer-Group entstehen
dabei Moden und Trends, die gemeinsame Kommunikationsanlässe
ermöglichen, gleichzeitig aber auch unter den Druck setzen,
über das nötige Wissen zu verfügen. 2000 und 2001
ist für Grundschulkinder Pokémon der zentrale mediale
Kommunikationsanlass. Im Mittelpunkt steht hierbei weniger der Inhalt
der gestrigen Sendung, sondern der Besitz und Tauschhandel von Sammelkarten
und anderen Licensing-Produkten. Bei Pokémon greifen Inhalt
und Licensing-Produkte aus ökonomischer Sicht optimal ineinander.
In der Grundgeschichte (Serie, Gameboy, Bücher, Magazine) fängt,
sammelt und trainiert der Held Ash verschiedenste Pokémon,
um ein großer Pokémon-Meister zu werden. Kinder können
durch die Kaufprodukte quasi an die Stelle des Helden treten. Sie
sammeln, behüten, tauschen und bestreiten Wettkämpfe.
Die Fernsehserie ist in diesem Arrangement eigentlich nicht mehr
zentrales Produkt (vgl. Dreier 2002), trotzdem erreicht sie Spitzenquoten.
Der Grund: Sie liefert die wichtigen Hintergründe für
die Kommunikation, denn die einzelnen Folgen sind eine effektive
Möglichkeit, um die einzelnen Pokémon und ihre Entwicklungsstufen
auswendig zu lernen. Pokémon ist ein Lehrbuchbeispiel für
einen vom Markt initiierten Hype, bei dem alle Elemente inhaltlich,
zeitlich und nutzungsorientiert ineinander greifen (u.a. Tobin 2003,
Wagner/Bollig 2002). Soweit die Marktseite.
Aus pädagogischer Sicht schafft Pokémon die Möglichkeit
für Kommunikation. Das unterstützt die Einzelnen, denn
sie können Gemeinsamkeit mit anderen schaffen und sich als
ExpertInnen beweisen. Gleichzeitig ist diese Kommunikation aber
auch mit der Notwendigkeit von genügend finanziellen Ressourcen
verbunden, denn Pokémon-Karten sind teuer. Dies bedeutet
nicht nur eine enorme Belastung für die Eltern, sondern heißt
auch, dass Kinder ihre Kommunikation und ihre Selbstpräsentation
auf Güter aufbauen und nicht, wie es pädagogisch wünschenswerter
wäre, auf ihrer eigenen individuellen Besonderheit.
Ein weiteres Problem bringt die vom Markt provozierte Veränderung
des Trends von Pokémon zu Digimon. Es ist der gezielte Versuch
von Anbieterseite (hier Bandai bzw. RTL2/Fox Kids), die Pokémon-Welle
weiterzuführen und auszudifferenzieren. Auf dem deutschen Markt
löste Digimon Mitte 2001 Pokémon oftmals als das entscheidende
peer-relevante Medienarrangement ab. Auf Flohmärkten versuchten
Kinder, ihren "Schatz" an Pokémon-Karten wieder
zu verkaufen, um nun in Digimon Sammelkarten zu investieren. Hierbei
mussten sie leider schmerzlich den Wertverlust ihres "Schatzes"
kennen lernen. Sicherlich ist auch dies eine wichtige Erfahrung
für Kinder, die es aber aus pädagogischer Perspektive
zumindest emotional abzufedern gilt.
In die Presse kam Pokémon erst 9 Monate nach Sendestart.
Die hohen Quoten waren aber bereits einen Monat nach dem Start der
Sendung erreicht. Eine These, warum sich hier das Interesse der
Kinder und die öffentliche Aufmerksamkeit zeitlich so unterschieden:
Erst als der Alltag der Familien durch Pokémon infiltriert
war und die Kinder immer mehr mit Geldforderungen für Licensing-Produkte
kamen, richtete sich die Aufmerksamkeit der Erwachsenen auf das
Thema und es kam auf die Agenda der Presse. Öffentliche Diskussion
zum Thema Kinderfernsehen findet unter Erwachsenen über Kinder
statt. Das Interesse von Erwachsenen richtet sich eher auf ein Thema,
wenn es in ihrem Alltag relevant wird. Erst dann verkaufen sich
Artikel zu diesem Thema, und erst dann wird es für JournalistInnen
als Eltern oder Freunde von Eltern relevant.
Subjektiv-thematische Funktion: Fernsehen
wird zur Bearbeitung individueller Themen eingesetzt
Eine Rezeptionssituation oder das Gespräch
über Fernsehen entsteht selbstverständlich nicht ohne
Bezug zu den Inhalten. Dabei schaffen es Formate auf ganz unterschiedliche
Weise, die bei Kindern bereits vorhandenen Themen und typische Fantasien
aufzugreifen. Daily Soaps wie GZSZ werden für Mädchen
z.B. zum Fenster in eine Erwachsenen-Welt, in dem sie u.a. Perspektiven
für sich als zukünftige Frauen finden (vgl. Götz
2002). Pokémon nimmt ein grundsätzliches Muster mittlerer
Kindheit auf: das Sammeln als Form der "Aneignung von Welt".
Dies findet sich im Grundthema der Geschichte und im Licensing wieder.
In der Fantasie, selber Pokémon-Meister zu sein und viele
Pokémon zu besitzen, zu pflegen und zu beherrschen, treffen
sich dabei mädchen- und jungentypische Fantasien und Erzählmomente.
Zudem eignen sich die Pokémon-Wesen als Symbolisierung für
eigene Gefühle und individuelle Erfahrungen (vgl. Lemish 2003,
Götz et al. 2002). Was auf den ersten Blick wie ein ständiger,
sinnloser Kampf aussieht, ist für die Kinder z.B. Spiegelung
ihrer Gefühle und Innenwelten, wobei körperliche Auseinandersetzungen
so gut wie keine Rolle spielen. Anders beim derzeitigen "Hit"
bei Jungen: Dragon Ball Z (s. Abb. 2).
Dragon Ball Z zwischen starken
inneren Bildern und gesteigerter Aggressionsbereitschaft
Ende 1998 startet Dragon Ball bei RTL2, im
August 2001 Dragon Ball Z. Beide Formate können in den Hitlisten
und bei den Marktanteilen große Erfolge verbuchen. Auch wenn
Dragon Ball Z offiziell nicht als Kinderfernsehen ausgestrahlt wird,
sehen durchschnittlich jeden Abend 460.000 3- bis 13-Jährige
die Serie, drei Viertel davon Jungen.
Bei Dragon Ball Z geht es nicht nur aus medienanalytischer Sicht,
sondern auch aus der Sicht der Kinder und Pre-Teens um Kampf und
starke Kämpfer. In Interviews mit 70 regelmäßigen
Dragon Ball Z-Seherinnen und -Sehern zwischen 6 und 15 Jahren wird
deutlich: Sie beschreiben und mögen die Serie wegen ihrer Kämpfe.
Über sie unterhalten sie sich, spielen sie nach und von ihnen
träumen sie (vgl. Götz/Ensinger 2002). Jungen können
mit Dragon Ball Z leicht "jungenhafte" Kommunikation herstellen.
In ritualisierten Rollenspielen auf dem Schulhof beispielsweise
erleben sie im körperlichen Kontakt mit anderen ihr Junge-Sein.
Die wenigen Mädchen, die sich für die Serie begeistern,
können sich mit dem Format als härter, als durchsetzungsfähig
und "nicht mädchenhaft" inszenieren. Die interaktiven
Funktionen verbinden sich hierbei mit den subjektiv-thematischen,
wodurch Dragon Ball Z auch in die "inneren Bilder" (Klemm
2002) von Kindern und Pre-Teens eingeht. Aus ihrer Sicht gewinnen
sie durch die Sendung z.B. Selbstbeherrschung. Der 10-jährige
Torben beschreibt die Bedeutung, die Dragon Ball Z für ihn
hat:
"Dragon Ball ist wie ein Kissen -
wenn ich falle, tut es nicht weh, denn ich bilde mir ein, dass ich
ein Kämpfer bin." (Torben, 10 Jahre)
Torben hat das Gefühl, das Bild des
Kämpfers aus Dragon Ball Z unterstützt ihn in der Beherrschung
von Schmerzen. Andere haben das Gefühl, mit Dragon Ball Z härter
und wehrhafter geworden zu sein.
"Ja, ich habe gelernt, mich zu verteidigen
und besser auf mich aufzupassen." (Judy, 14 Jahre);
"Ja, ich fühle mich irgendwie stärker oder so. Wenn
mich einer schlägt, z.B. in der Schule, dann schreie ich richtig
und schlage fest zu, so wie in Dragon Ball. Früher habe ich
mich nicht gewehrt." (Bülent, 10 Jahre)
Abbildung 2: Jungen malen Dragon Ball
Z
Insbesondere Pre-Teens haben das Gefühl,
durch die Serie wehrhafter zu werden. Aus der Jungenforschung ist
bekannt, dass Jungen sich durch andere Jungen bedroht fühlen
(z.B. Winter/Neubauer 1998). Von Dragon Ball Z gewinnen sie innere
Bilder voller Stärke und Härte, fühlen sich gewappneter
gegen diese Bedrohung. Die Stärke beruht dabei eindeutig auf
Aggressionsbereitschaft, das Auseinandersetzungsmittel ist der körperliche
Kampf. Damit werden sie selbst wiederum zur potenziellen Bedrohung
für andere - ein Zusammenhang, den die Kinder und Pre-Teens
selber nicht mehr erkennen.
Dragon Ball Z trifft ein häufig auftretendes
Thema von Jungen, hilft bei der individuellen Lebensbewältigung,
verschärft jedoch zusätzlich die Grundproblematik: Aggressionsbereitschaft
- ein Zusammenhang, der aus pädagogischer Perspektive ohne
Frage problematisch ist.
Eine öffentliche Diskussion über das Format hat in der
Presse bisher so gut wie nicht stattgefunden. Die wenigen Artikel,
die das Wort Dragon Ball Z enthalten, beschäftigen sich eher
mit dem Thema Manga bzw. Anime allgemein. Der Hintergrund ist vermutlich
die fehlende Wahrnehmung und dass es sich bei der Sendung offiziell
um keine Kinderserie handelt. Eine differenzierte öffentliche
Diskussion, die zum einen Jungen, ihre Ängste und ihre Suche
nach Orientierung ernst nimmt und zum anderen gleichzeitig auf Problembereiche
aufmerksam macht, wäre hier für alle Beteiligten hilfreich.
Zusammenfassend: Der Gebrauchswert von
Kinderfernsehen und die damit verbundenen Probleme
Kinderfernsehen hat aus verschiedenen Perspektiven
unterschiedliche Bedeutungen. Für Erwachsene ist Kinderfernsehen
zunächst etwas, was Kindheit symbolisiert, verbunden mit den
entsprechenden Hoffnungen, Wünschen und einer Prise Nostalgie.
Problembereiche liegen dort, wo die eigenen Vorstellungen die Wahrnehmung
und angemessene Einschätzung der Phänomene verhindern.
Für Kinder ist Kinderfernsehen Unterhaltung, Spiegelung eigener
Erfahrung, Orientierungspunkt, Kommunikationsanlass in der Peer-Group
oder auch Strukturierungspunkt im Alltag. Typische Problembereiche
finden sich zum Beispiel in der Überforderung durch Inhalte
wie Gewalt und Action (GZSZ) oder einseitig und in problematischen
Orientierungspunkten (Dragon Ball Z). Es sind aber auch fehlende
Kompetenzen und Erfahrungen, z.B. im Umgang mit den Trends des Marktes
(Pokémon/Digimon) (vgl. Grafik 2)
Grafik 2: Alltagsgebrauchswelt von Fernsehen
Eltern obliegt die Aufgabe der Vermittlung
eben dieser Kompetenzen. Im konkreten Alltag bedeutet dies die immer
wiederkehrende Auseinandersetzungen über Fernsehen und den
Kauf attraktiver Licensing-Produkte. Der pädagogische Auftrag
stellt hohe Anforderungen an Konfliktbereitschaft und Kompetenzen.
Gerade bei neuen Formaten ist es für Eltern oft schwer nachzuvollziehen,
wie Kinder diese im Alltag nutzen. Unverständnis oder Missverständnisse
können so schnell zum alltäglichen "verlorenen"
Kampf führen. Familienprogramme scheinen hier ein alltagstauglicher
Ausweg, mit dem Eltern auf ihre eigenen Interessen, ihr pädagogisches
Anliegen, aber auch auf die Wünsche der Kinder eingehen. Die
Angebote erfüllen diese Anforderungen jedoch nicht immer. Die
Presse - in ihrem Anliegen der öffentlichen Meinungsbildung
- leistet auf ihre Weise Aufklärung. Sie greift vorhandene
Trends auf und verstärkt sie (wie bei der Sendung mit der Maus).
Sie positioniert sich gegen Trends, ganz im Sinne vieler Erwachsener
(Pokémon). Dabei gelingt die Wahrnehmung aktueller Trends
und ihrer Problemlagen nicht immer (Dragon Ball Z). Einfache Argumentationsmuster,
die an der Realität und dem Forschungsstand vorbeigehen, finden
sich mittlerweile erfreulicherweise kaum noch. Die vermehrte Berichterstattung
aufgrund von Studien ist hier sicherlich ein richtiger und wichtiger
Schritt. Das Agenda-Setting (und damit die verkaufbaren Artikel)
im Bereich "Kinder und Fernsehen" ist derzeit jedoch immer
noch etwas träge und die Distanz zur Kinderkultur zu groß.
Hier gilt es, von Seiten der MedienpädagogInnen und MedienwissenschaftlerInnen
einen aktuellen Informationsfluss zu schaffen.
Ziel aller Beteiligten muss es sein, die Komplexität des Themas
zu erkennen, den Gebrauchswert im Alltag zu akzeptieren und zu verstehen
- ohne dabei die pädagogischen Problembereiche zu übersehen.
ANMERKUNGEN |
1) Jeweils Kinder 3- bis 13 Jahre. Quelle:
AGF/GfK PC#TV - RTL2 Medienforschung, 1. Halbjahr 2001.
2) Aus der Befragung der Pressestellen im Projekt "Kinder-
und Jugendfernsehen zwischen Markt, Öffentlichkeit und Alltag".
Hier Interview mit der Agentur PlanPunkt. Der Forschungsbericht
ist unter www.izi.de abrufbar.
3) Sehbeteiligung durchschnittlich 540.000 3- bis 13-Jährige
bei 122 Sendungen im ersten Halbjahr 2002 (Quelle: AGF-GfK PC#TV;
IP-Deutschland
4) Zum Sendestart gab es in den 75 überregionalen Zeitungen
und Magazinen 1999 insgesamt 4 Artikel, die vor allem auf die Erfahrungen
aus Japan verwiesen. Die eigentliche öffentliche Diskussion
um Pokémon setzte erst 9 Monate nach dem Start der Sendung
ein.
5) Bundesweit verteilt erhoben, Face-to-face-Interviews mit offenen
Fragen und Erzählanlässen; ausgewertet in Annäherung
an die Grounded Theory, computergestützt mit WinMax.
LITERATUR |
- Aufenanger, Stefan; Lampert, Claudia;
Vockerodt, Yvonne: Lustige Gewalt? Zum Verwechslungsrisiko realer
und inszenierter Fernsehgewalt bei Kindern durch humoreske Programmkontexte.
München: R. Fischer 1996, 203 S.
- Bachmair, Ben: Fernsehkultur - Subjektivität
in einer Welt bewegter Bilder. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996.
357 S.
- Dreier, Hardy: Pokémon: changing
the rules of the games. In: The SIS Youth Monitor,
-/2001/5, S. 8-12.
- Götz; Maya: Kinder und Familienfernsehen
aus der Sicht der Eltern. In: TelevIZIon, 14/2001/1, S. 41-48.
- Götz, Maya (Hrsg.): "Alles
Seifenblasen? Die Bedeutung von Daily Soaps im Alltag von Kindern
und Jugendlichen". München: KoPäd 2002, 396 S.
- Götz; Maya; Ensinger, Carolina:
Faszination Dragon Ball (Z): Zwischen starken inneren Bildern
und Aggressionsbereitschaft. Eine qualitative Studie zur Bedeutung
von Dragon Ball Z für Kinder und Pre-Teens. Zusammenfassung
der Ergebnisse: www.izi.de München: IZI 2002.
- Götz, Maya; Lemish, Dafna; Aidman,
Amy; Moon, Hyesung: Kinderfantasien und Fernsehen im mehrnationalen
Vergleich. In: TelevIZIon, 15/2002/1, S. 24-36.
- Hofmann, Ole: Sehen Familien anders
fern? In: TelevIZIon, 14/2001/1 S. 36-41.
- Lemish, Dafna; Bloch, Linda-Renée:
Pokémon: How Israeli children catch'em. In: Tobin, Joseph
(Hrsg.): Pikachu's global adventures: Making sense of the rise
and fall of Pokémon. Durham, N.C.: Duke University Press.
(im Druck)
- Tilemann, Friederike: "(...) da
scheiden sich welche, da lieben sich welche, da machen sie Kinder."
Ramona (10 Jahre, Fall 395) Pädagogische Überlegungen
zur Soap-Rezeption von 6-bis 10-Jährigen. In: Götz,
Maya (Hrsg.): "Alles Seifenblasen? Die Bedeutung von Daily
Soaps im Alltag von Kindern und Jugendlichen". München:
KoPäd 2002, S. 345-364.
- Tobin, Joseph (Hrsg.): Pikachu's global
adventures: Making sense of the rise and fall of Pokémon.
Durham, N.C.: Duke University Press. (im Druck)
- Vocke, Eva: "Wir reden immer über
die spannenden Storys meiner Lieblingssoap, über alles, was
so passiert" - Folgekommunikation und interaktive Funktion
der Soaps. In: Götz, Maya (Hrsg.): "Alles Seifenblasen?
Die Bedeutung von Daily Soaps im Alltag von Kindern und Jugendlichen".
München: KoPäd 2002, S. 89-97.
- Wagner, Ulrike; Bollig, Sebastian:
Pokémon im Medienmenü von Kindern. Ergebnisse einer
standardisierten Befragung österreichischer Kinder. In: Medien
Journal, 26/2002/1 (Pokémon in Österreich), S. 20-33.
- Winter, Reinhard; Neubauer, Gunther:
Kompetent, authentisch und normal? Aufklärungsrelevante Gesundheitsprobleme,
Sexualaufklärung und Beratung von Jungen. Eine qualitative
Studie im Auftrag der BzgA. Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung (BzgA) - Abteilung Sexualaufklärung, Verhütung
und Familienplanung (Hrsg.). Köln: BzgA 1998. (BzgA-Fachheftreihe.
14)
DIE AUTORIN |
Maya Götz, Dr. phil., ist wissenschaftliche
Mitarbeiterin im Internationalen Zentralinstitut für
das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI), München.
INFORMATIONEN |
Internationales
Zentralinstitut
für das Jugend-
und Bildungsfernsehen
IZI
Tel.: 089 - 59 00 21 40
Fax.: 089 - 59 00 23 79
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©
Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen
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