Dieter Wiedemann
Kinderfernsehen zwischen Fantasie und
Pädagogik
Notizen zum Kinderfernsehen in der
DDR
Das Kinderfernsehen in der DDR sollte
Jungen und Mädchen einen festen Klassenstandpunkt vermitteln,
dafür sorgen, dass sie sich für den Sozialismus und die
Stärkung der DDR einsetzen u.v.m. Was wirklich erreicht wurde,
wird jetzt wissenschaftlich untersucht.
Anders als das
Kinderfernsehen in der Bundesrepublik gehört das Kinderfernsehen
in der DDR zu den bisher kaum erforschten Gegenständen. Insofern
kann ich nicht wie mein Kollege Erlinger (s. S. 23 ff.) über
die Ergebnisse mehrjähriger Forschungen berichten, sondern
lasse Sie daran teilhaben, wie sich eine kleine Forschergruppe an
der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF), Potsdam, diesem
Forschungsgegenstand nähert.
Dabei geht es nicht primär um die Darstellung
eines Forschungskonzepts, sondern vorrangig um eine Diskussion vorhandener
Ergebnisse und möglicher Annäherungen an das Thema.
1. Zwischen Erziehung und Freizeitgestaltung
Das DDR-Fernsehen begriff sich als ein groß
angelegtes Erziehungsprojekt für alle, das sich einerseits
in Abhängigkeit von den jeweiligen "Verlautbarungen" der Herrschenden
auf ideologische Einflussnahme hin orientierte und sich andererseits
aus der Sicht der meisten MitarbeiterInnen und ZuschauerInnen als
Unterhaltungs- und Kunstmedium definierte:
"Das Kinderfernsehen verstand sich als wichtiges
Kettenglied im System der ErziehungsträgerInnen. In diesem
Sinn wollte es Lebenshilfe und -orientierung vermitteln, nicht nur
schlechthin Wegbegleiter für Generationen Heranwachsender,
sondern wirksamer Begleiter sein. ‘Staatsbürgerliche Erziehung’
– später durch den umfassenderen und ideologisch stärker
etikettierenden Begriff ‘kommunistische Erziehung’ ersetzt – war
auf die Herausbildung moralisch-sittlicher Verhaltensweisen und
Wertvorstellungen gerichtet. Im Blickpunkt des Kinderfernsehens
stand sinn- und kulturvolle Freizeitgestaltung..."1
Wie kompliziert dieser Spagat zwischen dem
staatlich gewünschten und nicht selten auch individuell gewollten
ideologischen Erziehungsauftrag einerseits und dem gleichermaßen
ausgeprägten Bemühen um Fantasieentwicklung, Kreativität
und Unterhaltung andererseits war, zeigen die thematischen Pläne
der Kinderdramaturgie. Da wird z.B. in der Planung für die
Jahre 1980/81 von der verpflichtenden Aufgabe gesprochen, "die komplexe
Erziehung der heranwachsenden Generation zu unterstützen, konstruktive
Lebenshilfe zu vermitteln, kommunistische Haltungen, Überzeugungen
und Ideale herauszubilden..., das bereichernde Gefühl für
die Schönheit der Kunst, für menschliche Beziehungen hervorzubringen
und ideologisch-ästhetische Imunität gegen alles Banale
und Fortschrittsfeindliche zu erzeugen" (S. 1).
Und etwas später:
"Der wichtigen Forderung nach reicher Fantasie,
die sowohl im Fernsehwerk prägnanten Ausdruck findet als auch
im Zuschauer angeregt werden muß, gilt besonderes Augenmerk.
Fantasie darf man jedoch nicht überanstrengen, so daß
sie in Selbstzweck und Verspieltheit umschlägt und dabei die
Wirklichkeit aus dem Blickfeld gerät... Eine größere
ästhetische Rolle kommt Fragen der Romantik zu (womit nicht
das Märchen gemeint ist, das weiterhin voll zur Geltung kommt),
einer wirklichkeitsbezogenen Romantik, die das Alltagsleben wirkungsvoll
über eine platte ‚Alltäglichkeit’ hinaushebt." (S. 3)
Zu Beginn der 70er-Jahre lasen sich die konzeptionellen
Hauptaufgaben noch folgendermaßen:
"Entsprechend den Leitlinien des DFF hat
das Kinderfernsehen innerhalb des Gesamtprogramms dazu beizutragen,
daß sich die Mädchen und Jungen einen festen Klassenstandpunkt
aneignen, ihre ganze Persönlichkeit, ihr Wissen und Können,
Fühlen, Wollen und Handeln für den Sozialismus, für
die allseitige Stärkung der DDR einzusetzen und ein von Optimismus,
Freude und Frohsinn erfülltes Leben zu führen... Es gilt,
die Dialektik zu meistern, hohen sozialistischen Ideengehalt mit
Massenwirksamkeit zu verbinden".2
Bemerkenswerterweise standen in den "offiziellen"
Konzeptionen Ideologie und Erziehung immer im Zentrum und die Kultur
eher am Rande. In den jeweiligen fernsehspezifischen "Umsetzungen"
standen aber fernsehästhetische Darstellungen von "Kindheiten
in der DDR" für Kinder in der DDR meist im Mittelpunkt. Außerdem
wurden die dramatischen Produktionen des Kinderfernsehens sowohl
in Kooperation als auch in – fernsehästhetischer –
Konkurrenz zu den anderen dramatischen Abteilungen des Fernsehens
der DDR wie auch zur Kinderfilmproduktion der DEFA und insbesondere
in Konkurrenz zu den Kinderprogrammen des bundesrepublikanischen
Fernsehens hergestellt.
Diese Mischung aus notwendiger Ideologieprosa
und gewolltem künstlerischen Anliegen konnte sich in ihren
Programmergebnissen zu Beginn der 80er-Jahre durchaus sehen lassen:
Gevatter Tod (RE: Wolfgang Hübner), Das große
Abenteuer des Kaspar Schmeck (RE: Grunter Friedrich) Spuk
im Hochhaus (RE: Günter Meyer – kam erst im Dezember
1982 bis Februar 1983 ins Programm,) gehören zu den zweifellos
gelungenen Ergebnissen dieser zwei Jahre. Moppel und das Manöver
über zwei Kinder von NVA-Angehörigen, Genosse Renner
und die geplante Serie Frag’ doch mal den ABV wurden offenbar
als politisch-ideologisches Schwarzbrot konzipiert, aber –
soweit ich weiß – nie realisiert.
Inwieweit dieses "Vergessen" der politisch-ideologisch
relevanten Angebote eine Reaktion auf ein verändertes Zuschauerverhalten
der Kinder war, kann gegenwärtig noch nicht schlüssig
belegt werden. Zumindest kann die folgende "Einschätzung" aus
dem Büro des Politbüroverantwortlichen für Agitation
und Propaganda und damit auch für das DDR-Fernsehen Verantwortlichen,
Joachim Herrmann, als ein Indiz in diese Richtung gesehen werden:
"Das Kinderfernsehen hat über mehr als
zwei Jahrzehnte eine erfolgreiche und zum Teil international beispielgebende
Arbeit geleistet. Die meisten Kindersendungen erzielten eine gute
Zuschauerresonanz und zeichneten sich durch hohe politisch-ideologische,
pädagogische und gestalterische Qualität aus. Lange
Zeit besaß unser Kinderfernsehen auch einen echten Vorsprung
gegenüber den Kindersendungen des BRD-Fernsehens. Dies betraf
vor allem viele der populären Kinderfiguren und die Kinderdramatik.
In den letzten Jahren sind Wirkungsverluste
eingetreten, weil nicht genügend den gewachsenen gesellschaftlichen
Anforderungen an das Niveau dieser Sendungen Rechnung getragen wurde.
So wurden im Kinderprogramm über viele Jahre kaum Neuerungen
eingeführt, die der gewachsenen Reife, insbesondere auch dem
höheren Bildungsstand der Kinder von heute gerecht werden.
Die Palette der Figuren ist im Wesentlichen gleich geblieben. Es
wurde zu wenig Wert darauf gelegt, Sendeformen zu entwickeln, die
in kindgemäßer Form zum Knobeln, Forschen und Mitdenken
anregen, die den Wissensdrang der Kinder befriedigen. Nicht genügend
wurden die Anstrengungen des BRD-Fernsehens beachtet, durch moderne
Gestaltungsformen die Wirksamkeit der Sendungen zu erhöhen."3
(Kursive Hervorhebungen,
D.W.).
Wegen dieser Wirkungsverluste sollten die
Programme des "ideologischen Gegners" ständig beobachtet werden:
"Es ist eine ständige Analyse der Vorhaben der Fernsehanstalten
der BRD zu sichern, damit rechtzeitig offensiv geeignete Konterprogramme
gestaltet werden können."4
Auswirkungen dieser Wirkungskonkurrenz auf
das eigene Programm äußerten sich aus der Sicht des langjährigen
Chefdramaturgen des DDR-Kinderfernsehens u.a. folgendermaßen:
"Das Bestärken von Wohlbefinden, Geborgenheit
und Zukunftsgewißheit in der Gesellschaftsordnung einerseits
und die Herausforderung andererseits, Einflüsse des ‘West’fernsehens
abzuwehren, indem man die Zuschauer an das eigene Programm binden
wollte, ergaben einen auf die Dauer nicht lösbaren Widerspruch.
Der Druck auf immer größere Attraktivität führte
unaufhaltsam zu Prinzipienverlusten, Zugeständnissen und Unverbindlichkeit.
Unterhaltsamkeit, Spiel und Spaß sowie insgesamt ‘Erlebnisfähigkeit’
wurden immer dringlicher zu maßgebenden Programmkriterien
erklärt..."5
Wie groß dieser Druck tatsächlich
war, lassen weiter hinten aufgeführte Forschungsergebnisse
des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig aus den
80er-Jahren erahnen, die zeigen, dass die Lieblingssendungen der
SchülerInnen in der DDR in dieser Zeit fast ausnahmslos im
bundesdeutschen Fernsehen gesendet wurden! Eine wesentliche Determinante
der Rezeptionsbedingungen für Kinder in der DDR war das Aufwachsen
mit bzw. in zwei politisch unterschiedlichen Medienwelten, die allerdings
thematisch und formal nicht erst in den 80er-Jahren sehr stark konvergierten.
Dennoch erfreuten sich Kindersendungen des
DDR-Fernsehens beim Zielpublikum – insbesondere bei dem im
Vorschulalter – durchaus großer Beliebtheit, wofür
Ergebnisse medienbiografischer Interviews (vgl. hierzu u.a. Bier,
Marcus6 und Hackl, Christiane7,
aber auch die sporadisch bekannt gewordenen Daten der Zuschauerforschung
sprechen:
"Für 1988 ist folgende Sehbeteiligung
ausgewiesen: Kinder im Vorschulalter sahen durchschnittlich zu 40%
das ihnen zugedachte Programm – auf das Sandmännchen entfielen
67%; Kinder im Unterstufenalter (6 bis 9 Jahre) widmeten sich ihren
Sendungen zu 20% – die Flimmerstunde erreichte im Mittel 40%; Kinder
im Mittelstufenalter machten von dem einschlägigen Angebot
zu 10% Gebrauch..."8
Der Fernsehempfang wurde bei DDR-Kindern
durch den Umstand begünstigt, dass nach Untersuchungen des
Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig Mitte der 80er-Jahre
bereits 21% der SchülerInnen in 3. Klassen und mehr als 30%
in 8. Klassen einen Fernsehapparat zur freien Verfügung hatten
und das Fernsehen mit mehr als 90% Zuwendung die beliebteste Form
kultureller Freizeitgestaltung war.
Die narrativen Kinderprogramme des DDR-Fernsehens
– es handelt sich hierbei um ca. 500 Eigenproduktionen (Märchenverfilmungen
und Studioinszenierungen, Verfilmungen von Gegenwartsliteratur und
von Originalstoffen, Filme für bestimmte Anlässe und solche
fürs "Normalprogramm" etc.) sowie um etwa 150 Theaterübernahmen
– waren Bestandteil des Gesamtangebots an Kindersendungen
und das betrug 1955 = 47 Stunden, 1960 = 267 Stunden, 1965 = 194
Stunden, 1970 = 383 Stunden (also erstmalig durchschnittlich mehr
als eine Stunde pro Tag!), 1975 = 404 Stunden, 1980 = 444 Stunden,
1985 = 580 und 1988 = 607 Stunden.
Diese Programme waren, wie andere Programme
auch, in das Gesamtgefüge des Staatsfernsehens in der DDR eingebunden
und gleichzeitig Gegenstand eines besonderen politischen und pädagogischen
Interesses.
2. Empirische Daten zum Mediengebrauch
von Kindern in der DDR
Die
DDR hatte, wie zu anderen Formen einer demokratischen Öffentlichkeit,
in den vierzig Jahren ihres Bestehens auch ein gestörtes Verhältnis
zur empirischen Sozialforschung. Öffentliche Meinung in der
DDR war das, was die Staatsmacht als solche deklarierte; empirische
Annäherungen an das tatsächliche Stimmungs- bzw. Meinungsbild
in der Gesellschaft waren nicht bzw. durften nicht Bestandteil des
öffentlichen Diskurses sein. Das heißt, DDR-BürgerInnen
konnten nicht nur nicht in ihrer Tageszeitung überprüfen,
ob ihre Fernsehnutzung vom Vortag der der quotenbestimmenden FernsehnutzerInnen
entsprach; es fehlten ihnen überhaupt statistische Daten zu
Meinungs-, Nutzungs- und Besitzverteilungen in der Gesellschaft.
Die methodisch durchaus aufwändigen
und finanziell in der Regel gut ausgestatteten Qualifizierungsaktivitäten
an Bildungseinrichtungen sowie die empirischen Studien der Akademie
der Pädagogischen Wissenschaften, des Zentralinstituts für
Jugendsforschung und der Zuschauerforschungen des DDR-Fernsehens
und -Rundfunks unterlagen strengen Geheimhaltungsvorschriften. Außerdem
war der Glaube an die Beweiskraft von Statistiken in der DDR durch
die Erfahrungen mit manipulierten Wahlergebnissen und Wirtschaftsdaten
ohnehin nicht gut entwickelt.
Im Zentrum der folgenden Darstellungen sollen
Ergebnisse zur Fernsehnutzung von SchülerInnen in der DDR aus
den 60er-, 70er- und 80er-Jahren stehen.
Eine Intervallstudie des ZIJ, beginnend bei
etwa 1300 Leipziger SchülerInnen aus 3. Klassen (also 9- bis
10-Jährigen), erbrachte 1985 die folgende Hitliste an Lieblingssendungen
im Fernsehen (offene Frage):
21% der Nennungen betrafen Unterhaltungssendungen,
z.B. Die verflixte 7 (ARD), Wetten, daß ...? (ZDF),
Donnerlippchen (ARD), die Mehrheit bezog sich auf Angebote
des bundesdeutschen Fernsehens;
22% entfielen auf Kindersendungen, z.B. Spaß
am Dienstag (ARD), Na, sowas!, Alles Trick, Die
Biene Maja etc. – auch hier ein sehr hoher Anteil an
Angeboten des BRD-Fernsehens;
28% auf Serien, z.B. Simon & Simon
(ARD) – auf diese Serie entfielen mehr als die Hälfte
aller Serien- bzw. 16% der Gesamtnennungen, Neumanns Geschichten
(DDR-Fernsehen), Tom und Jerry, Pan Tau und Schwarzwaldklinik
und
67% auf Spielfilme mit dem eindeutigen Favoriten
Winnetou (37% aller Nennungen und Mehrheit der Spielfilmnennungen).
Ein Jahr später favorisierten die gleichen
Kinder die folgenden Fernsehangebote:
Spaß am Dienstag, Verstehen
Sie Spaß?, Die verflixte 7, Filme mit Bud Spencer,
und Das Boot (!). Wiederum dominierten Angebote des BRD-Fernsehens,
mit einer noch deutlicher werdenden Tendenz zu solchen aus den Abendprogrammen
(7 der ersten 10).
Das heißt: Mitte der 80er-Jahre war
die Fernsehrezeption von älteren Kindern (9- bis 11-Jährige)
nur noch in einem geringen Umfang von Angeboten des Kinderprogramms
und schon relativ deutlich von Angeboten des BRD-Fernsehens bestimmt
(noch deutlicher zeigte sich diese Entwicklung, den Einfluss westlicher
Kinder- und Jugendkulturen betreffend, innerhalb ihrer Musikvorlieben).
Das heißt "Medienkindheit" in den 80er-Jahren
bedeutete für die Mehrheit der DDR-Kinder: Kindheit in unterschiedlichen
Mediensystemen bzw. -welten.
Was letztlich auch bedeutete: Sie wuchsen
mit unterschiedlichen politischen, kulturellen, medialen und wahrscheinlich
auch pädagogischen Bezugssystemen auf: Die Mehrheit der DDR-Bevölkerung
emigrierte medial allabendlich aus ihrem System, die sozialen Bindungen
an dieses System waren dennoch relativ stark. Denn: Konstant, im
Sinne von Grunderfahrungen, blieben eigentlich nur die sozialen
Bezugssysteme mit ihren durchaus möglichen problematischen
Implikationen.
Bevor ich weiter auf die damit verbundenen
Erfahrungen, Probleme etc. eines so strukturierten Kindseins in
den 80er-Jahren eingehe, sollen zunächst empirische Daten aus
früheren Jahrzehnten dargestellt werden.
Anfang der 60er-Jahre gab es in der DDR die
ersten Versuche von empirischen Analysen zum Themenkomplex "Schüler
und Bildmedien", zunächst untersucht am Beispiel des Spielfilms
(Hamisch 1959 und 1963), es folgten ab 1964 auch erste Studien zur
Fernsehnutzung von Schülern.
Fritz Beckert hatte 1964 eine erste "Standortbestimmung
des Fernsehens im pädagogisch-psychologischen Denken" vorgelegt.9
Im empirisch orientierten Teil seines Beitrags verwies Beckert u.a.,
darauf,
- dass "gegenwärtig mindestens 60%
aller Schüler in ‘Fernseh-Familien’ leben";
- dass "das wöchentliche Fernsehpensum
von Schülern der 6. Klasse ... bei 6,9 Stunden (liegt)";
- dass "ernsthafte Probleme... durch die
Teilnahme von Kindern an den Abendsendungen des Fernsehens aufgeworfen
(werden)".
Im gleichen Jahr erschien eine erste ausführliche
Darstellung der "Fernsehteilnahme und Fernsehgewohnheiten bei Jugendlichen",10
interessanterweise wieder aus dem Bezirk Karl-Marx-Stadt. Auf der
Basis einer Befragung von 4486 Schülern aus 4. bis 10. Klassen,
konnte der Autor u.a. feststellen, dass
- 62% der Schüler "Fernsehteilnehmer"
waren;
- die durchschnittliche Fernsehteilnahme
pro Woche zwischen 5.8 (4. Klasse) und 8.2 Stunden (9. Klasse)
schwankte;
- "eine Fernsehteilnahme bis zu 7 Stunden
wöchentlich zur Normalstruktur der Freizeitgestaltung eines
Schülers unserer Gesellschaft zu rechnen ist";
- Professor Flimmrich und Meister
Nadelöhr bei Schülern der 4. bis 6. Klassen besonders
beliebt waren, während sich bei den älteren Schülern
Spielfilme und Unterhaltungssendungen einer besonderen Beliebtheit
erfreuten;
- sich diese Tendenzen auch in den ermittelten
Sehbeteiligungen für ausgewählte Fernsehangebote widerspiegelte:
Professor Flimmrich zwischen 5,2% (9. Klasse) und 43,5%
(4. Klasse) Sehbeteiligung; bunte Unterhaltungssendungen zwischen
11% (6. Klasse) und 69,5% (9. Klasse); Für den Filmfreund
ausgewählt zwischen 2,6% (4. Klasse) und 50% (10. Klasse);
- "im Durchschnitt 14% aller Schüler,
die die Möglichkeit des Fernsehens besitzen, täglich
die Aktuelle Kamera (verfolgen)."
Eine Untersuchung von Rolf Kahl11
bei 500 Schülerinnen und Schülern aus 7. und 8. Klassen
(wiederum im Bezirk Karl-Marx-Stadt) zeigte ähnliche Nutzungsdaten:
Professor Flimmrich erreichte 58%, Zu Besuch im Märchenland
45% und das Sandmännchen 21%, während die untersuchten
Filme wiederum über diesen Werten lagen. Bestätigt werden
diese Nutzungs- und Beliebtheitsdaten außerdem in einer methodisch
interessanten Studie von Rolf Böhme12,
die ebenfalls vom Institut für Pädagogik an der Technischen
Hochschule Karl-Marx-Stadt realisiert wurde.
Zu Beginn der 70er-Jahre bricht die gerade
angefangene Tradition in der Veröffentlichung und Diskussion
empirischer Daten zum Fernsehgebrauch von Kindern und Jugendlichen
in der DDR bereits wieder ab. Teilweise wird auf die weniger kritisch
beäugte Kinonutzung bzw. auf die "Schubkastenforschung" ausgewichen;
zumindest durften die entsprechenden Forschungsergebnisse des Zentralinstituts
für Jugendforschung in Leipzig und auch die – weniger
kontinuierlich erhobenen – der Akademie der Pädagogischen
Wissenschaften nicht bzw. nur stark gefiltert und verschleiert veröffentlicht
werden.
3. Von der Ästhetik des Gewünschten
zur Ästhetik des Wünschenswerten?
Im ersten Teil meines Beitrags waren die
Themenkomplexe "ideologische Zielvorstellungen" für und "direkte
und indirekte Einflussnahme" der SED auf das Kinderfernsehen schon
kurz skizziert worden. Das Wissen um diese Zielvorstellungen und
Beeinflussungsversuche führte in Abhängigkeit von "politischen
Großwetterlagen", aber auch von individuellen Übereinstimmungen
oder Distanzierungen von solcherart Zielvorstellungen bei den MacherInnen
zu sehr unterschiedlichen Reaktionen.
Die
Suche nach Gestaltungsräumen für versteckte Botschaften
spielte hier ebenso eine Rolle wie der Wunsch nach einer (fernseh)ästhetischen
Erziehung der Kinder. Der Ehrgeiz, einfach gute Sendungen zu machen,
war ebenso vertreten wie der Glaube, in einer besseren Gesellschaft
zu leben und dieses Kindern auch vermitteln zu müssen.
Hinzu kommt, dass sich das Kinderfernsehen
der DDR immer auch den durch die Kinderangebote der DEFA-Studios
geschaffenen Maßstäben und gesetzten Erwartungen stellen
musste.
So gingen 12 der 20 von den Fachjurys während
der 6 zwischen 1979 und 1989 vergebenen "Goldenen Spatzen" an die
DEFA-Studios und nur 8 an das Fernsehen (kein einziger Spiel- bzw.
Fernsehfilmpreis übrigens). Und auch von den 24 Preisen der
Kinderjurys gingen 16 an die DEFA-Studios und "nur" 8 an das Kinderfernsehen
(hier waren allerdings 4 Fernsehfilme vertreten!). Bemerkenswert
hoch war in diesem Zusammenhang die Anerkennung der vom Fernsehen
produzierten Dokumentarfilme für Kinder.
Auch in der DDR-typischen institutionellen
Auszeichnungshierarchie wurde das DDR-Kinderfernsehen erst relativ
spät für höhere Weihen entdeckt (1978: Vaterländischer
Verdienstorden in Gold).
Es wird Aufgabe des von der HFF durchgeführten
DFG-Teilprojekts "Fiktionale Programme im DDR-Kinderfernsehen zwischen
ästhetischer Erziehung, Unterhaltung und Ideologievermittlung"
sein, die Frage nach einem eigenständigen ästhetischen
Stil des Kinderfernsehens der DDR und nach dessen Ausdrucksformen
(Bildsprache, Erzählhaltungen etc.) zu beantworten. Dabei muss
auch eine Diskussion darüber geführt werden, inwieweit
spezifische Fernsehformate überhaupt ästhetische Entwicklungen
ermöglichen bzw. zulassen können. Fernsehhistorische Forschung
kann insofern nicht losgelöst von Produktionsbedingungen und
institutionsinhärenten Parametern erfolgen.
LITERATUR |
Adameck, Heinz: 20.2.1965.
In: Bestand Büro Lamberz: Agitationskommission. Akte Fernsehen
der DDR (1963-66), SAPMO DY 30 / IV A 2 / 9.02 / 120
Beutelschmidt, Thomas: Sozialistische
Audiovisionen. Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg 1995.
Bisky, Lothar; Friedrich,
Walter: Massenkommunikation und Jugend. Berlin: Dt. Verlag d. Wiss.
1971.
Bisky, Lothar; Friedrich,
Walter: Massenmedien und ideologische Erziehung. Berlin: Vistas
1976.
Debatte Kinderfernsehen. Analyse
und Bewertung von TV-Programmen für Kinder. Berlin: Vistas
1998. 298 S.
Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.):
Fernsehen für Kinder - ein Bestandsverzeichnis. Potsdam: Verlag
für Berlin-Brandenburg 1995.
Erlinger, Hans Dieter u.a.
(Hrsg.): Handbuch des Kinderfernsehens. Konstanz: UVK-Medien Ölschläger
1995.
Erster Medienwissenschaftlicher
Tag der DDR: Rundfunk der DDR. 1990.
Führ, Christoph; Furck,
Carl-Ludwig (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte.
Band VI, Erster und Zweiter Teilband. München: Beck 1998.
Gutes Fernsehen - Schlechtes
Fernsehen!? RTL-Television (Hrsg.). München: KoPäd 1996.
Hamisch, Siegfried: Die Erziehung
der Schuljugend durch den Spielfilm. Berlin: Volk und Wissen 1963.
Heil, Karolus Heinz: Das Fernsehen
in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1953-1963. Bonner
Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland. Bundesministerium für
gesamtdeutsche Fragen (Hrsg.). Bonn u.a.: Dt. Bundesverlag 1967.
Heinze, Helmut; Kreutz, Anja
(Hrsg.): Zwischen Service und Propaganda - zur Geschichte und Ästhetik
von Magazinsendungen im Fernsehen der DDR 1952 -1991. Berlin: Vistas
1998, S. 331-372.
Hermann, Joachim: Bestand
Büro: Akte Fernsehen der DDR. Aufgaben. Vorbereitung Fernsehsendungen.
Einschätzung Fernsehfilm. Vorschläge Gestaltung Programme
... Meinungsumfragen bei Zuschauern. Analyse Wirksamkeit Fernsehen
DDR. Zusammenarbeit mit Autoren, SAPMO DY 30 / IV 2 / 2.037 / 41
Herrmann, Joachim: Bestand
Büro: Akte Fernsehen der DDR 1988-1989 (... Zusammenarbeit
Fernsehen der DDR-BRD. Kongreß Film- und Fernsehschaffende.
Gestaltung), SAPMO DY 30 / IV 2 / 2.037 / 43. Vorlage für das
Sekretariat des ZK. Betreff: Einführung eines gestalteten Nachmittagsprogramms
des Fernsehens der DDR für Kinder und Jugendliche.
Kahl, Rolf: Fernseherleben
und Fernsehverhalten 13- bis 14jähriger. Karl-Marx-Stadt: 1974.
(1971: Diss. Techn. Hochschule, Fak. f. Gesellschaftswiss.)
Kinder brauchen Helden. Power
Rangers & Co. unter der Lupe. Czaja, Dieter (Hrsg.). München:
KoPäd 1997. 311 S.
Kübler, Hans-Dieter;
Rogge, Jan-Uwe; Lipp, Claudia u.a.: Kinderfernsehsendungen in der
Bundesrepublik und in der DDR - eine vergleichende Analyse. Tübingen:
Niemeyer 1981.
Kübler; Hans-Dieter,
Swoboda, Wolfgang H.: Wenn die Kleinen fernsehen. Berlin: Vistas
1998. 379 S.
Paus-Haase, Ingrid: Heldenbilder
im Fernsehen. Opladen: Westdeutscher Verlag 1998.
Theunert, Helga; Lenssen,
Claudia; Schorb, Bernd: "Wir gucken besser fern als ihr!". München:
KoPäd 1995. 184 S.
Theunert, Helga; Bernd Schorb:
Jugendschutz im digitalen Fernsehen". Berlin: Vistas 1998.
Verband der Film- und Fernsehschaffenden
der DDR (Hrsg.): Film für Kinder. Diskussionsbeiträge
während des 2. Nationalen Festivals "Goldener Spatz" für
Kinderfilme der DDR im Kino und Fernsehen - Überlegungen nach
dem Festival. Berlin: 1981.
Weiler, Stefan: Die neue Mediengeneration.
München: Fischer 1999.
ANMERKUNGEN |
1Hans
Jürgen Stock: Das Kinderprogramm des DDR-Fernsehens. In: Das
Handbuch des Kinderfernsehens. Hans Dieter Erlinger u .a. (Hrsg.).
Konstanz, UVK Medien 1995, S. 43.
2Hans-Jürgen
Stock, a.a.O., S. 51.
3Bestand
Büro Joachim Herrmann, Akte Fernsehen der DDR. Aufgaben. Vorbereitung
Fernsehsendungen. Einschätzung Fernsehfilm. Vorschläge
Gestaltung Programme ... Meinungsumfragen bei Zuschauern. Analyse
Wirksamkeit Fernsehen DDR. Zusammenarbeit mit Autoren, SAPMO DY
30 / IV 2 / 2.037 / 41, zitiert nach: Ingelore König: Wenn
man die Welt nicht anders begreifen kann... Ästhetische Konzepte
des DDR-Kinderfernsehens: Zwischen Perfektion und Pädagogik",
unveröffentlichtes Manuskript (1999). Frau König verdanke
ich viele Anregungen für diesen Beitrag.
4Ebenda,
S. 43.
5Ebenda,
S. 43.
6Marcus
Bier: Im Wendekreis des Westfernsehens – Über den individuellen
Umgang mit der Television in der DDR. In: Hickethier, Knut (Hrsg.):
Deutsche Verhältnisse. Beiträge zum Fernsehspiel und Fernsehfilm
in Ost und West. Arbeitshefte Bildschirmmedien 41/1993, Universität
Siegen (DFG-Sonderforschungsbereich 240: Ästhetik, Pragmatik
und Geschichte der Bildschirmmedien).
7Hackl,
Christiane: Fernsehen im Lebenslauf. Eine medienbiographische Studie.
Konstanz: UVK 2001. (Leipzig 1999: Diss. Univ. Leipzig)
8Stock,
a.a.O., S. 59
9Beckert,
Fritz: Probleme der Standortbestimmung des Fernsehens im pädagogisch-psychologischen
Denken. In: Pädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis
der sozialistischen Erziehung. Berlin 19/1964/7, S. 583 ff.
10Otto,
Werner: Fernsehteilnahme und Fernsehgewohnheiten bei Jugendlichen.
In: Pädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der
sozialistischen Erziehung. Berlin 19/1964/4, Beiheft, S. 10-22.
11Kahl,
Rolf: Das Verhältnis dreizehn- bis vierzehnjähriger Schüler
zum Programmangebot des Deutschen Fernsehfunks. In: Film Fernsehen
Filmerziehung. -/1968/1, S. 44-60.
12Böhme,
Rolf: Entwicklungspsychologische Probleme des Fernsehverhaltens
von Kindern und Jugendlichen. Ebenda, S. 61-81.
DER AUTOR |
Dieter Wiedemann, Dr. phil., ist
Professor an der Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad
Wolf" in Potsdam.
INFORMATIONEN |
Internationales
Zentralinstitut
für das Jugend-
und Bildungsfernsehen
IZI
Tel.: 089 - 59 00 29 91
Fax.: 089 - 59 00 23 79
eMail: izi@brnet.de
internet: www.izi.de
COPYRIGHT |
© Internationales Zentralinstitut
für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) 2000-2002
Nachdruck oder Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur
mit ausdrücklicher Genehmigung des Herausgebers!
zum Seitenanfang
|