Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen, IZI

Ausgabe: 13/2000/2 - TEXTAUSZUG:



Dr. Stephanie Heckner


"Marienhof": Die Kernseife unter den deutschen Soaps

Positiv denken, nach vorn schauen und lieben - das machen die "Marienhöfler".



"Marienhof" ist unter den deutschen Daily Soaps die Kernseife. Echt und Ehrlich. So nehmen die Zuschauer den "Marienhof" wahr. Weniger rosa Seifenblasen, mehr Kanten, mehr Alltagsnähe. "Marienhof" ist die Welt um die Ecke, in der eine Menge passiert. Und das täglich, von Montag bis Freitag um 18.25 Uhr im Ersten.

Ein Kölner Stadtviertel ist seit mehr als fünf Jahren zur allabendlichen Verabredung von Millionen Zuschauern geworden. Jeden Abend kann man sicher sein, sie anzutreffen. Die Mutter aller Mütter Inge Busch, das Kölner Original, den Installateur Frank Töppers, den Lehrer Matthias Kruse, die Schwestern Billi und Lucy, Carlos, den Frauenschwarm, Sven, den Proll mit Herz und viele andere. Rund dreißig Charaktere, zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengewachsen in den Jahren, manche neu hinzugestoßen, wie die Familie Maldini, andere schon ewig dabei.
Provokativ könnte man sagen: Der "Marienhof" ist eine Art "Big Brother"-Haus.
Normale Menschen im Alltag. Ein bewusst gecasteter, bunt gewürfelter Haufen. Keine weichgespülten Einheitscharaktere, sondern greifbare, eigenwillige Köpfe.
Anders als bei "Big Brother" haben die "Marienhof"-Bewohner jedoch in ihrer Welt Ausgang. Ihre Erlebnisse und Emotionen sind reicher als die von zwölf eingesperrten Menschen in einem Alltag, der künstlich beschränkt ist.
Insofern ist der "Marienhof" auch irgendwie echter als "Big Brother".

Big Family: Die Marienhof-Schauspieler


Ein Geisteswissenschaftler geriet in der ZEIT kürzlich ins Schwärmen: "Noch nie hatten in der Geschichte so viele Menschen anderen Menschen so lange in ihrem Alltag zusehen können ... Unmöglich, die Sendung zu verfolgen, ohne sich selbst zu begegnen ... Erstmalig entwickelte sich das Drama des Alltags zum Gegenstand kollektiver Betrachtung." Das Drama des Alltags als Gegenstand kollektiver Betrachtung soll ein Novum sein? Die Welt um die Ecke, Menschen wie Du und ich, Alltag mit allen seinen Emotionen - das alles ist keine Neuerfindung von "Big Brother". "Marienhof" bringt das schon immer.
"Unmöglich", schreibt der Geisteswissenschaftler, "Big Brother zu verfolgen, ohne sich selbst zu begegnen." Auch das ist nicht wirklich neu.
Kommunikationswissenschaftler bezeichnen dieses für alle fiktionalen Programme bekannte Phänomen mit dem schicken Begriff der parasozialen Interaktion.

Ahnt Julia von Niks Scheinexistenz als Komponist?

Warum sehen die Zuschauer "Marienhof"?

Das Monheimer Institut hat das in einer vom Ersten in Auftrag gegebenen qualitativen Studie näher untersucht:
Man "findet sich irgendwie wieder". "Man hört einfach nur zu, hört sich die Probleme von denen an, es tut einem auch leid, man entwickelt auch Mitgefühl für die." "Das ist genau die Zeit, wo ich dann nach Hause komme, wo ich dann schon ein bisschen relaxt, was gegessen habe und dann ist 18 Uhr." "Im realen Freundeskreis kennen das auch viele und man kommt ins Gespräch und kann sich auch lustig darüber unterhalten." "Da kommt man leichter mit einem Fremden zum Reden."
Wissenschaftlich übersetzt heißt das: Eskapismus, Strukturierung des Alltags, Identifikation und Soziale Interaktion.
"Marienhof" heißt es in der Monheimer-Analyse "ist eine sozial-kommunikative Funktion zu eigen. Man unterhält sich nicht nur mit Freunden und Bekannten über neueste Entwicklungen und Trends des ‚Marienhof‘, sondern findet nach Ansicht der Zuschauerinnen durch dieses Verbindungsglied schneller Kontakt zu Dritten."
Täglich sehen Millionen zu, darunter viele junge Zuschauer. Mädchen gucken mehr als Jungs. Von Januar bis September 2000 lag der Marktanteil bei den 10- bis 15-jährigen Mädchen bei 28% (Jungen 11%).
Über 25% der 10- bis 15-Jährigen sehen "Marienhof" gemeinsam mit Erwachsenen.

Verantwortung für junge Zuschauer

Die Verantwortung, die wir als Macher dieses Programms haben, ist groß. Denn es ist eine Binsenweisheit, dass sich gerade junge Zuschauer, die noch dabei sind, sich im Leben freizuschwimmen, an "Marienhof" und den Charakteren, die dort täglich Konflikte durchleben und Entscheidungen treffen, orientieren. Klar, dass man zum Beispiel, wenn man erzählt, dass ein junger Mensch so verzweifelt ist, dass er nicht mehr leben möchte, ihn in der Serie dahin bringt, wieder Lebensmut zu schöpfen und der Geschichte eine positive Wendung gibt. Klar, dass man einen Vater, der sein Kind missbraucht, nicht ungeschoren davonkommen lässt. Klar, dass wir erzählen, wie wichtig es ist, ehrlich zu sein - gegenüber sich selbst und gegenüber anderen -, wie schön es sein kann, sich in der Familie oder im Freundeskreis aufgehoben zu fühlen, wie wichtig es ist, sich selbst und anderen zu vertrauen ... zum Beispiel Frederik.
Frederik Neuhaus ist glasknochenkrank und sitzt im Rollstuhl. Wir haben diese Figur nicht als hilflosen, bemitleidenswerten Menschen eingeführt, sondern als jemanden mit großem Selbstbewusstsein, der darauf Wert legt, nicht als Opfer gesehen zu werden. Ein Mensch, der im Rollstuhl sitzt und mit einem Mädchen eine Liebesbeziehung beginnt. Hannah ist HIV-positiv. Wie lebt es sich mit dieser Krankheit? Wie kann man normal mit HIV-Kranken umgehen? Wie kann ein HIV-positiver Mensch eine Liebesbeziehung führen? Alles Dinge, die wir erzählt haben.

Ulla Neuhaus stellt der Klasse von Dominik die neuen Mitschüler Toni und Dino vor

Man braucht nicht unbedingt eine Studie wie die der National Academy of Television Arts and Sciences in New York, um festzustellen, dass Soaps nicht nur unterhalten, sondern auch erziehen. In dieser Studie gaben 19% der Befragten an, sich zum ersten Mal intensiv mit dem Thema Aids beschäftigt zu haben, als ihre Lieblingssoap davon handelte.
"Marienhof" lebt wie jede Soap von Konflikten. Persönliche, berufliche, schulische, familiäre Konflikte. Wie Menschen Konflikte bewältigen, davon erzählt "Marienhof". Menschen, die glücklich mit rundem Bauch in der Sonne sitzen, nichts weiter vor und nichts zu bewältigen haben, sind für eine Soap keine dankbaren Geschöpfe. Sie würden die Zuschauer auf Dauer langweilen. Menschen aber, die es schwer haben, die unbedingt etwas wollen und denen es schwer gemacht wird, das zu erreichen, denen sehen wir gerne zu. Wenn wir die Menschen sympathisch finden, hoffen wir, dass sie ihr Ziel erreichen; wir orientieren uns an ihnen, wenn sie erfolgreich sind. Wenn wir sie unsympathisch finden, hoffen wir, sie fallen auf die Nase. Wir fürchten, dass sie andere durch ihre Taten ins Unglück stürzen.
Es geht also im "Marienhof", wie überall im Fiktionalen, darum, dass Menschen Konflikte bewältigen. Spannend und entscheidend daran ist, wie sie das tun. In dem Wie liegt unsere Chance des Erzählens. Da liegt die Chance, gerade jungen Zuschauern sinnvolle Orientierungshilfen für ihr eigenes Leben zu geben.
Eine Riesenherausforderung bei dem täglichen Zeitdruck im Daily Soap-Geschäft: Jeden Tag wird eine Folge produziert, jede Woche müssen fünf neue Geschichten erfunden, in ihren Erzählsträngen durchdacht und ins Buch gebracht werden. Das ist eine emotional-logistische Meisterleistung, vor der man größten Respekt haben muss, wenn die erzählerische Quintessenz wie beim "Marienhof" eine ist, die dem Zuschauer Mut macht und eine positive Lebensorientierung gibt.
In ihrer Art, das Leben anzupacken, sind die "Marienhöfler" dem Zuschauer ein Vorbild. Für alle gilt das Lebensmotto: We are one family. Positiv denken, nach vorn schauen und lieben – dann kann nichts schief gehen.

Zum Abschluß noch ein Auszug aus einem Brief von einem Teenie an Judith - ein Brief, der zeigt, wie intensiv und wie persönlich die Bindung junger Zuschauer zu den "Marienhöflern" ist.




DIE AUTORIN

Stephanie Heckner, Dr. phil., ist Leiterin der Redaktion Serien im Vorabendprogramm Fernsehen beim Bayerischen Rundfunk, München.

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