Yachten sind nicht mehr sicher. Von der iberischen Atlantikküste bis in die Straße von Gibraltar hinein greifen Orca-Wale gezielt Boote an. Meeresbiologen und Segler rätseln, was da los ist. Die Orcas organisieren sich. Und die Angriffe nehmen zu. Es begann vor drei Jahren mit 51 gezählten Attacken. 2021 waren es 207. Dann wurden 2022 bereits 443 Vorfälle zwischen Orcas und Segelyachten dokumentiert. In diesem ersten Halbjahr wurde die Zahl nochmals übertroffen.

"Vieles spricht dafür, dass wir es hier mit einer kulturellen Entwicklung zu tun haben. Eine Kultur, die darin besteht, bestimmte Boote zu stoppen. Die Orcas wissen genau, was sie dafür machen müssen. Es ist eine mehr als erstaunliche und faszinierende Intelligenzleistung und gleichzeitig ein Dilemma", sagt der Biologe Ulrich Karlowski von der Deutschen Stiftung Meeresschutz. Die Orcas von Gibraltar stehen unter strengem Schutz. Die Großfamilie zählt noch etwa 50 Tiere und ist vom Aussterben bedroht.

Die Orcas werden zu Pop

Das Verhalten der Orcas von Gibraltar hat es nun von der Beachtung in der Fachpresse in die weltweite Panorama-Presse geschafft. Und in die sozialen Medien. Denn diese Geschichte liefert alles. Naturschutz. Klassenkampf. Tiere. Die Meme-Maschine läuft. Die Orcas werden zu Pop.

Social-Media-User auf der ganzen Welt reagieren begeistert auf den Aufstand der Arten. Und sehr schnell setzt sich ein augenzwinkerndes Framing durch, dass die Orcas mit toughen Freiheitskämpfern assoziiert. Der Orca wird zu einem linken Maskottchen.

Denn die Analogien passen fast schon zu gut. Das Feindbild einer Luxus-Yacht, die bedrohte Spezies, die zurückschlägt. Unterdrückte, die sich sozialistisch organisieren und den Aufstand wagen. Die linke Lesweise ist auch deswegen so leicht, weil die Themen Animal Liberation und Social Revolution in vielen linken Diskursen zusammengedacht werden.

Die Geschichte ist die perfekte Projektionsfläche. Und ein bisschen Spaß darf ja noch sein im Internet, also überbieten sich die User in Memes, Bildtafeln, Comics und lustigen Sprüchen. Orcas haben eine Gewerkschaft gegründet. Orcas für den Klassenkampf. Manche Genossen haben Flossen. Be an Ally.

Die Assoziationsdrähte glühen. Von den Orcas kommen die User zu Debatten über Ausbeutung und landen beim Thema "Eat the Rich".

Eat-the-Rich-Debatten im Netz sind immer sehr unterhaltsam zu beobachten, weil alle sich fragen, wer gemeint ist. Viele Menschen reagieren defensiv und haben Angst, dass die Revolution ihnen Omas Haus wegnimmt. Sie regen sich eher über Sozialbetrug auf als über Cum-Ex. Sie fühlen sich dem erfolgreichen Manager näher, sind aber selbst nur eine Kündigung und eine Mieterhöhung vom Klassenabstieg entfernt.

Eat the Rich aber meint Yachten, deren Anker so groß sind, dass sie fußballfeldgroße Seegrasbänke umpflügen. Wie zuletzt im spanischen Mittelmeer. Das ist natürlich illegal. Aber immer wieder folgenlos, denn im malerischen Naturschutzgebiet trifft sich das Geld.

Der Aufstand der Arten

Haben die Tiere die Schnauze voll? Die einen Forscher vermuten, dass die Tiere nur ihren Jagdinstinkt auslebten. Können aber nicht beantworten, warum gerade jetzt?

Andere Forscher vermuten, dass das Verhalten der Tiere auf einem Trauma beruht. 2020 wurde ein schwangeres Walweibchen namens White Gladis von einem Boot verletzt. Meeresbiologen konnten tracken, wie Gladis daraufhin anfing, Boote zu rammen und gezielt die Ruder zu beschädigen. Die anderen Orcas machen es ihr seitdem nach. Orcas leben in Matriarchaten. Das älteste Walweibchen führt und nimmt auch lange nach ihrer Mutterfunktion wichtige Rollen ein, wie etwa die, Wissen weiter zu geben.

Und dann kommunizieren die Wale auch noch artenübergreifend. Neuerdings beobachten Forscher das ungewöhnliche Angriffsverhalten der Orcas auch an weiteren Meeressäugetieren. Im letzten Jahr wurden indische Grindwale gesichtet, die weit draußen im Atlantik ein französisches Segelboot gefährlich bedrängten. Drei Tage lang.

Ist das der Aufstand? Hatte Frank Schätzing Recht? In seinem Thriller "Der Schwarm" erzählte er vor fast zehn Jahren, wie Meeresbewohner eine Schwarmintelligenz entwickeln, artenübergreifend kommunizieren und anfangen, Boote anzugreifen. Oder ist das die Rache für Moby Dick? Der weiße Wal, der partout nicht sterben wollte und dessen Kampf mit Käptn Ahab auf wahren Vorkomnissen beruht.

Der Aufstand der Tiere triggert irgendwie eine kindliche Sehnsucht in uns. Und inspiriert uns zu sozialromantischem Kitsch. Wie etwa, anstatt dass wir Menschen uns verbünden und gemeinsam die Power fighten, treten wir nur nach unten. Nicht so die Orcas! Diese hochintelligenten Wale haben sich organisiert. Das ist der Spirit, den wir brauchen! Hashtag Team Orca! Sei ein Orca!

Passen die Schablonen?

Eat the Rich, manche Genossen haben Flossen, Fight the Power - das sind lustige Memes, die auch naiv sein dürfen. Und sie sind naiv, denn bei näherem Hinsehen segeln die Reichen unter den Reichen ja gar nichts selbst.

Die Orcas versenken keine dreistöckigen Mega-Yachten, deren Anker den Meeresboden umpflügen. Sie versenken eher die Sport-Yachten der unteren Oberklasse, also Segelboote unter 15 Meter Länge. Aber dann wiederum keine Motorboote der gleichen Größe. Die Stiftung Meeresschutz rätselt, warum ausgerechnet umweltfreundliche, mittelgroße Segelboote attackiert werden.

Es ist also nicht das Boot von Jeff Bezos, das da versenkt wird, sondern eher das eines erfolgreichen Dermatologen. Und um sein Leben fürchten musste am Ende allein der arme Skipper, der das Boot in der Nacht überführen sollte. Von wegen "Eat the Rich."

Aber da ist die Legende schon in der Welt: "Die Tiere verbünden sich und schlagen zurück. Die Natur erhebt sich. *Hartes Metal-Riff*. Das ist Extinction Rebellion – aber next Level." Der Orca ist jetzt Pop.