Bayern 2 - Zündfunk

Bestsellerautorin Margaret Atwood "Hätten wir Guillotinen, wir würden einander die Köpfe abhacken"

Sie schrieb mit "The Handmaid's Tale" DEN Dystopie-Roman schlechthin. Wer also könnte uns besser sagen, wie wir mit den großen Problemen dieser Welt umgehen sollen als Margaret Atwood. In einem ihrer seltenen Interviews spricht sie über koffeinhaltige Resilienz, die Französische Revolution und ihren neuen Essay-Band: "Brennende Fragen".

Von: Barbara Streidl

Stand: 09.01.2024

Die Schriftstellerin Margaret Atwood | Bild: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Chris Young

Margaret Atwood schrieb 1985 mit "The Handmaid's Tale" ("Der Report der Magd") DEN Dystopie-Roman. Die Dystopie war der patriarchale, christlich-fundamentalistische Gottestaat Gilead. Eine Militärdiktatur, in der Frauen als Brutkasten missbraucht werden. 2017 wurde der Roman als Serie erfolgreich adaptiert. Seitdem ist Gilead eine beliebte dystopische Pop-Referenz und Atwood eine Grande Dame des Feminismus.

Zuletzt hat Atwood "Brennende Fragen" veröffentlicht, eine Sammlung von Essays aus den Jahren 2004 bis 2021. Ein Stück Zeitgeschichte: von Barack Obama, #Metoo, über die Pandemie bis hin zu Trump. Und eine rückblickende Erörterung, wie visionär ihr Erfolgsroman damals war.

Die kanadische Bestsellerautorin feierte im November 2023 ihren 83. Geburtstag. Sie muss mit niemandem sprechen, aber dem Zündfunk auf Bayern 2 wollte sie ein Interview geben. Im Gespräch geht es auch um die Frage, wie wir heute – emotional in einer Dystopie angekommen – noch Hoffnung finden sollen.

ZÜNDFUNK: Welche "brennenden Fragen" stellen Sie sich derzeit? Auch in Rückblick auf das Jahr 2023?

Margaret Atwood: Es sind die Fragen, die sich alle anderen auch stellen: Zwei Kriege, in der Ukraine und im Nahen Osten, und dann noch die brennenden Fragen zu dem, was gerade brennt: In Kanada war der Sommer sehr schlimm für die Wälder. Alle sorgen sich heute um die Klimakrise, was in den 1980ern ein weniger drängendes Thema war. Die Klimakrise beeinflusst alles, von der Lebensmittelversorgung bis hin zu gesellschaftlicher Unzufriedenheit, die zu Kriegen führen kann.  

2017, mit dem Präsidentschaftswahlkampf von Donald Trump, wurde Ihr Roman "The Handsmaid's Tale" aus den 80ern erneut zum Beststeller. Und zu einer global erfolgreichen Serie. Das Thema der Unterdrückung der Frau wurde, leider, wieder hochaktuell. Sind Sie jemals "fertig" mit dem Thema?

Wenn die Welt nicht fertig ist mit diesem Thema, bin ich es auch nicht. Die Vereinigten Staaten wurden einst mit wundervollen Idealen gegründet. Gegen Abtreibung zu sein, sogar das könnte als Ideal verstanden werden, wenn man es abstrakt betrachtet – bis wir an der Stelle ankommen, an der Menschen tatsächlich sterben, weil sie bei Abtreibungen keine medizinische Unterstützung erhalten haben. Deshalb ist ein Verbot eine gute Möglichkeit, Menschen zu kontrollieren.

Was liegt gerade oben auf Margaret Atwoods Lesestapel?

Ich habe viel über die Französische Revolution gelesen. Angesichts all der gegenwärtigen Probleme finde ich es tröstend, von vergangenen Problemen zu lesen. Die Französische Revolution bringt alles mit, was wir heute haben, inklusive des russischen Angriffs oder der Schreckensherrschaft Pol Pots in Kambodscha. Wenn wir die Donald-Trump-Bewegung als eine Art Revolution in den USA betrachten, dann gibt es viele Ähnlichkeiten, etwa die internen Streitigkeiten. Heute gibt es keine Guillotinen mehr, aber wenn wir sie hätten … würden wir einander die Köpfe abhacken. Ich lerne daraus, dass alles auseinanderbricht, wenn es keine Möglichkeiten gibt, die ganzen wundervollen Ideale innerhalb einer Gesellschaft zu implementieren.

Die kanadische Autorin ist für viele eine feministische Ikone, weil sie für ihre eigene Meinung einsteht, und natürlich auch wegen ihres Romans "Der Report der Magd". Trotzdem wurde Atwood 2018 vorgeworfen, sie sei "a bad feminist", eine "böse, schlechte Feministin". Die Autorin hatte einen offenen Brief unterzeichnet, der der University of British Columbia eine Hexenjagd vorwarf: Ein Professor der Universität, Steven Galloway, war wegen angeblicher sexualisierter Gewalt öffentlich vorverurteilt worden, ohne gerichtliche Anklage, ohne die Möglichkeit für eine eigene Stellungnahme und ohne Beweise. Dagegen wandte sich auch Margaret Atwood, und schon ging der Shitstorm los: Die Grande Dame der feministischen Dystopie stellt sich auf die Seite eines Mannes? Der in der Öffentlichkeit als brutaler Serienvergewaltiger zum Abschuss freigegeben wurde? Atwood blieb standhaft, ertrug viele Schmähungen und freut sich heute, dass in mehreren Gerichtsverfahren jegliche Vorwürfe an Steven Galloway widerlegt wurden. Der wehrt sich inzwischen auch in Form einer Gegenklage gegen die Verleumdung.

Ist die Verweigerung der Vorurteilung auch Teil des Margaret-Atwood-Feminismus?

'Feminismus' ist einer der großen Begriffe, wie 'Christentum' oder 'Kommunismus', ein Wort, das Leute verwenden, ohne dass klar ist, was sie damit eigentlich meinen. Wenn man sieht, wie viele verschiedene Feminismen es gibt, Bewegungen, Unterbewegungen, Abspaltungen, Gruppen und verfeindete Gruppen: Wie definiert sich dann mein Feminismus? Ich sage nicht, 'Werft alle Männer über eine Klippe bis auf die 10 Prozent, die wir für die Fortpflanzung brauchen'. Ich sage, dass Frauen Menschen sind, was nicht sonderlich radikal klingt, aber auch kein Segen ist: Zum Menschsein gehören auch unangenehme Dinge. Frauen sind keine Engel, aber Menschen, und sie sind die Bürgerinnen von den Ländern, in denen sie leben, und sollten alle Rechte haben. Wenn wir da anfangen, können wir in alle möglichen Richtungen weitergehen.

Ist es heute schwieriger als früher, auch für eine Bestsellerautorin wie Margaret Atwood, eine eigene Meinung zu vertreten? Weil auch sie von allen im Netz kommentiert wird und sofort Liebe oder Hass erfährt, wenn sie nicht bestimmten Linien treu bleibt, sondern abweicht?

Nein, gar nicht, weil ich so alt bin. Ich habe seit 1971 keinen Job mehr, deshalb kann mich niemand feuern und deshalb bin ich auch nicht von Kollegen, einem Uni-Präsidenten oder irgendwem anders abhängig, der meint, ich hätte das Falsche gesagt.

Ökonomische Unabhängigkeit ermöglicht einer Frau jede Menge Freiheiten, sagt Margaret Atwood. Eine Frau, die einen Roman schreiben möchte, braucht also nicht nur ein Zimmer für sich selbst, wie Virginia Woolf es gefordert hat, sie braucht auch einen Job, der ihr Geld bringt und gedankliche Beweglichkeit ermöglicht.

Der Krieg in Nahost und in der Ukraine, Donald Trump macht in den USA mobil – da will man ja gar nicht mehr aus dem Bett heraus. Woher noch Hoffnung nehmen für die Zukunft?

Hoffnung steckt in uns allen. Wenn wir keine hätten, würden wir morgens nicht aufstehen. Wenn ich daran denke, dass der CO2-Ausstoß in den USA sinkt, ist das ein Zeichen der Hoffnung. Oder dass viele Menschen, die in den 90ern sehr selbstgefällig waren, jetzt daran arbeiten, die stark bedrohte Demokratie in den USA zu bewahren. Sie arbeiten auch daran, die Klimakrise aufzuhalten oder wenigstens Resilienz innerhalb des Systems zu ermöglichen. Und zu denjenigen, die es morgens nicht mehr schaffen, aus dem Bett zu kommen, sage ich: Denken Sie an den Kaffee. Raus aus dem Bett, in die Küche, und dann ein Kaffee – so finden Sie wenigstens ein wenig Freude.