Bayern 2 - Hörspiel


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Hörspiel des Monats Oktober 2022 "Welcher Art die Wärme ist" von Carmine Andreotti, Paola De Martin und Melinda Nadj Abonji

Die Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste benennt zum Hörspiel des Monats Oktober: "Welcher Art die Wärme ist " von Carmine Andreotti, Paola De Martin und Melinda Nadj Abonji

Stand: 18.11.2022 09:43 Uhr | Archiv

Im Vordergrund ist eine Rutsche zu sehen. Im Hintergrund eine Unterkunft für Flüchtlinge.  | Bild: picture alliance / KEYSTONE | LAURENT GILLIERON / BR

Begründung der Jury:

„Das Hörspiel „Welcher Art die Wärme ist“ beschäftigt sich mit einem bisher kaum beachteten Aspekt der jüngeren – Schweizer – Geschichte. In der dokumentarischen Hörspiel-Collage geht es um Geschichten und Einzelschicksale rund um die europäische Arbeitsmigration, die nach dem 2. Weltkrieg in Form diverser Anwerbeabkommen für sogenannte „Gastarbeiter“ oder „Saisonniere“ einsetzte. Jene darin verhandelten Episoden könnten in ähnlicher Weise auch über die Migration seit den 1950er-Jahren in der Bundesrepublik Deutschland erzählt werden.

Das Stück nimmt in Form thematisch getrennter und geschickt ineinander verflochtener Schilderungen die Perspektive dreier Autor:innen ein, die der zweiten Migrationsgeneration in der Schweiz angehören. Vor allem in den Erzählungen und den mehrfach eingestreuten Briefen der Schweizer Fremdenpolizei kommt u.a. die Brutalität der Prosa zu Tage, mit der junge Arbeitsmigrant:innen konfrontiert waren, die bspw. in der Schweiz Kinder bekamen. Jene Kinder galten mit dem Tag ihrer Geburt als Illegale. Eine weibliche Person italienischer Herkunft erzählt:

Ich bin am gleichen Tag geboren, wie ich ausgewiesen wurde, dorthin, wohin ich laut Behörden ‚hin-gehöre‘. Meine Eltern horchten auf und ‚gehorchten‘ sie verstanden und konnten doch nicht nachvollziehen, was genau sie verstanden hatten. Sie waren gefangen und gespalten. […] Ich war neun Monate alt, meine Mutter hatte mich seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, mit drei Monaten abgestillt und dann ab nach Zürich, erzwungenermaßen, das Gesetz verbot uns in der Schweiz zusammen zu leben. Die Eltern, meine Eltern, brachen dann das Gesetz wenige Jahre später, weil unsere Trennung nicht auszuhalten war. In der Zwischenzeit war ich ‚dort unten‘ und sie ‚hier oben‘.“

Das von 1931 bis 2008 geltende Schweizer „Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer“ sollte Arbeitsmigrant:innen daran hindern, sesshaft zu werden. Die Arbeitsverträge und Visa galten für drei Monate bis zu einem Jahr. Ein Familiennachzug war seinerzeit nur bedingt möglich, somit konnten in der Schweiz geborene Kinder keinen Aufenthaltstitel erhalten. Ab 1965 konnten Personen, die fünf Mal hintereinander sogenannte „Jahresaufenthalter“ waren, ihre Familie zusammenführen. Die bis dahin stattgefundenen Trennungen von Eltern und Kindern hatten über die Jahrzehnte hinweg Traumata zur Folge, über die bislang wenig gesprochen und berichtet wurde.

Das vorliegende Hörstück schließt in Teilen diese Lücke und zeichnet in sehr eindrucksvoller Manier vor allem mittels der literarischen Erinnerungsbilder jene grausamen Trennungsgeschichten nach. So wird ein Mädchen über Nacht vom Vater nach Ungarn zu den Großeltern gebracht und mit dem Satz „Ich komme wieder – sei brav“ zurückgelassen. In einer weiteren Episode wird der wesentlich ältere Bruder eines in der Schweiz ansässigen Kindes, der später aus Italien über den nun möglichen Nachzug in die Schweiz geholt wird, in der Familie quasi wie ein Fremder aufgenommen und konnte so nie wirklich in der Schweiz ankommen.

Die textuelle Bearbeitung der Episoden sowie die Inszenierung des Stücks machen in vielerlei Hinsicht äußerst eindrucksvoll die von Max Frisch herbeizitierte Kälte deutlich, mit der die aufnehmende Mehrheitsgesellschaft die sogenannten „Gastarbeiter“ empfing. Die hier realisierten Episoden stehen exemplarisch für jene durch die strukturelle staatliche Gewalt provozierten Erlebnisse: Für tausende jener Migrant:innen wurden sie zu einer traumatisierenden Realität. Hinzu kommt die beginnende Auseinandersetzung der zweiten Generation mit deren Eltern, die jahrzehntelang sprachlos waren und in vielen Fällen nicht über jene Zeit der Entbehrungen sprechen konnten. Viele Personen der zweiten Generation bekommen keine Antworten auf ihre Fragen: ihre Eltern verdrängten negative Erinnerungen oder starben frühzeitig. Das Stück widmet sich in beeindruckender Art und Weise jener im Zuge der äußerst relevanten Beschäftigung mit der eigenen jüngeren Geschichte bisher nahezu sprachlos gebliebenen Bevölkerungsgruppen. Die dramaturgisch geschickten Verflechtungen der einzelnen Geschichten mit der schonungslosen Prosa der Fremdenpolizei sowie die chorisch angeordnete Auseinandersetzung mit euphemistisch-zynischen Begriffen wie etwa „Gastarbeiter“ gleich zu Beginn des Stücks stehen beispielhaft für die überzeugende Bearbeitung und Regieleistung von Erik Altorfer. Die stets unter die sprachlichen Schilderungen als kommentierender Klangteppich gesetzte Musik (Komposition: Martin Schütz) verzahnt sich ebenso geschickt und gänzlich unpathetisch mit den sprachlich-stimmlichen Elementen.“

JURY

Ania Mauruschat, Medienkulturwissenschaftlerin, Radiojournalistin
Neo Hülcker, Komponist* und Performer*
Vito Pinto, Theaterwissenschaftler, Kulturarbeiter, Textwerker
Gastgebender Sender: Deutschlandfunk Kultur


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