Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen, IZI

Ausgabe: 13/2000/2 - TEXTAUSZUG:


Dr. Reinhard Winter

Jungesein heute: authentisch und normal


Fertige Vorbilder für Jungen auf dem Weg zum Mannwerden gibt es nicht mehr. Neben Orientierungen, die die Familie, der Freundeskreis oder die Schule bieten, finden männliche Jugendliche auch in Fernsehprogrammen (Soaps) Anhaltspunkte für das "modernisierte Männliche".

Als vor etwa 15 Jahren in Deutschland begonnen wurde, von der "Männerseite" her breiter auf Geschlechterverhältnisse zu schauen (vgl. z.B. Bongers, 1985; Hollstein 1988), war die Perspektive geprägt von feministischen Diskursen und der Kritik von Frauen an Männern und Männlichkeitsvorstellungen. Dementsprechend waren "der Mann" und "die männliche Sozialisation" vor allem eines: ein Problem. Die Wahrnehmung von Jungen und Männern orientierte sich am Negativen. Fast schon redundant setzten sich in diesen Diskussionen um männliche Sozialisation defizitorientierte Schlagworte fest, die den Blick auf Jungen und Männer dominierten: "Dominanzansprüche", "kleine Helden", "Hauptsache Arbeit", "Männer/Jungen können keine Gefühle zeigen"; "fehlende Väter", "3-Minuten-Sex" usw. In der Abstraktion dieser Wahrnehmung wurde gar geglaubt, "Prinzipien" männlicher Sozialisation und Lebensbewältigung ausmachen zu können – z.B. Externalisierung, Benutzung, Stummheit, Gewalt, Körperferne, Kontrolle (vgl. Böhnisch/Winter 1993) – ohne nur ein Wort über stabiles, moralisch gutes oder gelingendes Junge- und Mannsein zu verlieren.

Dieser Blickwinkel war ohne Zweifel sehr wichtig. Denn nur so konnte es gelingen, Jungen- und Männerthemen aus dem "Allgemeinen" freizusetzen. Bis dahin galt: Mädchen (Frauen) sind das Besondere und Jungen (Männer) das Allgemeine. Paradoxerweise verschwand durch diese Normalisierung und Verallgemeinerung der geschlechtsbezogene Blick auf Jungen überhaupt und gleichermaßen auf das Besondere bei Jungen. Das damals Neue war die Entdeckung (von Frauen), dass Jungen und Männer – ebenso wie Mädchen und Frauen – "gemacht" werden. Die Folge daraus lag auf der Hand: Erst durch veränderte Sozialisationsbedingungen können sich auch die Geschlechterverhältnisse ändern.

So einfach, wie es damals notwendig war, kann "männliche Sozialisation" heute nicht mehr diskutiert werden. Indem Jungen und Männer ebenfalls als etwas "Besonderes" in den Blick kamen, wurde allmählich deutlich, dass es große Unterschiede zwischen den Jungen gibt. Und das bedeutet auch: "Die" männliche Sozialisation gibt es genauso wenig, wie es "die" Jungen oder "die" Männer gibt. Differenzierungen sind also wichtiger geworden – und doch muss es wohl so etwas geben, denn die allermeisten Jungen können wir ohne weiteres anhand vieler Merkmale sofort als Jungen identifizieren (auch dann, wenn sie nicht nackt sind).

Vielfalt des möglichen Junge- und Mannseins

Gesellschaftliche Tendenzen zur Pluralisierung von Lebensentwürfen und Lebenswelten bewirkten auch eine Öffnung zu einer Vielfalt des möglichen Junge- und Mannseins. Individualisierungsprozesse erweiterten ebenfalls das Spektrum dessen, wie sich ein Junge "als Junge" und ein Mann "als Mann" entwickeln, reflektieren oder darstellen kann. Umgekehrt entstanden neue Zwänge, sich selbst produzieren zu müssen – für viele Jungen und Männer heute eine so neue wie unbequeme Last (weshalb nicht wenige auf traditionelle Mannsbilder schielen und ihnen nachtrauern).

Ein weiterer Fortschritt in den Geschlechterdebatten brachte auch auf der Jungen- und Männerseite in den Blick, dass geschlechtsbezogenes Verhalten, dass auch Geschlechter gemacht werden. Es gibt also gewissermaßen eine "konstruktivistische Option"; die Geschlechter können immer situativ neu gestaltet, sie können so oder so oder so hergestellt werden. Das klingt sehr optimistisch. Allerdings lässt sich weder verleugnen noch verhindern, dass diese Offenheiten und Bandbreiten sehr schnell wieder verengt werden, wenn Strukturen und Alltagskulturen ins Spiel kommen. Die Gestaltung des eigenen Junge- und Mannseins ist eben längst nicht so offen und situativ frei, wie es die Moderne mit ihren schillernden Bildern suggeriert. Mehr subtil als offen werden in ganz vielen unterschiedlichen Bereichen nach wie vor Geschlechterungleichheiten als selbstverständlich transportiert – z.B. und strukturell ablesbar an reinen Mengenverhältnissen in Bezug auf Machtverteilung (in Unternehmen, Organisationen, der Politik usw.), in der Präsentation traditioneller Geschlechterstereotypen in den Medien, oder in der alltäglichen Arbeitsteilung und so weiter. Und trotzdem ist die Bandbreite des Möglichen heute viel größer. Es wird – sofern das Junge- oder Mannsein von der Persönlichkeit her als stabil und authentisch präsentiert wird – viel weniger oder viel später sanktioniert, wenn es Abweichungen vom Normalen gibt.

Gerade der Rückbezug auf das Individuelle zeigt: Diejenigen Jungen, die gut ausgestattet sind mit Ressourcen, können mit den neuen Chancen umgehen, sie sich aneignen, damit spielen oder sie gewinnbringend nutzen – sie sind geschlechtsbezogen die "Modernisierungsgewinner" unter den Jungen. Auf der Verliererseite finden sich meist Jungen aus der Unterschicht. Ihnen wird das notwendige Handwerkszeug für eine modernisierte Aneignung und Bewältigung der Geschlechterfragen vorenthalten und verwehrt. So wundert es kaum, dass Hauptschüler viel stärker an traditionellen Männlichkeitsmustern orientiert sind (Zimmermann 1998, S. 114).

Unabhängig von der Schichtzugehörigkeit ist im Hinblick auf das Jungesein und Mannwerden bezeichnend, dass wir bei allen Jungen und Männern ohne weiteres traditionelle Muster abfragen und reproduzieren lassen können (z.B. "ein Junge weint nicht") - das traditionell Männliche ist also immer noch "da". Auf der anderen Seite gibt es keinen Jungen oder Mann, der von sich behauptet, er entspräche vollständig diesen Vorstellungen. Gerade am Beispiel "weinen" wird der Bruch mit traditionellen Vorstellungen sehr gut deutlich: Was derzeit von unseren modernen Helden, den Stars in allen sportlichen Manegen - bei Sieg und Niederlage gleichermaßen - so ’rum- und weggeheult wird, ist unbeschreiblich und wäre noch vor zehn Jahren unvorstellbar gewesen. So ist die männliche Sozialisation in der Postmoderne von einer typischen Diskrepanz gekennzeichnet: zwischen Männlichkeit (Ideologien, Strukturen, Männlichkeitsvorstellungen) auf der einen Seite, den "gelebten" Formen des Junge- bzw. Mannseins auf der anderen Seite.

Für die geschlechtsbezogene Sozialisation von Jungen ist es heute typisch, dass Jungen mit diesem Spannungsverhältnis leben und umgehen. Jungen müssen sich hierin verorten und sich ihre Geschlechtsidentität aneignen – ohne dafür auf "fertige" Vorbilder oder gar eine modernisierte, entwickelte Übergangskultur zurückgreifen zu können. Das ist keine einfache Aufgabe, die ja noch zu den "klassischen" Entwicklungsaufgaben der Jugendphase hinzu kommt (Entwicklung der Persönlichkeit, Ablösung von den Eltern, Aneignung von Sexualität und Partnerschaft, Entwicklung von Berufsperspektiven usw.). In einem Netz von sozialen Arenen und Räumen suchen und finden Jungen das Material, den Stoff für die Aneignung und Bewältigung dieser Geschlechterfragen: bei den Eltern und im familiären Umfeld, in der Clique, bei ihrem besten Freund, ihrer Freundin, bei eigenen Erfahrungen und Experimenten, in Schule, Jugendarbeit und Jugendhilfe, am Computer und im Internet, in der Berufsausbildung und im Sport, in Zeitschriften, der Werbung und auf der Straße, beim Musikhören - und eben auch beim Fernsehen.

Fernsehen

Am Prozess der geschlechtsbezogenen Sozialisation sind sämtliche Medien beteiligt. Das Fernsehen ist dabei ein – mehr oder weniger wichtiges – Element. Wie alle Medien erfüllt auch das Fernsehen in Bezug aufs Jungesein und Mannwerden mehrere Funktionen:

  • Es vermittelt Standards (was im Fernsehen kommt, das stimmt), es präsentiert männliche Formen und Normen und setzt Normalitäten fest.
  • Es ermöglicht Aneignung. Jungen konsumieren zwar, wählen dabei aber aus, was sie brauchen können und sie integrieren dieses ebenfalls aktiv.

Das Fernsehen bietet Jungen also beides: Es stellt Geschlecht her und bildet ab, was es an Geschlechtlichem so gibt; und es wird konstruktiv benutzt, es bietet Vorbilder und bestimmte Bewältigungsmuster. Das (geschlechtsbezogen) massivste Risiko besteht beim Fernsehen dort, wo angeblich "geschlechtsneutral" produziert und präsentiert wird – in der Moderne oft hinter Gleichheitsfloskeln versteckt – und wo sich traditionelle Geschlechterfilter ungehindert durchsetzen. Nicht geschlechtsreflektiert heißt dann: Traditionelle Muster und Jungen"typen" werden präsentiert, weil nur diese unter der Perspektive "Jungen" wahrgenommen werden. Gerade wenn wir bedenken, dass Jungen aus der Unterschicht signifikant mehr fernsehen als solche aus Mittelschichten, wird dieser Aspekt besonders bedeutsam – denn wir wissen ja, dass Unterschichtsjungen eher rigide, traditionelle Männlichkeitsbilder vertreten.

Auf der anderen Seite findet sich in der Pädagogik wie beim Fernsehen oder in anderen Medien eine geschlechtsbezogen veraltete Perspektive. Hier wird die Zielvorstellung vertreten, Jungen müssten vor allem die "weiblichen" Seiten integrieren (womit sich Geschlechterzuschreibungen über die Hintertür wieder festsetzen). Mit "weiblichen Seiten" ist gemeint: Jungen sollten weinen, Opfer sein, starke Mädchen akzeptieren, von Heldinnen gerettet werden, sich Mädchen unterordnen. Dass solche Vorstellungen für Jungen wenig attraktiv sind, liegt auf der Hand. Als Orientierung dafür, wie das Junge- oder Mannsein in der Moderne geht, hilft beides nicht – weder traditionelle Rückgriffe noch ein negatives Abziehbild.

In der Konsequenz bedeutet dies, zunächst einmal die Jungen "als Jungen" wahrzunehmen, dann zu differenzieren (Jungen zu unterscheiden), sie selbst genauer in den Blick zu bekommen und diese Wahrnehmung von den gängigen, gefilterten Zuschreibungen Erwachsener zu trennen.

Im Rahmen der Untersuchung "Die Bedeutung von Daily Soaps für Kinder und Jugendliche" wurden aus diesem Grund – neben den üblichen geschlechtsbezogenen Differenzierungen – auch sechs Fallstudien erstellt, die sich ganz speziell und erstmalig mit dem engeren Fokus "Jungen und Soaps" befassen.

Jungen und Soaps

Nicolas, ein Junge aus der Nachbarschaft, ist 12 Jahre alt. Er spielt Gitarre und singt dazu, zusammen mit drei Freunden ist er schon mal aufgetreten. Fußball spielt er schon lange nicht mehr, er liest gerne und man kann sich gut mit ihm unterhalten. Unverkennbar ist Nicolas ein Junge. Und trotzdem entspricht er kaum dem, was wir als "typisch Junge" bezeichnen würden. Wenn ich ihn frage, wie er "als Junge" ist oder sein soll, kommt die spontane Antwort: "normal eben".

"Normal" und doch individuell höchst unterschiedlich sind auch die Jungen, die wir für unsere sechs Fallstudien zum Thema "Jungen und Soaps" besucht und begleitet haben. "Irgendwie" ist jeder ohne weiteres als Junge identifizierbar – aber keiner entspricht reduzierten Vorstellungen, wie sie im allgemeinen bei "typisch Junge" auftauchen (etwa: aktiv, laut, wild, durchsetzungsfähig, handlungsorientiert, unreflektiert...).

Bei jedem der Fälle lassen sich allerdings zwei große Bewältigungsthemen nachweisen, die die Jungen beschäftigen: Das ist zum einen der Bezug auf ihre Lebensphase, also auf die Jugend; zum anderen findet sich immer der Bezug auf die eigene Geschlechtlichkeit, auf ihr Jungesein und Mannwerden. Beide Aspekte hängen selbstverständlich eng zusammen. In den Soaps und in den sozialen Zusammenhängen der Rezeption suchen Jungen Stoff für beides. In der Altersgruppe der 10- bis 13-Jährigen lagen im Jahr 1999 die Marktanteile der Soap "GZSZ" bei den Jungen über 30%. Sie finden oder erhoffen sich z.B. Antworten auf die Fragen: Wie geht das Jugendlicher-Sein "als Junge"? Und: Wie geht das "Männlich-Sein" als Jugendlicher? Auch wenn wir umgekehrt sagen, dass der überwiegende Teil der Jungen keine Soaps sieht, so ist doch zum einen deren Anteil beträchtlich und die Motivation interessant.

Jugendphase "als Jungen"

Fünf der sechs untersuchten Jungen bekamen Zugang zu ihrer Soap – ohne Ausnahme waren alle sechs GZSZ-Rezipienten – direkt über Frauen, nämlich über ihre Schwestern oder ihre Mutter. Nur ein Junge begann GZSZ anzusehen, weil seine Freunde die Serie sehen und er mitreden wollte (aber auch hier kann angenommen werden, dass diese Jungen ihre Soap-Zugänge über Mutter oder Schwester erhalten haben). Auch das Genre-Image - Soaps gelten als "weiblich" – verweist darauf, dass hier Grenzen ins Fließen gekommen sind: Trotz dieser Zuschreibung – oder manchmal vielleicht sogar: wegen dieser Zuschreibung – sind Soaps auch für Jungen interessant geworden. Hier bildet sich ein Effekt von geschlechtsbezogener Modernisierung ab: Die Geschlechterwelten sind immer weniger strikt getrennt. Das bedeutet, dass sich (jetzt) auch ein Junge für dieses "Frauengenre" interessieren darf, wo es um Beziehungen, Liebe, Gefühle geht. Ermöglicht oder erleichtert wird diese Legitimation sicher auch durch die "Actionanteile" in der Soap – einige Jungen berichteten etwa von der zum Untersuchungszeitpunkt aktuellen Entführung.

Die Geschlechterwelten
sind immer weniger
strikt getrennt

Besonders auffällig und interessant waren in diesem Zusammenhang allerdings die Übergangs- und Ablösungsthemen, die bei unseren Fallstudien eher im sozialen Umfeld des Soapkonsums aufscheinen und mit denen besonders die jüngeren Zuschauer befasst sind: Bei dem 8-jährigen "Matthias" zeigte sich ganz prägnant, dass er gewissermaßen vor dem Entwicklungsschritt ins "eindeutig" Männliche noch einmal richtig "weiblich auftankt". Er sieht sich die Soap oft mit seiner Mutter und seiner Schwester an und genießt es, "mit der Mama auf dem Sofa zu liegen und nebenher etwas zu kuscheln". Die anstehende Ablösung von der Mutter wird so vorbereitet, der vorhandene Kontakt kann noch unbefangen genossen werden.

Bei "Dani", einem 9-jährigen Jungen, ist es ähnlich. Er interessiert sich viel weniger für das, was in der Soap passiert - ihm tut es gut, mit Mutter und Schwester zusammen etwas zu machen (und das könnte auch eine andere Sendung oder eine andere Tätigkeit sein). Als Sohn eines türkischstämmigen Vaters war Dani bereits Angriffen und Diskriminierungen ausgesetzt. Deshalb ist für ihn die Familie der sichere, "heile" Raum, während es draußen eher prekär, riskant und gefährlich wird. Bei Dani äußert sich darüber hinaus das Übergangsthema eher im Entwicklungsschritt vom Geschlechtsunspezifischen, Neutralen zum Bestimmten (Männlichen) an. Er bekam den Zugang zur Soap über seine Schwester. Sie schauen die Sendung zusammen an und er orientiert sich an ihr: bei lustigen Szenen nehmen sie Blickkontakt auf und lachen gemeinsam.

Höhen und Tiefen des individuellen Jungeseins

Reduzierte und traditionelle Männlichkeitsvorgaben oder -vorstellungen spielen heute für die meisten Jungen kaum eine Rolle (zumindest bewusst). "Normalsein" ist viel wichtiger. Dabei geht es den Jungen nicht um Unterwerfung (unter einen Normalitätsdruck), sondern um das Ausbalancieren verschiedener Tendenzen: sie wollen sich einfach nicht zu stark von den anderen unterscheiden, sondern integriert bleiben. Jungen wollen auffallen, aber nicht zu auffällig sein, gepflegt, durchschnittlich gut aussehend, aber nicht zu markant männlich oder zu muskulös, natürlich auch nicht schmächtig oder gar dick.

Selbstverständlich interessieren sich Jungen in der späten Kindheit und in der Jugendphase auch für Fragen, die sich um das "Männlich-Sein" drehen. Allerdings hat sich die Perspektive geändert. Früher lautete das Ziel: So sind "die" Männer, so will oder muss ich auch werden. Heute steht für die meisten Jungen die Bewältigung von Individualisierung im Vordergrund ihres Interesses: Ich bin/werde ein Mann – wie will/soll ICH mich gestalten?

Von diesem Punkt aus ist es nicht weit zu persönlichen Größenphantasien. Sie haben in der Jugendphase für Jungen die wichtige (und meist unbewusste) Funktion, den aktuell niedrigen Status emotional mit dem eigenen Potenzial zu verbinden. Auch hier bieten Soaps Möglichkeiten, sich "einzuhängen", mitzugehen und das Gelingende zu genießen. Für "Linus" fand dies etwa in der Situation statt, wo "der Kai mit seiner Band in der Schule gespielt hat – alle haben geklatscht und gejubelt". Dass sich hier seine Sorgen und Hoffnungen direkt mit der Soap verbinden, wird schnell deutlich, denn: "Wir haben auch eine Band gegründet, aber daraus ist leider nichts geworden".

Männliche Moderne managen

Der Bereich der Persönlichkeit rückte also in den Vordergrund - traditionelle Männlichkeit verlor dagegen stark an Wert. Wenn wir heute Jungen fragen, welche Eigenschaften ein Mann haben soll, und fassen wir diese zusammen, dann entsteht ein facettenreiches, ausbalanciertes Bild. Genauso zentral ist das Individuelle in Bezug auf andere Jungen oder Mädchen: das allerwichtigste ist offenbar, authentisch zu sein und zu bleiben. Wesentlich für´s Jungesein ist ein "guter Charakter", man soll einen "guten Eindruck" machen und über "Ausstrahlung" und das "gewisse Etwas" verfügen. Damit sind sicher auch die Möglichkeiten, wie Jungen sein dürfen, enorm gewachsen. Umgekehrt müssen sie sich fragen: Wie kann ich mich "als Junge" darstellen? Es steigt die Notwendigkeit, sich selbst – wieder "als Junge" – zu reflektieren und darstellen zu müssen: Um authentisch zu sein, muss ich ja wissen, wer ich bin, sonst spiele ich nur.

Wesentlich für´s Jungesein
ist ein "guter Charakter"

Dieselbe Frage stellt sich bei der Wahrnehmung anderer Jungen. Jungen fragen sich: Ist der das "in echt" oder spielt er nur? Die hohe Attraktivität der Reality-Soap "Big Brother" für Jungen kann auch mit der Vorstellung eines Einblicks ins "wirklich Wirkliche" von Männern (und Frauen) erklärt werden. Ganz anders als bei Spielfilmen oder Sitcoms wird hier der Schleier der Fiktion noch eine Spur dünner und lässt scheinbar fast ungefilterte Blicke in Geschlechterwirklichkeiten zu. (Die Faszinaton von Zlatko, der starke "Zlatko-Effekt" bei Jungen, lässt sich dementsprechend zum Teil so erklären, dass es Zlatko gelingt, seine dürftige Identität und vor allem seine Defizite mit einer ungeschminkten Dreistigkeit darzustellen – Authentizität pur dort, wo wenig Persönlichkeit zu finden ist.) Genre-Übergänge mit unterschiedlichen Darstellungsformen bringen die verschiedenen Wirklichkeiten noch mehr ins Schwimmen (wie z.B. Oli P.), auch die Realitäten scheinen sich damit zu verflüssigen.

Weil es in anderen Lebensbereichen kaum Anhaltspunkte für das "modernisierte" Junge- bzw. Mannsein gibt, werden solche Blicke – Einblicke hinter Fassaden des Privaten genauso wie die Ausblicke auf ihr späteres Mannsein – im Fernsehen bedeutsamer. Diese Funktion verweist auf einen ganz gravierenden Mangel in der Lebenswirklichkeit der Jungen. Das Jungesein wurde freigesetzt aus traditionellen Männlichkeitszwängen, ohne den Jungen (in Bildung, Familie, Jugendarbeit) passende "Tools" für den Umgang mit dieser Lebenslage anzubieten. In einer anderen Studie (Winter/Neubauer 1998) fasste ein Junge diese Situation treffend zusammen mit dem Satz: "Macho-Gehabe find ich blöd; deshalb kann ich wirklich nichts dazu sagen, was ich männlich finde." Stabile positive Markierungen und Orientierungspunkte für das "modernisiert Männliche" sind Mangelware. Und mit negativen Abgrenzungen – ein Junge ist dann ein guter Junge, wenn er nicht gewalttätig und nicht sexistisch ist – kommt man in der Entwicklung keinen Schritt weiter. Latent schwingt für Jungen an vielen Stellen die Frage mit: Wie kann ich meine männliche Moderne managen? Denn wenn die äußeren Zuschreibungen und stabile Fixpunkte fehlen, ist es offensichtlich, dass sie dieses Problem selbst angehen müssen.

Darüber hinaus werden in der Geschlechtermodernisierung – gewollt oder ungewollt – dem einen Geschlecht neue Aufgaben zugeschanzt, die von der jeweils "anderen Seite" nicht mehr unhinterfragt übernommen oder abgegeben werden. Für die (älteren) Jungen zeichnet es sich ab, dass sie das Beziehungsmanagement ihrer sozialen Netze auch dort selbst übernehmen müssen, wo früher die Mädchen aktiver waren: im emotionalen Bereich. So berichtet der 14-jährige "Klaus", dass Freunde von ihm sagen, dass er gut trösten könne und dass ihm andere gerne Probleme anvertrauen. In der Fallstudie "Linus" dreht sich – mit Abstand betrachtet – vieles um Freundschaft und Beziehungen. "Linus" ist selbst eher isoliert – und für ihn wirkt es völlig unrealistisch, dass sich in der Soap alle immer begegnen, dass die sozialen Netze "einfach so" funktionieren: "Die treffen sich immer, obwohl es ein paar Millionen Leute in Berlin gibt." Seine Lieblingsfigur "Kai" gefällt ihm, weil der "gut drauf und so locker" ist – Eigenschaften, die Kontakte stark erleichtern. "Linus" dagegen wirkt eher vorsichtig, höflich, anmutig, zurückgezogen. Deshalb wird die Soap, obwohl er sie regelmäßig ansieht, mit dem Prädikat "nicht echt" versehen.

Trotzdem scheinen manche Jungen – z.B. der 14-jährige "Steffen" – die Soap wie eine Art "heterosexuelle Gebrauchsanweisung" zu nutzen. Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen, wie auch zwischen Jungen, werden in den Soaps ja in allen Varianten abgebildet und abgehandelt. Und bei Bedarf, d.h. wenn diese Themen anstehen, können sich die Jungen hier bedienen; sie können miterleben oder überlegen, wie sie sich verhalten würden – also eine imaginierte Spiel-Ebene ohne die schmerzlichen Ernstfallrisiken.

Bei der Frage nach der Wirklichkeit sind die Einschätzungen aber unterschiedlich. Gerade in Bezug auf das Interesse der Jungen am "Männlichen" öffnet sich eine neue Perspektive. Die Rezeption von Soaps, die ja "irgendwie echt" dargestellt werden, kann so in der spannenden Frage gipfeln: Wie ist die Wirklichkeit des Mannseins wirklich? Der 14-jährige "Klaus" schaut schon sehr lange und regelmäßig GZSZ. Er hält die Soap für "sehr lehrreich" und "sehr realistisch" – gleichzeitig kann er über den Soap-Konsum auch eine gewisse Realitätsangst bewältigen: Mit Alkohol, Drogen oder Spielsucht braucht er sich selbst nicht zu befassen, das gibt es für ihn zum Glück nur in der Soap. Wie diese Gefahren können in der Soap auch die Risiken des Mannwerdens in der Moderne zunächst distanziert – und eben nicht "in echt" – betrachtet und verknüpft werden mit der Hoffnung, dass dieser Prozess des Mannwerdens letztlich doch gelingen wird. Schon der 8-jährige "Matthias" schaut sich dem entsprechend die Soap wie ein modernes Märchen an. Das Gute gewinnt immer und "alles wird irgendwie gut" – eine wichtige, verständliche und tröstliche Hoffnung für werdende Männer.

 

LITERATUR

Böhnisch, Lothar; Winter, Reinhard: Männliche Sozialisation. Bewältigungsprobleme männlicher Geschlechtsidentität im Lebenslauf. Weinheim u.a.: Juventa 1997.

Bongers, Dieter: Männerselbstbilder - eine explorative Studie über Auffassungen von Männlichkeit im Selbstbild junger Männer. Berlin: 1985 (unveröffentl. Diplomarbeit).

Hollstein, Walter: Nicht Herrscher, aber kräftig. Die Zukunft der Männer. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1988.

Winter, Reinhard; Neubauer, Gunter: Kompetent, authentisch und normal? Aufklärungsrelevante Gesundheitsprobleme, Sexualaufklärung und Beratung von Jungen. (BZGA-Fachheftreihe Bd. 14). Köln: BZGA 1998.

Winter, Reinhard; Neubauer, Gunter: Ich sehe was, was Du nicht siehst! Jungenperspektive und Erwachsenensicht in Bezug auf Körper, Gesundheit, Sexualität und Sexualaufklärung von Jungen. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.): Wissenschaftliche Grundlagen. Teil 2 - Jugendliche. Köln: BZGA 1999.

Winter, R.; Neubauer, G.: Dies und Das. Das Variablenmodell "balanciertes Jungesein" als Grundlage für die pädagogische Arbeit mit Jungen und Männern. Tübingen: Neuling, erscheint 2001.

Zimmermann, P.: Junge, Junge! Theorien zur geschlechtstypischen Sozialisation und Ergebnisse einer Jungenbefragung. Dortmund: Institut für Schulentwicklungsforschung 1998.



DER AUTOR

Reinhard Winter, Dr. rer.soz., ist Leiter des Fachbereichs "Jungen und Männer" bei IRIS e.V., Tübingen.

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