Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen, IZI

Ausgabe: 13/2000/2 - TEXTAUSZUG:


Dr. Hanna Permien

Von überschäumenden Gefühlen und Mädchenträumen


Bei ihrer Zeitreise durch die Pubertät machen Mädchen viele neue Erfahrungen: mit dem eigenen Körper, den Freundinnen, den Eltern und nicht zuletzt mit der Liebe und Sexualität.

Geschlechterrollen und Geschlechterrealitäten -
liegen immer noch Welten zwischen Mädchen und Jungen?

Die Mädchen heute halten sich gerne für gleichberechtigt und wollen auf keinen Fall "Emanzen" sein. Doch die Ungleichheit der Geschlechter – und damit auch strukturelle Benachteiligungen für Mädchen und Frauen – besteht und wirkt weiter - mittels der Prinzipien der Polarisierung der Geschlechter, d.h. der Betonung und Förderung von Geschlechtsunterschieden von klein auf, der geschlechtstypischen Arbeitsteilung und dem Machtgefälle zwischen den Geschlechtern (vgl. Hagemann-White 1984; zusammenfassend Permien 1997). Diese Prinzipien werden den Kindern in Familie, Kindergarten, Schule, Hort und natürlich auch von den Medien fast pausen- und lückenlos vermittelt. Die Arbeitsteilung z.B. erleben Kinder allein schon dadurch, dass die Erziehung von Kindern immer noch "Frauensache" ist und Kinder bis 10 Jahre kaum je einen Erzieher oder Lehrer haben. Diese Ungleichheiten sind aber so selbstverständlich, dass sie nur auffallen, wenn man genau hinguckt: So waren z.B. die in einer Studie befragten Erzieherinnen überwiegend der Meinung, die Mädchen seien doch inzwischen gleichberechtigt und Mädchen und Jungen würden von ihnen gleich behandelt. Dies entsprach aber weder unseren Beobachtungen noch den Wahrnehmungen der befragten Hortkinder: Mädchen wie Jungen hatten längst die Lektion gelernt, dass Mädchen schön und Jungen stark zu sein haben, dass Jungen wichtiger genommen werden als Mädchen, Mädchen den Jungen körperlich unterlegen sind und in Konflikten mit ihnen oft den Kürzeren ziehen (Permien/Frank 1995).
So unterscheiden sich die genannten Entwicklungsaufgaben der Pubertät denn auch in Bezug auf das, was sie für Mädchen und Jungen konkret beinhalten - wenn auch erst auf den zweiten Blick. Mein Blick gilt im Folgenden den Mädchen.
Die Ungleichheit der Geschlechter mag in den Herkunftsfamilien von Mädchen und Jungen unterschiedlich ausgeprägt sein - sie ist aber immer noch die gesellschaftliche Norm, von der die einzelnen Familien mehr oder weniger abweichen. Auch sind "die Eltern" kein geschlechtsneutraler Doppelpack: Der Vater oder auch Stiefvater, meist wenig präsent, aber vielleicht deshalb umso wichtiger, wird oft als "der erste Mann" im Leben des Mädchens bezeichnet. Er kann sie als ganze Person anerkennen und fördern oder nur in ihrer Weiblichkeit bestätigen, er kann sie aber auch einschränken, missachten, misshandeln und missbrauchen. Das Mädchen erlebt zudem, wie sich die Beziehungen und Machtverhältnisse zwischen ihren Eltern gestalten und ob die Mutter sich ihr selbst gegenüber als liebevoll und unterstützend oder als schwach, desinteressiert oder unsolidarisch verhält. Ohne dass das Mädchen zunächst großen Einfluss auf diese Familienbeziehungen nehmen kann, wird es davon in seinem Bild von sich selbst und seiner Rolle als Mädchen und zukünftige Frau, aber auch in seinem Bild von den Beziehungen und den Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen, sehr stark beeinflusst.

Die Pubertät als die Phase, in der sich Mädchen noch stärker als bisher mit der weiblichen Rolle auseinander setzen müssen, die neben ihren Verheißungen auch mit einer Vielzahl von Ambivalenzen, Abwertungen und Einschränkungen verknüpft ist.

Die Reise der Heldin durch die Pubertät: eine Reise mit Hindernissen

Barthelmes und Sander (1997) vergleichen den Aufbruch von der Kindheit in Pubertät und Erwachsenwerden mit einer "Reise des Helden" oder "der Heldin", die - wie die Helden und Heldinnen alter Sagen und Märchen - Abenteuer und Prüfungen zu bestehen haben, bis sie schließlich am selbstgesteckten Ziel sind. Greifen wir dieses Bild auf, so zeigt sich, dass die Heldenhaftigkeit der Mädchen sich weniger durch siegreiche Kämpfe mit spektakulären Ungeheuern erweist, sondern eher dadurch, dass sie geschickt durch einen Dschungel von Widersprüchen und Fallen für ihr Selbstwertgefühl steuern müssen, wenn sie zu einer selbstbewussten Frau werden wollen.
So konstatiert z.B. Renate Luca, dass die körperlichen Veränderungen in der Pubertät für Mädchen "eher - anders als für Jungen - Grundlage für vielfältige Verletzungen und Beeinträchtigungen des Ich bilden, als dass sie zur Stärkung des neu erworbenenen Frauseins beitrügen" (Luca 1993: 46). Die Autorin macht diese Behauptung an zwei Punkten fest: zum einen an der Menstruation, die unwiderruflich die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht symbolisiert. Als Tabu und Einschränkung erlebt und behandelt, genießt sie in unserer Kultur keinerlei gesellschaftliche Wertschätzung als erfreuliches Zeichen von Weiblichkeit. So stehen für die Mädchen am Beginn ihrer Reise auch kaum Stolz und Freude, nun eine Frau zu werden. Die fängt also für viele Mädchen zunächst mal schlecht an - eine "Identitätsverwirrung", so Luca, "die einer positiven Beantwortung der zentralen Frage im Jugendalter: ‚wer bin ich in meinem veränderten Körper‘ massiv entgegensteht" (a.a.O. S. 47). Eine weitere "Identitätsverwirrung" sieht Renate Luca darin, dass das sich entwickelnde "sexuelle Selbst" der Mädchen - ihr Verhältnis zu ihrem Körper und ihre eigenen sexuellen Wünsche und Gefühle - immer noch zu wenig gesehen und betont werden und damit eine insgesamt positive Ich-Identität zu wenig gefördert wird. Statt dessen müssen sich Mädchen in der Pubertät ständig mit dem Blick von außen auf ihren Körper auseinandersetzen (Luca 1993; Barthelmes/Sander 1997). Diese oft kritischen, oft aufdringlichen Blicke von außen - sowie ungebetene, vielleicht anerkennende, vielleicht vernichtende Kommentare - werden zentral dafür, ob ein Mädchen seine sexuelle Identität akzeptieren kann oder nicht.
Natürlich sind viele Mädchen stolz auf ihre neuen Formen, stolz, als attraktiv zu gelten und - vielleicht - eine Figur zu besitzen, die den Idealbildern dieser Gesellschaft für weibliche Schönheit entspricht. Natürlich stürzen sie sich auch gern in die Modeläden, die sich auf Kundinnen zwischen 12 und 20 spezialisiert haben. Beim Schminken und bei körperbetonten, gewagten Outfits zeigen die Mädchen auch weniger Hemmungen als ihre Mütter und Großmütter. Sie genießen natürlich auch die neue Aufmerksamkeit, sie testen aus, bei wem sie gut ankommen und ob sie etwa mit 13 schon für 16 gehalten werden. Sie spielen durchaus auch mit der Macht, die ihnen aus ihrer Attraktivität für andere erwächst (Breidenstein/Kelle 1998). Doch dieses "ich gefalle - also bin ich" (Olivier 1987) hat auch seine Haken.

Selbstwert

Nicht der "Gebrauchswert" ihres Körpers für sie selbst (z.B. seine Kraft, Gesundheit und Beweglichkeit) steht dabei im Mittelpunkt, sondern sein "Tauschwert", seine Attraktivität für andere. Dies macht die Mädchen häufig in ihrem ganzen Selbstwertgefühl abhängig von der Bewertung durch andere: "Schön bin ich erst, wenn mich die anderen schön finden". Selbst im Sport, den viele Mädchen als Hobby betreiben, wird Anmut gesucht (in Gymnastik und Tanz) und Wettbewerb gemieden. Wenn Mädchen Fußball spielen, so ist das die Ausnahme (Sygusch 1999) und eben nicht die Regel. Doch wo die Attraktivität so wichtig wird, dass sie alle anderen Qualitäten in den Schatten stellt, haben manche Mädchen keine Chancen - oder sehen zumindest keine für sich.

Mode

Für viele Mädchen ist Mode ein lustvolles Spiel, ein Hobby. Doch aus dem Gefallenwollen wird allzu leicht ein Gefallenmüssen - und das bei unbarmherzigen Einheitsnormen für weibliche Schönheit, die eigentlich nur vollbusige Magersüchtige erfüllen können. Diese Normen führen z.B. dazu, dass sich jedes zweite Mädchen von 13 bis 14 Jahren für zu dick hält (Brigitte 17/2000). Diese anderen vermeintlichen körperlichen Mängel - die zu kurzen Beine, der zu kleine Busen - können für Mädchen so zentral werden, dass sie sich kaum noch aus dem Hause trauen. Verständlich, wenn Mädchen folgendes Zitat aus der Zeitschrift "Mädchen" ernst nehmen: "Zu dick? Dann treibe doch ein bisschen Sport. Wenn du dich und deinen Körper liebst, lieben dich auch die anderen!"(20/2000, S. 31). Gelingt aber weder die Liebe zum eigenen Körper, so wie er nun mal ist, noch das Abnehmen, dann bleibt der weibliche Körper eine ungeliebte Ansammlung von "Problemzonen": Diese müssen dann eben nach Anleitung von BravoGirl etc. so gut wie möglich kaschiert werden. Die Frage ist hier nur: zum Nutzen der Mädchen oder der Medien- und Schönheitsindustrie? Der weibliche Körper, als Schauobjekt definiert, kann - so die Überzeugung vieler Mädchen, in der sie von den Medien kräftig bestärkt werden - erst zur Schau gestellt werden, wenn sie ihn "hergerichtet" und "zurechtgemacht" haben. So sagte uns die 13-jährige Marleen: "Manche Mädchen laufen in meinem Alter noch wie Kinder rum - aber ich würde nie mehr ungeschminkt oder ohne Markenklamotten in die Schule oder auf die Straße gehen." Für viele Mädchen heißt es also nicht einfach "ich bin ich", sondern "ich bin nur ich, wenn ich mich schminke und style" - sie führen quasi eine Fassadenexistenz. Denn, so die 15-jährige Julia: "Die meisten Mädchen nehmen BravoGirl und sowas nicht wirklich ernst - aber ein bisschen bleibt doch hängen." Ob aber die vielen Stunden vor dem Spiegel wirklich der Selbstfindung und Selbstvergewisserung dienen, darf bezweifelt werden. Dies nicht nur, weil viele Mädchen - ob es nun zu ihnen passt oder nicht - bis ins kleinste Detail kopieren, was gerade modisch angesagt ist: Bis sie schließlich wie uniformiert herumlaufen. Auch die wachsende Zahl von Essstörungen (die natürlich nicht allein auf das Schönheitsdiktat zurückzuführen sind) oder die Tatsache, dass bereits 30% der 10-jährigen und über 60% der über 15-jährigen Mädchen Erfahrungen mit Diäten haben (Brigitte 17/2000), lässt nicht an Selbstfindung, sondern an Selbstabwertung bis hin zur Selbstzerstörung bei einem nicht geringen Teil von Mädchen denken. Das gilt auch für das Rauchen: Mit 15 Jahren rauchen mehr Mädchen als Jungen - nämlich 63% der Mädchen und 57% der Jungen (Hackauf/Winzen 1999). Viele Mädchen nennen als Hauptgrund dafür, dass sie ihr Gewicht reduzieren wollen (Jugendhilfe-Report 3/2000, S. 25).

Sexualität

Zu denken ist auch daran, dass viele Mädchen ab der Pubertät nicht nur Kommentaren über ihr Aussehen, sondern auch sexuellen Anspielungen und Belästigungen bis hin zu sexueller Gewalt ausgesetzt sind - durch die Jungen in der Schule, durch Fremde auf der Straße, aber auch durch Personen aus ihrem Bekannten- oder gar engsten Familienkreis. Statt Stärkung ihrer körperlichen und sexuellen Selbstbestimmung erfahren Mädchen die (Über-)Macht der Männer nicht selten so, dass sie zum Sexualobjekt degradiert und darauf reduziert werden. Für Mädchen mit sexuellen Gewalterfahrungen ist nicht nur der Umgang mit ihrem immer weiblicher werdenden Körper besonders schwierig und schmerzlich, sondern sie leiden häufig unter weiteren schweren psychischen Schädigungen (Heiliger 2000).
Aus Angst vor sexuellen Übergriffen durch Fremde können Mädchen ihren Bewegungsradius im öffentlichen Raum sehr viel weniger ausdehnen als Jungen (Deutsches Jugendinstitut 1992). Sie sind also in ihrer Entwicklung zu Eigenständigkeit und Autonomie stärker eingeschränkt als Jungen und lernen, sich (auch) als potentielles Opfer zu sehen. So zeigt z.B. Renate Luca (1993), dass sich Mädchen - vor allem, wenn sie in Familie und Umfeld Gewalt durch Männer erfahren haben - beim Anschauen von Gewalt- und Horrorfilmen viel stärker mit den Opfern und deren Ohnmacht identifizieren als die Jungen, für die meist die Täter die Helden und Identifikationsfiguren sind. Horrorfilme - Stoff für Ohnmachtsphantasien von Mädchen und für Allmachtsphantasien von Jungen?
"Pass auf, die Männer wollen nur das eine" - ein Hinweis, der heute von Müttern sicher dezenter gegeben wird, aber seine Gültigkeit bestimmt nicht völlig verloren hat. Zum einen müssen und sollen Mädchen nicht mehr "so prüde" sein. Andererseits müssen sie immer noch aufpassen, nicht als "Schlampe" bezeichnet zu werden. Den Mädchen soll also eine "Balance zwischen Sittlichkeit und Sinnlichkeit" (Trauernicht 1992) gelingen, für die wiederum nicht sie selbst, sondern andere die Maßstäbe setzen. Mädchen sind also - obwohl sie sicher mehr dürfen als ihre Mütter - immer noch strengeren Regeln unterworfen als Jungen, was Ausgangszeiten und was die ersten festen Freunde anbetrifft. In Einzelfällen kann das zu so heftigen Konflikten führen, dass Mädchen von zu Hause weglaufen und auf der Straße oder in Heimen der Jugendhilfe landen (Hartwig 1990, Permien /Zink 1998).

Attraktivität

Körperlichkeit und Attraktivität von Mädchen werden also überbetont - und das in einem Alter, in dem sich auch ihre intellektuellen, emotionalen und sozialen Kompetenzen und Interessen entfalten. Diese sind für ihre Identitätsbildung und auch für ihre späteren beruflichen Chancen genauso wichtig - oder sollten es zumindest sein. Doch viele Mädchen erleben, dass Interessen, Intelligenz und Selbstbehauptung zwar in Familie und Schule zunehmend gefördert werden - körperliche Attraktivität und "typisch weibliche" Fähigkeiten wie Einfühlung und Anpassung an andere bringen aber immer noch mehr Anerkennung von außen: Eine Zwickmühle und weitere "Identitätsverwirrung". Der Versuch vieler Mädchen, Weiblichkeit = Attraktivität und Harmoniestreben einerseits und Leistungs- sowie Durchsetzungswillen andererseits ständig miteinander auszubalancieren, ist anstrengend und kann zu faulen Kompromisse führen. So "verzichten" Mädchen immer noch zu oft auf den Mathe- oder Computerkurs. Dagegen lassen sich bei Jungen körperliche Attraktivität mit Leistungs- und Durchsetzungsfähigkeit problemlos vereinbaren, ja, sie machen Jungen erst richtig attraktiv. Von daher ist es kein Wunder, dass das Selbstbewusstsein der Mädchen in der Pubertät eher ab- als zunimmt und dass Mädchen ihr Selbstbewusstsein viel weniger auf eigene Leistungen und Interessen stützen als Jungen (vgl. z.B. Horstkemper 1987; Hurrelmann 1990 Nuber 1992), obwohl sie darauf ja wirklich stolz sein könnten. Auch dass Mädchen in diesem Alter wesentlich häufiger über psychosomatische Beschwerden wie Kopf- und Rückenschmerzen, Nervosität etc. klagen - und wesentlich mehr Tabletten schlucken als Jungen (vgl. Kolip 1999; Sygusch 1999; Glaeske 2000), dürfte nicht nur mit ihrer größeren Sensibilität für ihren Körper zusammenhängen, sondern hat seine Ursache auch in diesen Widersprüchen, die die Reise der Heldin in die Verheißungen des Lebens als junge Frau leicht zu einem Hindernislauf werden lassen.

Selbstbehauptung

Auch und gerade die Pubertät gesteht den Mädchen kaum ein Lernfeld dafür zu, mit den oft schon früh unterdrückten eigenen Aggressionen sowie mit Konkurrenz und Konflikten offen, konstruktiv und im Sinne von Selbstbehauptung umzugehen. Besonders in diesem Alter gelten Mädchen als "zickig" und "intrigant" und werden in den Medien auch gerne dementsprechend dargestellt - so z.B. in einem Fotoroman der Zeitschrift "Mädchen", in dem die eine der anderen ihren Freund nicht gönnt und ihn ihr auf hinterhältige Art auszuspannen sucht. Lyn Brown und Carol Gilligan (1994), die die Entwicklung von Mädchen in den Jahren zwischen Kindheit und Pubertät untersucht haben, sprechen gar von der "verlorenen Stimme" der Mädchen. Es gibt zwar eine kleine, wenn auch zunehmende Zahl von Mädchen, die ausscheren aus dem Klischee des "braven Mädchens", die sich nicht mehr vor anderen fürchten wollen, sondern andere das Fürchten lehren, indem sie selber gewalttätig werden und darin eine Befreiung sehen (Bruhns/Wittmann 2000). Doch missglücktes männliches Verhalten nachzuahmen, kann nicht das Ziel sein. Zu wünschen wären den Mädchen noch weit mehr Möglichkeiten, selbstbewusst ihren eigenen Weg zu suchen, Konflikte offen anzugehen, ohne andere zu verletzen und sich nicht durch falsche Normen einengen zu lassen. Mehr "starke" weibliche Vorbilder - in der Realität und in den Medien - wären hier wichtig, um dies Gefühl "ich bin ich - und ich bin ok" zu stärken.

Neue soziale Welten: Mädchen zwischen Eigen-Willen und Anpassung


Die Mutter als Vorbild? Aufbegehren - einlenken - eigenständig sein!

Die "Haken", Hindernisse und Widersprüche, die die Überbetonung und Normierung der Körperlichkeit von Mädchen mit sich bringen, betreffen Mädchen mit verschiedenem sozialen, familiären und ethnischen Hintergrund in unterschiedlichem Maße. Doch Balanceakte zwischen fremdbestimmter Weiblichkeit und Eigenständigkeit als ganze Person sowie zwischen Sittlichkeit und Sinnlichkeit - Absturz inbegriffen - leisten alle Mädchen, wenn auch vielfach unbewusst. Dies ist einzubeziehen, wenn wir uns nun den oft schwankenden und überschäumenden Gefühlen der Mädchen und ihren Beziehungen zu den Eltern einerseits, den Gleichaltrigen andererseits zuwenden.
Mädchen heute haben es nicht immer leicht mit dem Aufbegehren und dem Streben nach Ablösung und Autonomie: Zu nah ist ihnen oft die Mutter und zu fern der Vater. Denn Väter, selbst wenn sie noch in der Familie leben, sind ja dank der gesellschaftlich vorherrschenden Arbeitsteilung noch immer viel weniger in den Erziehungsalltag eingebunden als die Mütter. Trotzdem prägen natürlich die guten oder schlechten Erfahrungen mit den realen Vätern in der Kindheit auch die Versuche der Ablösung. Gleiches gilt für die Mütter, allerdings fällt den Mädchen die Abgrenzung von der Mutter als Hauptbezugsperson aus der Kindheit, als Geschlechtsgenossin und Identifikationsfigur oft schwer.

Zu nah ist den Mädchen
oft die Mutter und
zu fern der Vater


Denn moderne Mütter verstehen sich oft als Beraterin ihrer Tochter und haben gerade dann Autorität, wenn sie nicht autoritär sind, sondern die Tochter gut kennen und viel Verständnis für sie haben (vgl. Barthelmes/Sander 1997). So sagt Leona, 13 Jahre: "Wenn ich jemand Neues kennenlerne und bring den mit nach Hause, dann sagt mir meine Mutter immer gleich, ob der oder die zu mir passt - und meistens hat sie recht, auch wenn ich es zuerst gar nicht hören will." Mütter erlauben und ermöglichen den Töchtern heute manches, was ihnen selbst verboten war oder wofür sie hart kämpfen mussten: Sie mögen sich - mit Recht - sehr viel liberaler vorkommen als ihre eigenen Mütter. Doch für die Mädchen in ihrem oft allzu stürmischen Drang, möglichst schnell und möglichst viel Neues kennenzulernen - z.B. in die Disco zu gehen und sich dabei weder an vereinbarte Ausgehzeiten noch an Jugendschutzgesetze zu halten - sind sie immer noch nicht liberal genug. So finden Mädchen doch immer wieder Stoff, um gegen die Mutter zu opponieren und sich von ihr abzugrenzen, wegen Ausgehzeiten, der Mithilfe im Haushalt - zu der Mädchen nach wie vor stärker herangezogen werden als Jungen (vgl. Deutsches Jugendinstitut 1992) -, wegen der Arbeit für die Schule oder der teuren Markenjeans, die die Mutter partout nicht bezahlen will. Natürlich kommt es auch zu Konflikten, wenn Mädchen rauchen, trinken oder gar beim Klauen erwischt werden. Zudem kann die Tochter den eigenen pubertären Weltschmerz, das Gefühl von eigener Unzulänglichkeit, Unsicherheit und Ungerechtigkeit der Welt gegen die eigene Mutter wenden oder ihr anhängen. Dann ist die eigene Mutter plötzlich nur noch "voll peinlich", kleinlich und ungerecht. Scharfsichtig und unbarmherzig wird plötzlich von der Tochter alles kritisiert und in Frage gestellt: was sie sagt und tut, und wie sie sich anzieht. Oft werden von der Tochter Kleinigkeiten aufgeblasen, um die Mutter lautstark zu konfrontieren und zu verletzen, danach die Tür zum eigenen Zimmer hinter sich zuzuschlagen und mit noch größerer Lautstärke die neuentdeckte "eigene" Musik aufzudrehen - die die Mutter (hoffentlich!) grässlich findet. Hat die Tochter dann genügend geschmollt und für ihre widersprüchlichen Gefühle Trost - oder auch Verstärkung - in ihrer Musik gefunden, so kann sie plötzlich auch wieder die Kleine sein, das Kind, das mit der Mutter schmusen, sie weiterhin als Vorbild haben und die Wirren und Widersprüche der Pubertät wenigstens kurzfristig vergessen will. Das geht gut bis zur nächsten Runde stürmischer Gefühle und Autonomiebestrebungen. Denn um etwas Eigenes zu werden, müssen neue Vorbilder her: Dann werden vielleicht eine Lehrerin oder die Heldin eines Romans oder eines Spielfilms zum Vorbild, weil sie neue Horizonte eröffnen und den Träumen der Mädchen Nahrung geben, wie ihr eigenes Leben später aussehen könnte. Den Medien, ihren Geschichten und ihren Stars, kommt nach Barthelmes/Sander (1997) in diesem Alter eine zentrale Rolle zu. Denn sie erfüllen heute die Funktion der Mythen früherer Zeiten, transportieren Bilder davon, "wie man Frau sein kann", und wie Frauen Beziehungen gestalten und Probleme meistern können. Diese Vorlagen werden von den Mädchen keinesfalls umstandslos und komplett übernommen, sie sind vielmehr ein Patchwork von Möglichkeiten, aus denen sich die Mädchen eigene Lebensentwürfe zusammenstellen oder zusammenträumen. Nach wie vor bevorzugen Mädchen übrigens Liebes-, Beziehungs- und Problemfilme, während für Jungen Abenteuer-, Science-fiction- und Horrorfilme größere Anziehungskraft haben (Luca 1993, Barthelmes/Sander 1997). Vermutlich werden also auch in der nächsten Generation vor allem die Frauen für die Beziehungsarbeit und die Männer für die Technik zuständig sein. So werden Geschlechterstereotypen und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung fortwirken - wobei zu hoffen ist, dass die Mädchen und Frauen mehr Respekt und Rücksicht für sich und ihre Aufgabenbereiche fordern. Auch wenn der später realisierte Lebensentwurf der Mädchen vielleicht gar nicht so weit entfernt sein wird von dem Leben ihrer Mütter - zwischen 10 und 15 ist erstmal Abgrenzung und Abnabelung angesagt. Nur so kann man der Mutter schließlich als selbstständige junge Frau begegnen, und sie dann - vielleicht - auf der Ebene der Gleichberechtigung zur Freundin wählen.



Die beste Freundin, die Clique, der erste Freund: Wen mag ich, wer mag mich, was machen wir gemeinsam?

Mit der Abgrenzung gegen die Eltern geht die Hinwendung zu Gleichaltrigen und Cliquen Hand in Hand. So sollte es zumindest sein, denn bei den Gleichaltrigen finden die Töchter den Rückhalt, den Stoff, aber auch die Power für die Abgrenzung von den Eltern.

Freundschaften

Da geht es zunächst um die Entwicklung und Vertiefung von Freundschaften zu anderen Mädchen, also um die "beste Freundin" - heute so wichtig wie eh und je. In der Grundschule drohen die Mädchen bei Konflikten mit anderen Mädchen häufig noch recht unbekümmert: "dann bist du eben nicht mehr meine Freundin!" (vgl. Permien/Frank 1995), doch im Alter zwischen 10 und 12 Jahren werden die Beziehungen zur "besten Freundin" dauerhafter und verlässlicher und nicht mehr so leicht in Frage gestellt. Mit der besten Freundin, so das Klischee und die Hoffnung aller Mädchen, kann man über alles reden, kichern, lästern, ohne verraten zu werden, die bisher unbekannten, widerstreitenden und rasch wechselnden Gefühle teilen, die sonst niemand versteht: "Ich habe einen Jungen kennen gelernt, du, der ist sooo süß!". Kennzeichnend für Mädchenfreundschaften sind weniger gemeinsame Aktivitäten und Hobbies, zentral ist das Reden über Beziehungen - zu Mädchen, zu Jungen - und über die Selbstdarstellung und die Wirkung auf andere. So entwickeln beste Freundinnen meist eine Menge Gemeinsamkeiten, einen ähnlichen Musikgeschmack und Kleidungsstil. Dabei ist, trotz aller Gemeinsamkeiten, auch "die Arbeit an den Unterschieden" von Bedeutung (Barthelmes/Sander 1997) für die Entwicklung von Eigenständigkeit: Die Auseinandersetzung mit dem etwas anderen Stil, der etwas anderen Meinung, den etwas unterschiedlichen Interessen der Freundin fördern die individuelle Entwicklung beider Mädchen gerade deshalb, weil das Gemeinsame soviel Rückhalt bietet. Sehr wichtig ist, dass die beste Freundin möglichst in derselben Klasse ist, oder Mädchen dort auch eine gute Freundin haben. Denn die Klasse ist für viele 10- bis 15-Jährige heute der einzige einigermaßen kontinuierliche soziale Ort, während die Bedeutung von Gleichaltrigen aus der Nachbarschaft oder aus der Verwandtschaft stark gesunken ist und die Zugehörigkeit zu Jugendgruppen, Vereinen etc. oft nur kurzfristig ist und weniger soziale Bedeutung hat (vgl. Deutsches Jugendinstitut 1992). Die Klasse ist allerdings ein sozialer Mikrokosmos, in dem das Klima oft rau und keineswegs immer herzlich ist. Zu zweit kann man sich in der Schule gegen gelegentliche Gemeinheiten anderer Mädchen, aber auch gegen anzügliche Bemerkungen, Neckereien und Übergriffe von Jungen auf Eigentum und Körper der Mädchen, besser abschirmen - oder sie souverän kontern. Eine beste Freundin - zumal wenn sie beliebt ist - steigert außerdem das eigene Ansehen, und man kann mit anderen miteinander befreundeten Mädchen in Kontakt kommen, ohne das "fünfte Rad am Wagen" zu sein.

Ein Leben ohne beste Freundin
ist für Mädchen sehr hart


Da Freundschaften in der Regel unhinterfragte Anerkennung in der Klasse genießen, kann der "Besitz" einer besten Freundin zudem davor schützen, etwa neben unbeliebten Kindern sitzen zu müssen. Außerdem inszenieren Mädchen ihre Freundschaft häufig so, dass beide noch weiter an Ansehen und Beliebtheit in der Klasse gewinnen. Ein probates Mittel dazu sind möglichst exklusive Geheimnisse, von denen man anderen allerdings so viel verrät, wie nötig ist, um interessant zu erscheinen (vgl. Breidenstein/Kelle 1998). Natürlich gibt es auch gelegentlich enge Freundschaften zwischen drei oder vier Mädchen, aber das erhöht die Komplexität und damit auch die Instabilität dieser Beziehungen. Klar ist jedenfalls, dass ein Leben ohne beste Freundin für Mädchen sehr hart ist. Denn zum einen ist für Mädchen vor allem Beliebtheit und weniger Leistung die Währung, nach der sich Anerkennung von außen und Selbstbewusstsein richten. Zum anderen läuft ein Mädchen ohne Freundin auch Gefahr, weiter ausgeschlossen zu werden.

Die Clique

Zu zweit oder mehreren gelingt Mädchen der nächste wichtige Entwicklungsschritt in Richtung Cliquenzugehörigkeit leichter, der dann auch Bewegung in die Beziehungen der Geschlechter bringt: Denn bis zum Ende der 4. oder 5. Klasse gruppieren sich die Kinder meist streng getrennt-geschlechtlich (vgl. Breidenstein/Kelle1998; Eder 1995; Oswald/Krappmann/v. Salisch,1988; Permien/Frank 1995). Es gibt zwar ein gewisses Maß an "Borderwork" zwischen Mädchen und Jungen, ganz selten aber sind "Paare". Haben ein Mädchen und ein Junge nämlich "zu viel" Kontakt zueinander, so werden sie allzu leicht mit Sprüchen wie "verliebt, verlobt, verheiratet" geärgert und lächerlich gemacht. Mit der Entwicklung von Cliquen, die zunächst oft nur aus Mädchen oder Jungen bestehen, kommt es zu stärkeren Unterscheidungen innerhalb der Geschlechtergruppen. Mädchen mit ähnlichen Interessen bzw. in einer ähnlichen Entwicklungsphase tun sich zusammen. So bilden sich z.B. Cliquen von "coolen" und von "ruhigen" Mädchen, wobei beide Gruppen nicht allzu viel voneinander halten. "Cool" sind die Mädchen, die sich früher als andere schminken und "aufstylen" als andere. Sie lesen eifrig "Bravo", pflastern die Wände ihres Zimmers mit Posters von männlichen Stars, tratschen und lästern über "die anderen", verbergen dabei aber nicht mehr ihr Interesse an Jungen sowie an der eigenen Selbstdarstellung als "attraktives Mädchen" (s.o.), sondern stellen dies ebenfalls als "cool" hin. Die "Coolen" halten die "ruhigen Mädchen" für "kleine Kinder", die aber lehnen ihrerseits Schminke, Seidenstrümpfe und weibliche Selbstdarstellung (noch oder grundsätzlich) heftig ab, ebenso das ewige Gerede der "Coolen" über Jungs und Liebe und angebliche Paarbeziehungen: "Im 6. Schuljahr ist die Konkurrenz der Stile ausgebrochen" (Breidenstein/Kelle 1998, S. 130). In den "coolen" Cliquen wird also nicht nur über Musik, Filme und Fernsehserien geredet und gemeinsam für diesen Star und jene Boy-Group geschwärmt und andere als völlig "uncool" verachtet. Vielmehr und vor allem wird die Annäherung von Jungen und Mädchen unter erotischen Vorzeichen vorbereitet. Immer wieder wird durchgespielt, wer in wen "verliebt" sein könnte - wobei es zunächst für die Mädchen eher verbindend als trennend ist, wenn sie alle für denselben Jungen schwärmen. Dazu kommen sexuelle Andeutungen und die Unterstellung sexueller Aktivitäten zwischen (angeblichen) Paaren, die von Mädchen und noch mehr von den Jungen nun zu allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten gemacht werden. Dies muss allerdings auch "cool", also mit deutlicher persönlicher Distanzierung passieren. Ebenso muss ein Mädchen möglichst "cool" Unterstellungen kontern können, sie sei in den - völlig unattraktiven - X oder Y verknallt, weil solche Unterstellungen höchst peinlich sind. Zum Glück gibt es auch für diese "Coolness" genügend Anregungen in den Medien. Kontern können muss ein Mädchen auch die Behauptung von Jungen, sie sei lesbisch, frigide oder eine Schlampe oder sehe unmöglich aus. Mit solchen ruppigen und sexistischen Bemerkungen, die die Jungen gerne als "Spaß" verstehen - nerven sie alle Mädchen, verletzen aber vor allem diejenigen, die ein geringes Selbstbewusstsein und einen schlechten Stand in der Klasse oder Gruppe haben. Die Mädchen ihrerseits verzichten den Jungen gegenüber weitgehend auf solche Kommentare und verfügen - leider - viel zu wenig über effektive und solidarische Mittel der Gegenwehr. Eher kommt es zu einer Aufspaltung der Mädchen: Sie ziehen sich - soweit möglich - auf sich selbst und die beste Freundin zurück, anderen gelingt es, sich in der Mädchenclique von den Jungen und ihrem Spott weiterhin fernzuhalten und ihren eigenen Interessen nachzugehen.

Paarbeziehungen

Wieder andere aber kümmern sich wenig um üble Bemerkungen der Jungen und bahnen mit Hilfe ihrer Clique erste Paarbeziehungen an - etwa, indem sie im Rahmen von Cliquenaktivitäten ihrem "Traumboy" aktiv näherkommen. Sie können sich dann jedoch auch schnell und unauffällig wieder zurückziehen, wenn dieser nicht "anbeißt". Manche Mädchen - meist mit hohem Status in der Klasse oder Clique - geben aber plötzlich mit Stolz zu, in einen Jungen verliebt zu sein: etwa mit 12, 13 Jahren kommt es zu dieser Umwertung. Das Verliebtsein ist nicht länger verpönt, sondern kann zum allgemein akzeptierten, ja, zu einem erstrebenswerten Zustand werden (Breidenstein/Kelle 1998) - allerdings keineswegs für alle Mädchen. In dieser Phase der ersten Paarbildungen kann es natürlich auch zum Bruch zwischen einst "besten Freundinnen" kommen, wenn das Entwicklungstempo beider Mädchen plötzlich doch sehr ungleich ist, oder wenn es - noch schlimmer - zu Rivalitäten um denselben Jungen kommt.

Jungen und Mädchen
träumen weiterhin
von der "großen Liebe"


Die ersten Paarbeziehungen aber führen nun über das bloße Verliebtsein, das Schwärmen für mehr oder weniger entfernte "Traumboys" und Stars sowie über die sexuellen Andeutungen hinaus. Eigenes sexuelles Handeln ist gefragt, auch wenn es in den ersten Beziehungen oft noch beim Rumknutschen bleibt. Die Annäherung an "das erste Mal", den ersten Beischlaf, erfolgt zum Teil erst über mehrere Beziehungen und kann Wochen und Monate, aber auch Jahre dauern (Stich/Dannenbeck/Mayr 2000). Denn, so zeigen neuere Untersuchungen: Sexualität und vor allem das Miteinanderschlafen sind für Jungen und noch stärker für Mädchen ganz traditionell an Liebe, Zuneigung und Zärtlichkeit gebunden. "Sich mit dem Partner gut zu verstehen" rangiert für 14- bis 17-jährige Mädchen - aber auch für Jungen - ganz weit oben auf der Liste der Lebensziele. Jungen und noch mehr die Mädchen träumen also - auch oder gerade angesichts von kommerzialisiertem Sex - weiterhin von der "großen Liebe". Eine große Angst von Mädchen ist deshalb auch, vom Partner ausgenutzt, verletzt, enttäuscht oder betrogen zu werden (Starke 1999). Allerdings haben nach dieser Studie über die Hälfte der 15-jährigen Mädchen die "große Liebe" schon erlebt. Nach den Untersuchungen von Kurt Starke sowie auch nach der Studie von Stich/Dannenbeck/Mayr (2000) ist es also weniger das Alter - obwohl dies schon nach Schicht- und Kulturzugehörigkeit variiert - oder ein formaler Status, wie etwa eine Verlobung oder gar eine Eheschließung, die über den Zeitpunkt für das "erste Mal" entscheiden. Eher ist es das Gefühl, "den richtigen" oder zumindest einen vertrauenswürdigen Partner gefunden zu haben. Orte für das Miteinander-Schmusen und -Schlafen zu finden, ist heute längst nicht mehr so ein Problem wie früher: Viele Eltern wissen die Tochter und ihren Freund - wenn er denn zärtlich und zuverlässig genug erscheint - heute lieber unter ihrem eigenen Dach als irgendwo im Park. Allerdings gibt es immer noch genügend ewig gestrige Mütter und Väter, die "alles verbieten". Starke (1999) kommt zu dem Schluss, dass Mädchen wie Jungen wenig Interesse an dem entintimisierten Sex der Medien und an Sexualtechniken haben; auch Barthelmes/Sander (1997) stellen fest, dass (Soft-)Pornofilme von den befragten 13- bis 14-Jährigen überwiegend abgelehnt werden. Dies mag ein Zeichen dafür sein, dass sie trotz oder gerade wegen der Flut von Sexbildern und Filmen ihre eigene, ganz private Form der Ausgestaltung von Liebe und Sexualität suchen.

Der Richtige

Dabei kommt den Mädchen, so übereinstimmend neuere Studien, offenbar eine aktivere Rolle zu als früher. Wie schon gesagt, wollen viele Mädchen nicht unbedingt um jeden Preis einen Freund, sondern "den Richtigen". Es gibt zwar durchaus den Druck, der von den Gleichaltrigen wie von Mädchenzeitschriften ausgeht, spätestens mit 15 oder 16 über erste sexuelle Erfahrungen zu verfügen. Vermutlich schlafen immer noch viel zu viele Mädchen vor allem wegen dieses Drucks mit einem Jungen - ohne dabei glücklich zu werden (Stich u.a., a.a.O.). Doch andererseits sprengen Mädchen heute eher das Geschlechterklischee von der "passiv abwartenden Frau", wenn sie meinen, "den Richtigen" gefunden zu haben. Sie scheuen sich dann nicht, eindeutige und notfalls auch ausdauernde Signale zu geben. Mädchen lassen heute auch tendenziell weniger "mit sich machen". Sie bestimmen stärker, wann die "richtige Zeit" für welchen Schritt auf dem Weg zum ersten Beischlaf gekommen ist - und ein Teil der Jungen scheint dies auch durchaus zu respektieren (Starke 1999; Stich u.a., a.a.O.). Mehr Selbstbewusstsein und kommunikative Kompetenz der Mädchen also? Offenbar, denn die Zeitschrift "Mädchen" meint, die Mädchen schon wieder mahnen zu müssen: "Dein Selbstbewusstsein in allen Ehren, aber Jungs vertragen es meist nicht, wenn man sie unterbuttert. Lass ihn doch in dem Glauben, dass er deine starke Hälfte ist" (20/2000, S. 30). Sexualität ist vielleicht - hoffentlich! - für Mädchen und Jungen ein Stück mehr Verhandlungssache zwischen zwei aktiv Beteiligten und weniger Sache eines bestimmenden Mannes und eines passiven Mädchens geworden. Doch gerade, weil die Mädchen aktiver geworden sind, konstatieren die genannten Studien neue Unsicherheiten und die Angst von Mädchen, beim Sex - und in der Beziehung überhaupt - etwas falsch zu machen. Wiederum bieten die Medien den Mädchen tausend Vorbilder und Ratschläge - und die werden auch eifrig konsumiert. Gerade hier haben die Soaps und Serien wie "Big Brother" ihre Bedeutung, die suggerieren, "Alltagswelt und Alltagskonflikte" aufzugreifen und dafür Lösungen zu bieten (vgl. Barthelmes/Sander 1997). Auch gibt es dank der Medien für manche 12- bis 13-Jährigen kaum noch ein sexuelles Thema, das ihnen fremd wäre. Doch hilft das gegen die Unsicherheit? Den eigenen Weg müssen Mädchen trotz aller Hindernisse allein für sich finden: Balanceakte zwischen Selbstfindung und Selbstdarstellung, zwischen Liebe, Liebeskummer und der nächsten Mathearbeit, zwischen Aufbegehren und Versöhnung mit den Eltern, zwischen Eigen-Willen und Anpassung sind gefragt. Wünschen wir den Mädchen für ihre "Reise der Heldin" viel Selbstbewusstsein, nicht zu viele Fallstricke, verständnisvolle Eltern und gute Freundinnen und Freunde!

LITERATUR

Barthelmes, Jürgen; Sander, Ekkehard: Medien in Familie und Peer Group. München: Verlag Deutsches Jugendinstitut 1997.

Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986.

Breidenstein, Georg; Kelle, Helga: 1998: Geschlechteralltag in der Schulklasse. Weinheim u.a.: Juventa 1998.

Brown, Lyn M; Gilligan, Carol: Die verlorene Stimme. Wendepunkte in der Entwicklung von Mädchen und Frauen . München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997.

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Glaeske, Gerd: Arzneimittelkonsum bei Kindern und Jugendlichen. In: Altgeld; Hofrichter (Hrsg.): Reiches Land - kranke Kinder? Frankfurt a.M.: Mabuse 2000, S. 65-74.

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Heiliger, Anita: Täterstrategien und Prävention. München: Verlag Frauenoffensive 2000.

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Hurrelmann, Klaus: Familienstress, Schulstress, Freizeitstress. Gesundheitsförderung für Kinder und Jugendliche. Weinheim u.a.: Beltz 1990.

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Kolip, Petra: Mädchengesundheitsförderung - warum? In: Betrifft Mädchen, -/1999/1, S. 4-6.

Luca, Renate: Zwischen Ohnmacht und Allmacht. Unterschiede im Erleben medialer Gewalt von Mädchen und Jungen. Frankfurt a.M.: Campus 1993.

Olivier, Christiane: Jokastes Kinder. Die Psyche der Frau im Schatten der Mutter. Düsseldorf: Claassen 1987.

Oswald, Hans; Krappmann, Lothar; v. Salisch, Maria: .Miteinander - Gegeneinander. Eine Beobachtungsstudie über Mädchen und Jungen im Grundschulalter. In: Pfister (Hrsg.): Zurück zur Mädchenschule? Pfaffenweiler: Centaurus 1988, S. 173-192.

Permien, Hanna; Frank, Kerstin: Schöne Mädchen - starke Jungen? Freiburg: Lambertus 1995.

Permien, Hanna: Sozialisation: Einübung in das traditionelle Geschlechterverhältnis? In: Welche Horte brauchen Kinder? Neuwied u.a.: Luchterhand 1997, S. 105-114.

Starke, Kurt: Sexualität und "wahre Liebe". In: Diskurs, 9/1999/2, S. 30-35.

Stich, Jutta; Dannenbeck, Clemens; Mayr, Martina: Sexuelle Erfahrungen im Jugendalter und Aushandlungsprozesse im Geschlechterverhältnis. Zweiter Zwischenbericht (unveröffentl. Manuskript). München: Deutsches Jugendinstitut 2000.

Sygusch, Ralf: Gut drauf durch Sport? Geschlechtsspezifisches Erleben von Körper und Gesundheit sportlich aktiver Jugendlicher. In: Diskurs, 9/1999/1, S. 40-49.

Trauernicht, Gitta: Ausreißerinnen und Trebegängerinnen. Münster: Votum 1992 (2. Aufl.)



DIE AUTORIN

Hanna Permien, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Jugendinstitut, München. Arbeitsschwerpunkte sind Geschlechterforschung und Jugendhilfeforschung.

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