Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen, IZI

Ausgabe: 13/2000/2 - TEXTAUSZUG:


Dr. Klaus Hurrelmann

Die 10- bis 15-Jährigen –
eine unbekannte Zielgruppe?


Auf der Suche nach unverwechselbarer Identität sind viele Jugendliche zu "Egotaktikern" mutiert. "Was habe ich davon?" ist für sie zu einer wichtigen Leitfrage geworden.

Jugendliche sind heute immer noch eine erstaunlich unbekannte Zielgruppe für die Massenmedien. In allen hoch entwickelten Industriegesellschaften ist die Lebensphase Jugend ein offener Lebensabschnitt mit vielfältigen Handlungsanforderungen. Der Eintritt erfolgt mit der Pubertät und hat sich in den letzten Jahren immer weiter verfrüht. Der Austritt ist dann vollzogen, wenn in allen Handlungsbereichen ein vollständiger oder zumindest weitreichender Grad von Autonomie und Eigenverantwortlichkeit des Handelns erreicht ist. Dieser Zeitpunkt schiebt sich im Lebenslauf immer weiter hinaus. Jugendliche werden spät erwachsen, Erwachsene legen Wert darauf, jugendlich zu sein.

1. Das Jugendalter ist eine offene und selbstbestimmte Lebensphase

Der Berufseintritt wird durch die langen Ausbildungsphasen heute weit hinausgezögert, aber Jugendliche fühlen sich dennoch selbstständig und autonom. Ein starker Gestaltwandel ist für die Rolle des politischen und des Wirtschafts- und Konsumbürgers festzustellen. Hier haben sich durch veränderte Lebensbedingungen, vor allem materielle Ausstattungen und Strukturen von politischen Entscheidungsprozessen, Verlagerungen ergeben. Beide Teilrollen haben durch diese Veränderungen eher an Stellenwert gewonnen; sie sind in einer voll entwickelten Industriegesellschaft westlichen Typs heute zu sehr wichtigen Bereichen der gesellschaftlichen Einordnung und auch der persönlichen Definition geworden. Das drückt sich in neuen Formen des politischen Engagements und in intensiver Konsumorientierung aus.

Jugend ist heute eine Lebensphase eigener Qualität, die sich in ihrer inneren Gestalt deutlich von den vorangehenden und nachgehenden Lebensabschnitten unterscheidet. Es handelt sich um eine Lebensphase mit einem charakteristischen Stellenwert im menschlichen Lebenslauf. Weder ist die Jugendphase als eine bloße Verlängerung der Kindheitsphase zu verstehen noch als eine reine Durchgangsphase zum Erwachsenenalter. Nach wie vor werden die grundlegenden Strukturen der Persönlichkeit auch schon in der Kindheit ausgebildet, doch kommt es durch die heute charakteristische Umbruchsituation der Jugendphase zu einer Neubestimmung der Persönlichkeitsdynamik, die die vorhergehenden Strukturen erheblich verändert und in ein neuartiges Gesamtgefüge einbettet.

Zugleich aber kommt es wegen der im Jugendalter charakteristischen unvoreingenommenen Aneignungs- und Auseinandersetzungsprozesse nicht zu einer einfachen Übernahme von gesellschaftlichen Vorgaben von einer Generation zur nächsten. Vielmehr ist gerade in diesem Lebensabschnitt das Ausmaß von kreativer und eigenständiger Gestaltung und aktiver Auseinandersetzung mit den inneren und äußeren Lebensbedingungen hoch. Es sind gerade diese spontanen, unabgeschlossenen und offenen Verhaltensweisen, die als typisch für die Jugendphase angesehen werden müssen. Deshalb ist es auch in pädagogischer Sichtweise gar nicht wünschenswert, die Jugendphase einseitig als eine Übergangsphase zum "vollwertigen Reifestadium" des Erwachsenen zu verstehen, die möglichst schnell abgeschlossen werden sollte. Viele Experimentier- und Erfahrungsräume würden damit abgeschnitten, ganz unabhängig von der problematischen Annahme, mit dem Erwachsenenstatus sei so etwas wie eine "menschliche Vollreife" verbunden, die - einmal erworben - ein Leben lang anhalte. Davon kann angesichts der langen Lebensspanne heute grundsätzlich nicht mehr gesprochen werden. Eigentlich ist niemand von uns jemals "voll erwachsen".

2. Die Spannung zwischen Individualisierung und Integration ist charakteristisch

Die Standardabfolge von Übergangsereignissen wie das Durchlaufen und die Beendigung der Schulzeit, der Eintritt in Ausbildung und Erwerbsarbeit, Auszug aus dem Elternhaus und Heirat ist heute – im Unterschied noch zu den 1950er- und 1980er-Jahren – nicht mehr selbstverständlich und kann individuell stark variiert werden. Zugleich aber müssen die mit diesen Variationen verbundenen Verarbeitungs- und Interpretationsleistungen auch aktiv erbracht werden. Hieraus ergeben sich hohe Anforderungen an die kreative biographische Selbstgestaltung der Lebensphase Jugend.

Die Lebensphase Jugend ist durch die lebensgeschichtlich erstmalige Chance gekennzeichnet, eine Ich-Identität zu entwickeln. Im Unterschied zum Kindesalter wird es im Jugendalter möglich, die Individualität im sozialen und ökologischen Kontext zu entwickeln, indem ein junger Mann und eine junge Frau in einen Prozess der Kommunikation mit anderen über Werte, Normen und soziale Strukturen eintreten und diese mit ihren eigenen Interessen, Neigungen und Handlungsmöglichkeiten in Verbindung bringen. Sie werden zur Teilnahme an sozialen Interaktionen fähig, indem sie sich lebensgeschichtlich zum ersten Mal nicht nur als handelndes Subjekt empfinden, sondern sich selbst im Prozess des Handelns auch als Objekt wahrzunehmen vermögen. Sie bauen auf diese Weise ein erstes Bild von sich selbst auf, indem sie alle Ergebnisse der bisherigen Interaktionen auswerten und zu einem in sich stimmigen und schlüssigen Entwurf als "Selbstbild" zusammenfügen.

Individuations- und Integrationsprozesse folgen jeweils einer eigenen, voneinander abweichenden Dynamik. Um das hieraus resultierende Spannungsverhältnis zu bearbeiten, sind angemessene und flexible individuelle Bewältigungsstrategien notwendig. Unter den heutigen Lebensbedingungen sind die Chancen und Möglichkeiten für den Aufbau der personalen Identität sehr hoch, insbesondere, weil traditionelle Vorgaben an Rollenverhalten und Wertorientierungen entfallen sind. Zugleich sind hiermit aber auch die Ansprüche an jedes Individuum – und zwar gerade im Jugendalter – gestiegen, eine eigene Lösung für die vielfältigen Aufgaben und Probleme der Alltagsbewältigung zu finden. Jugendliche haben Lebensleistungen zu vollbringen, die auch für "Erwachsene" immer wichtiger werden. Sie haben früh die Lektion zu erfüllen, ihre unverwechselbare Identität und Individualisierung aufzubauen.

3. Die Wertorientierungen Jugendlicher sind selbstorientiert und selbstbewusst

Es ist Aufgabe der interdisziplinären Jugendforschung, die Wandlungstendenzen im kulturellen und historischen Vergleich zu analysieren. Das historisch-gesellschaftliche Umfeld für die Gestaltung des Lebenslaufs ist dabei zu beachten. Aus ihm heraus lassen sich Wandlungsprozesse in einzelnen Lebensphasen erst in ihrem ganzen Umfang verstehen. Dabei spielen sozioökonomische und soziokulturelle Faktoren ebenso eine Rolle wie die Veränderung langfristiger Wertmuster und Werthierarchien und die einwirkenden politischen Zielsetzungen.

In einer repräsentativen Befragung hat Schmidtchen 1997 den intensiven Wunsch der befragten Jugendlichen identifiziert, in der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit den "Sinn des Lebens" zu finden. Die Untersuchung zeigt Widerstand gegen die ungeprüfte Übernahme von Normen der Gesellschaft und der älteren Generation. Schmidtchen spricht von einem "Aufstand der Person": "Die junge Generation steht gegen alles auf, was sie begrenzt und in ihrer persönlichen Entfaltung beeinträchtigt und deformiert."

In der Studie von Silbereisen, Vaskovics und Zinnecker (1997) rangieren Werte wie Frieden und Freundschaft in der Prioritätenliste der Jugendlichen an oberster Stelle. Es werden drei Gruppen der Zukunftsorientierung unterschieden:

  • Die erste Gruppe, knapp die Hälfte der Befragten, richtet sich konzentriert und planerisch auf die Zukunft ein und bereitet sie mit Optimismus langfristig vor. Die meisten dieser Befragten sind beruflich und privat etabliert.
  • Eine zweite Gruppe von etwa 45 Prozent der Befragten zeigt eine ausgesprochene Gegenwartsortientierung ist eher spielerisch-experimentell und hedonistisch orientiert. Im Gegensatz zur planerischen Absicht und einer konstruktiven Arbeit an der Identität herrscht hier eine offene Haltung und eine suchende Orientierung vor.
  • Eine kleine dritte Gruppe von etwa fünf Prozent wird als pessimistisch und zukunftsunsicher identifiziert; die Zukunftsplanung ist unstrukturiert und eher auf Impulse von außen eingerichtet.

Wie diese Studien zeigen, überwiegen insgesamt Wünsche nach autonomer und selbständiger Sinngebung und Sinnschöpfung. Die Angehörigen der jungen Generation möchten eine Selbst- und Weltinterpretation mit eigenen Bausteinen vornehmen und sich darum bemühen, ihrem Leben durch eigene Orientierungen und Lebensmuster einen Sinn zu geben. Die Weltanschauung wird gewissermaßen nach eigenen Regeln zusammengesetzt, die nicht aus der traditionellen Logik von Moral und Religiosität stammen.

Auch die neue Studie des Jugendwerkes der Deutschen Shell (2000) kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Die Mehrheit der jungen Leute ist demnach zuversichtlich und überzeugt von der eigenen Leistungsfähigkeit und versucht, aktiv eine eigene Lebensperspektive vorzubereiten. Sie ist entschlossen, die Herausforderungen in Schule, Beruf und Privatleben zu meistern. Aber es wird auch auf die Unsicherheit verwiesen, die durch die unklaren Berufs- und Ausbildungsperspektiven in den nächsten Jahren entstanden sind.

Das Heranwachsen
führt in eine Welt,
die unvorhersagbar, unberechenbar
und "unlesbar" geworden ist

Eine verlässliche Prognose über die weiteren Lebensschritte ist für viele Jugendliche objektiv nicht möglich, weil keine eindeutigen Chancenstrukturen zu erkennen sind. Das Heranwachsen führt in eine Welt hinein, die unvorhersagbar, unberechenbar und "unlesbar" geworden ist.

Den Angehörigen der jungen Generation bleibt so gesehen gar nichts anderes übrig, als zur Lebensbewältigung eine sehr hohe Eigenleistung zu erbringen. Die offenen gesellschaftlichen Strukturen verlangen nach einem selbst entwickelten Navigationssystem, um die Ausgangssituation ständig zu ertasten und zu sondieren. Jugendliche und junge Erwachsene können unter den heutigen Bedingungen nur dann erfolgreich einen eigenen Lebensentwurf gestalten, wenn sie Fähigkeiten zur Selbstorganisation (Fend 1988) haben. Die gesellschaftliche Entwicklung geht mit einem Abbau von sozialen Traditionen und Rollenvorschriften einher und bietet hiermit erhebliche Freiheiten für die Gestaltung des eigenen Lebens. Diese Offenheit und Freiheit aber verlangt nach einer hohen Kompetenz bei der Festlegung eines eigenen Lebensweges, der Entwicklung einer Lebenskonzeption und der Etablierung einer Identität (Hurrelmann und Ulich 1991).

Es war schon immer so, dass im Jugendalter eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Person, dem Körper und der Seele stattfand. Aber heute scheint dieser Prozess doch mehr Kräfte zu binden als früher. Das Finden der eigenen Identität beschäftigt viele Jugendliche bis an das Ende des zweiten Lebensjahrzehnts. Ein ständiges Suchverhalten und das Bemühen, sozialen Halt und Gewissheit zu gewinnen und zugleich sich keine Option zu verschließen und keine Chance zu verpassen, sind heute charakteristisch für Jugendliche.

Bei unseren Untersuchungen zu Wertorientierungen ergibt sich ein ganz klares Bild: Hoch im Kurs stehen Werte wie freie Meinungsäußerung, Lebensgenuss, Kreativität, Abenteuer, Emanzipation, Mitsprache, Mitbestimmung, Lebensqualität, aber auch Freundschaft, Liebe und Treue sowie Humor. Das sind alles Werte, die etwas mit der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, der Entwicklung des eigenen Ich zu tun haben. Dagegen stehen solche Werte bei den Jugendlichen im Abseits und werden teilweise sogar vehement abgelehnt, die mit Disziplin, Anpassungsbereitschaft, Ordnung, Einfügen in soziale Strukturen, Unterordnung unter hierarchische Verhältnisse und Pünktlichkeit zu tun haben (Hurrelmann 1999).

Diese Wertorientierungen und Einstellungen übertragen sich auch auf den Beruf. Bei unseren Untersuchungen ergab sich in repräsentativen Befragungen als oberste und höchste Erwartung eine interessante Arbeit mit viel Abwechslung, die Sicherheit vor Arbeitslosigkeit, dicht gefolgt durch den Wunsch, in der beruflichen Ausbildung eine eigenständige und kreative Tätigkeit vollziehen zu können. Ein ganz wichtiger Wunsch war, die persönlichen Interessen in den Beruf einzubringen. Finanzielle Interessen rangierten nicht so hoch.

4. Jugendliche sind Egotaktiker

Jugendliche haben in einer offenen und traditionsgelösten Gesellschaft die Möglichkeit, im guten Sinne des Wortes "Egotaktiker" zu sein. Sie sondieren sensibel ihr Umfeld und fragen sich, welche Möglichkeiten und Chancen für ein Engagement und für ihre persönliche Entwicklung sich daraus ergeben. Egotaktiker sind keine Egoisten, die ohne Rücksicht auf Interessen und Bedürfnisse anderer nur von ihrem eigenen Nutzen ausgehen. Vielmehr sind sie an einer guten Qualität des sozialen Zusammenlebens interessiert, wollen dabei allerdings ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen umgesetzt sehen. Sie fragen ständig: Was habe ich davon, wenn ich mich in einer bestimmten Weise verhalte oder engagiere? Was bringt es mir, was ergibt sich daraus?

Angesichts der Lösung von historisch vorgegebenen Sozialformen und Sozialbindungen, dem Verlust von traditionellen Sicherheiten durch Glauben und Autorität, suchen Jugendliche nur nach einer neuen Art und Form der sozialen Einbindung, die sie in ihrer persönlichen Entwicklung nicht hemmt. Diese Grundhaltung überträgt sich auch auf das politische Interesse und das bürgerschaftliche Engagement von Jugendlichen. Auch politischen Entwicklungen gegenüber stellen Angehörige der jungen Generation spontan die Frage, was die Entwicklung für sie selbst bedeutet. Sie sind selbstbezogen und themenorientiert, nicht undemokratisch, sondern im Gegenteil eher urdemokratisch, auf direkten Einfluss ausgerichtet.

Die Pflichtorientierung und
Staatsgläubigkeit der älteren Generation
werden von Jugendlichen abgelehnt

Das Vorurteil der älteren Generation gegenüber der jüngeren ist, sie sei stark auf sich selbst fixiert und klinke sich aus sozialen Verpflichtungen aus, wodurch das für eine moderne Gesellschaft notwendige Engagement und die Beteiligung in Gruppen, Vereinen, Parteien und Verbänden immer seltener werde. Die Alltagssolidarität, die vertrauensvollen zwischenmenschlichen Beziehungen, seien dadurch gefährdet, und das vor allem auch deswegen, weil die junge Generation wenig in das "soziale Kapital" investiere.

Dabei wird häufig übersehen, dass die Bereitschaft zum sozialen Engagement in der jungen Generation vorhanden ist, allerdings andere Profile und Konturen aufweist als in der älteren Generation. Keupp (1999) hat das in seinen Analysen deutlich herausgearbeitet. Engagement der jungen Generation kommt demnach nicht mehr aus einem Gefühl der Verpflichtung, das aus traditionellen Gemeinschaftsbindungen folgt, sondern aus Freiwilligkeit, die durch Eigeninteresse gespeist ist. Die Pflichtorientierung und Staatsgläubigkeit der älteren Generation werden von Jugendlichen abgelehnt. Sie handeln im eigenen Interesse, wobei dieses Eigeninteresse aber durchaus für das Gemeinwesen von Bedeutung sein kann. Umgekehrt engagieren sie sich nur dann in gesellschaftlich wichtigen Institutionen und Verbänden, wenn ihnen eine Gestaltung und Mitbestimmung von Strukturen möglich ist und sie zugleich eigene Wünsche und Vorstellungen einbringen können.

Orientiert an der Selbstentfaltung, bemühen sich die Angehörigen der jungen Generation, eigene Fähigkeiten und Kenntnisse einzubringen und weiter zu entwickeln und durch ihr soziales Engagement interessante Leute kennen zu lernen und dabei Spaß und Freude zu haben. Es ist eine andere Wertorientierung, als sie in der älteren Generation vorherrscht, wo mehr die Pflichtorientierung, anderen Menschen zu helfen, etwas Nützliches für das Gemeinwesen zu tun und praktische Nächstenliebe zu pflegen, im Vordergrund der Motivation steht.

Eine solche Pflichtkomponente ist im bürgerschaftlichen Engagement von Jugendlichen und jungen Erwachsenen heute kaum noch enthalten. Eine kontinuierliche oder lebenslange Anbindung an spezifische Institutionen ist deswegen auch ungewöhnlich geworden. Aus diesem Grunde haben auch politische Parteien und Kirchen ein schwindendes Engagement von Jugendlichen zu verzeichnen, während Vereine und Selbsthilfeinitiativen von einem Zuwachs berichten. Die Motivation zur Mitarbeit ist stark an bestimmten Projekten und Themen und an festen Zielen orientiert. Man möchte nicht aus Prinzip für eine Sache engagiert sein, sondern deswegen, weil damit ganz bestimmte inhaltliche Ziele erreicht werden, die man selbst für wichtig und bedeutsam hält.

5. Jugendliche haben ein emotionsgeladenes Politik- und Lebensverständnis

Das politische Verständnis der jungen Generation ist charakteristisch für ihr gesamtes Lebensverständnis. Die überwältigende Mehrheit der Jugendlichen spricht sich für Demokratie als die geeignetste Staatsform und auch für die heutige Verfassung der Bundesrepublik Deutschland aus. Gleichwohl sind viele von ihnen mit der Realisierung demokratischer Ideale und Strukturen in Deutschland unzufrieden. Unzufrieden sind sie auch mit der Art und Weise, wie die Parteien und die Regierungen in unserem demokratischen Staat agieren.

Nicht die vielbeschworene "Politikverdrossenheit" ist also zu verzeichnen, sondern vielmehr eine Parteienverdrossenheit und eine Politikerverdrossenheit. Die Parteien haben sich nach Auffassung der jungen Generation abgelöst von den Diskussionsprozessen in der Bürgerschaft, sie sind zu eigenen Machtzentren geworden, die um sich selbst kreisen. Die Politikerinnen und Politiker sind nicht das Sprachrohr für Belange und Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger, auch und gerade nicht der Kinder und Jugendlichen, sondern sie werden als Funktionäre eines abgehobenen Kartells von Parteien und Regierungsapparaten wahrgenommen – zu allem Überfluss auch noch als solche, die sich in diesem System selbst bedienen und gegenseitig Posten und Privilegien zuschieben.

Die Partei- und Politikerverdrossenheit wird verstärkt dadurch, dass die Mehrheit der Jugendlichen befürchtet, Parteien und Politiker seien nicht in der Lage, mit der heutigen Krise der Gesellschaft umzugehen. Es fehlt an einer politischen Vision, nach der gerade "sinnhungrige" Jugendliche verlangen, die sie durch die wirtschaftliche und kulturelle Krisensituation hindurchführen könnte.

Das Prinzip der Wohlstandmehrung, das in der Nachkriegszeit identitätsstiftend war, fällt heute aus, da gerade Jugendliche spüren, dass wir nicht mehr in Gesellschaften leben, deren Existenz dadurch begründet wird, von Generation zu Generation über größere Reichtümer zu verfügen. Gewaltige Herausforderungen an eine Neudefinition von Solidarität, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit in der Verteilung von gesellschaftlichen Privilegien und Gütern kommen auf uns zu. Für diese Themen waren Jugendliche schon immer sehr sensibel.

Jugendliche sind auf eine andere Weise politisch, als es der Apparat von Parteien und Regierungsinstitutionen kennt. Jugendliche verstehen Politik ganzheitlich: Sie sind nicht bereit, Politik allein nur als eine Frage kühler Überlegungen und Aushandlungen zu betreiben, sondern sie wollen ihre Bedürfnisse, Interessen, Neigungen, Emotionen und auch Sehnsüchte mit einbeziehen.

Ob diese Orientierung den politischen Apparaten gefällt oder nicht – Jugendliche sind damit Vorreiter für ein Politikverständnis, das sich bald in der Gesamtbevölkerung zeigen wird. Denn sie spüren so intensiv wie vielleicht keine andere Bevölkerungsgruppe die Umbrüche in den Qualifikationsanforderungen mit den hohen Erwartungs- und Leistungsansprüchen. Sie spüren am eigenen Leibe die Auswirkungen der Lockerung von sozialen Bindungen, zum Beispiel durch Probleme, die sie mit ihren Eltern haben. Die Folge sind Beziehungsängste und emotionale Verunsicherungen, die in der ohnehin existentiell krisenhaften Lebensphase Jugend sehr intensiv erfahren werden. Weiterhin erfahren viele Jugendliche früh Sinngebungskrisen und Orientierungsverunsicherungen. Sie setzen sich mit globalen Problemen von Erwerbslosigkeit, Umweltverschmutzung, Kriegsgefährdung und sozialen Spannungen auseinander und sind nicht nur mit ihrem Kopf, sondern auch mit ihrer Seele und mit ihren Gefühlen beteiligt. Alles das führt zu einem stark emotionalen Zugang zur Politik. Die eigenen Ängste, Bedürfnisse und Sorgen im gefühlsmäßigen Bereich, die nicht immer rational zu artikulieren sind, werden mit in die politische Diskussion einbezogen.

Die hohe Sensibilität der Jugendlichen ist eine Chance für die Zukunftsgestaltung. Parteien und Politiker müssen diese Stimmungslage und dieses Problemempfinden aufnehmen, wenn sie nicht über die Psyche der jungen Menschen hinweg Politik machen wollen.

6. Jugendliche sind liebend gerne Konsumenten

Jugendliche treten heute wie selbstverständlich als Konsumenten am Warenmarkt und in der Freizeit auf. Dabei orientieren sie sich an den Standards der Gleichaltrigen und nicht so sehr an denen der Eltern. Gemeinschaftsaktivitäten in der Freizeit sind vor allem Kinobesuche, Sportveranstaltungen, Teilnahme an sportlichen Aktivitäten, Diskothekenbesuche und Gruppentreffen ohne eine besondere Aktivität. Das Verhalten in der Freizeit ermöglicht ein hohes Ausmaß von persönlichem Ausdruck, Hilfen bei der Entwicklung einer eigenen Identität, Experimentieren mit sozialen Rollen und natürlich auch Entspannung und Spaß. An erster Stelle der beliebtesten Freizeitaktivitäten stehen Musik hören, ins Kino gehen, Sport treiben und Fernsehen. Auf dem fünften Platz folgt "Bücher lesen", bei Mädchen ist diese Aktivität sogar die zweitbeliebteste. Bei den Jungen rangiert "Sport treiben" deutlich höher als bei den Mädchen, außerdem auch die Beteiligung an politischen Aktivitäten. Demgegenüber bevorzugen Mädchen kulturelle Veranstaltungen wie Theater- und Opernbesuche.

Auffällig ist, wie deutlich an der Spitze der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen solche Aktivitäten stehen, die finanzielle Ressourcen voraussetzen und mit dem kommerziellen Konsumsektor unserer Gesellschaft verbunden sind. Der Freizeitbereich kostet Geld, und das möchten sich Jugendliche schon im Schulalter auch gerne mit eigener Arbeit verdienen. Sie greifen auf "Nebenerwerbstätigkeiten" zurück, indem sie parallel zur Schule gegen Geld arbeiten. In der gymnasialen Oberstufe sind es bis zu 50 Prozent eines Jahrganges, die so das bereits von den Eltern meist großzügig gezahlte Taschengeld aufstocken. Ein Durchschnittswert von 200 DM frei verfügbarer Mittel pro Monat ist in dieser Altersgruppe typisch. Jugendliche sind aus diesem Grunde auch begehrte Kundenkreise der kommerziellen Wirtschaft, vor allem in den Freizeitindustrien, die mit Musik, Fernsehen, Video und Computerspielen zu tun haben. Dort sind sie gar nicht so unbekannt.


LITERATUR

Fend, H.: Sozialgeschichte des Aufwachsens. Bedingungen des Aufwachsens und Jugendgestalten im 20. Jahrhundert. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988.

Hurrelmann, K.: Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Weinheim: Juventa 1999.

Hurrelmann, K.; Ulich, D. (Hrsg.): Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim: Beltz 1991.

Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): Jugend 2000. Zukunftsperspektiven, gesellschaftliches Engagement, politische Orientierungen. Opladen: Leske & Budrich 2000.

Keupp, H.: Eine Gesellschaft der Ichlinge? Zum bürgerschaftlichen Engagement von Heranwachsenden. München: Sozialpädagogisches Institut 1999.

Schmidtchen, G.: Wie weit ist der Weg nach Deutschland? Sozialpsychologie in der postsozialistischen Welt. Opladen: Leske & Budrich 1997.

Silbereisen, R. K.; Vaskovics, L. A.; Zinnecker, J. (Hrsg.): Jung sein in Deutschland. Jugendliche und junge Erwachsene 1991 und 1996. Opladen: Leske & Budrich 1997.



DER AUTOR

Klaus Hurrelmann, Dr. phil., ist Professor für Sozial- und Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld und Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik.

INFORMATIONEN

Internationales
Zentralinstitut
für das Jugend-
und Bildungsfernsehen
IZI


Tel.: 089 - 59 00 21 40
Fax.: 089 - 59 00 23 79
eMail: izi@brnet.de

internet: www.izi.de

COPYRIGHT

© Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) 2000-2002
Nachdruck oder Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Herausgebers!



zum Seitenanfang