Frank Beckmann
Gut gezielt und doch
daneben
Über die Zielgruppe der 10- bis
15-Jährigen im Kinderprogramm
Kleine Kinder und Jugendliche in einem Spartenkanal
altersgerecht zu bedienen, gleicht einem Spagat. Programmerweiterung
in der Prime-Time wäre die Lösung.
Der Begriff "Zielgruppe"
hat für Fernsehmacher auf den ersten Blick etwas Beruhigendes,
scheint es doch so, dass Treffer wahrscheinlich sind, wenn man nur gut
zielt. Auf eine Gruppe gut zielen, legt überdies nahe, dass es
- einer Dartscheibe gleich - irgendwo eine Stelle mit der höchsten
Punktzahl gibt. Man muss nur die Richtung kennen und schon wird Fernsehen
kalkulierbar, der quantitative Erfolg zu einer programmierbaren Größe.
Die Realität allerdings sieht anders aus. Die Zielgruppe ist längst
kein statisches Gebilde, das sich einfach anpeilen lässt. Sie ist
ständig in Bewegung. Wer ins Schwarze treffen will, der braucht
Intuition, der muss Trends erkennen und Entwicklungen vorausahnen.
Bei der Zielgruppe der 10- bis 15-Jährigen sind solche Trends kaum
auszumachen, zu unterschiedlich sind die Interessen. Während mancher
10-Jährige noch Sammelkarten tauscht, geraten 15-Jährige erst
bei dem Besuch eines Popkonzerts in Verzückung. Manche sind Computerspiel-Experten,
andere wissen mit Steigbügel und Halfter etwas anzufangen. Die
Zielgruppe der 10- bis 15-Jährigen, über die in diesem Heft
diskutiert werden soll, ist äußerst heterogen. Eine Schnittmenge
ist schwer zu erkennen. Wer trotzdem versucht, Programme zu entwickeln,
die alle Bedürfnisse zu gleichen Teilen berücksichtigen, der
hat gut gezielt und liegt doch daneben.
Der Kinderkanal von ARD und ZDF hat auf den ersten Blick eine etwas
leichtere Aufgabe. Schließlich liegt seine Altersgrenze bei 13
Jahren. Und doch steht der KI.KA vor dem gleichen Problem: ein Programm
"für alle bis 13" subsumiert die Bedürfnisse der Fernsehanfänger
und die Interessen der Teenager gleichermaßen.
Zielgruppenkonflikte sind unvermeidlich. Der programmliche Spagat wird
zur täglichen Pflichtübung. Ein öffentlich-rechtliches
Kinderprogramm muss die Alternative zu kommerziellen Programmen sein.
Der KI.KA hat die Aufgabe, Trends zu setzen. Er muss Experimente wagen,
ohne dabei allein auf die Marktanteile zu schielen. Die ganze Bandbreite
des Fernsehens aufzufächern, das ist das Angebot, das der KI.KA
kleinen und großen Zuschauern machen soll: von Trickserien über
Game-Shows, Realserien und Infoprogramme bis hin zu Nachrichten für
Kinder.
Paradebeispiel "Teletubbies"
Vielfalt und Qualität spiegeln sich nicht
nur in unterschiedlichen Genres wider. Auch die vielfältigen Bedürfnisse
der heterogenen Zielgruppe müssen im Programm ihren Platz finden.
So war die Einführung der "Teletubbies" ein Meilenstein in der
jüngeren Fernsehgeschichte. Zum ersten Mal orientierte sich eine
Fernsehsendung an den kognitiven Fähigkeiten von Fernsehanfängern.
Die Sendung polarisiert. Jeder 3-Jährige versteht die "Teletubbies",
manchem 13-Jährigen bleibt die innere Logik des Programms dagegen
verborgen.
Diskutiert man die Sinnhaftigkeit von Programmen für 10- bis 13-Jährige,
so kann man zwei Dinge von den "Teletubbies" ableiten: erstens, es ist
möglich, ein Programm sehr eng an den Bedürfnissen einer Zielgruppe
zu orientieren. Und zweitens, je exakter man eine Zielgruppe anspricht,
desto größer ist das Risiko, andere auszugrenzen. Was bei
3-Jährigen hervorragend funktioniert, wirkt auf 13-Jährige
eher befremdlich und umgekehrt.
Was mit den "Teletubbies" bei Fernsehanfängern gelungen ist, wird
bei den Teenagern häufig als "unmöglich" bezeichnet. Programme
für diese Zielgruppe zu entwickeln, gehört tatsächlich
zu den größeren Herausforderungen im Kinderprogramm, denn
den 10- bis 13-Jährigen fällt es nicht leicht, sich mit einem
Programm zu identifizieren, das für Kinder gemacht ist. Natürlich
wird geguckt, aber oft heimlich. Zudem sind die Interessen der 10- bis
13-Jährigen wenig greifbar. Ihre Sehgewohnheiten reichen von "Biene
Maja" bis "Big Brother", von "Wetten, dass...?" über "Formel 1"
bis hin zu den
Videoclips der Musiksender.
"Ältere Kinder schauen sich vieles an, nur nicht die Programme,
die für sie gemacht sind." Das Lamento wird immer häufiger
angestimmt, und doch wird es dadurch nicht wahrer. Kinder im Alter zwischen
10 und 13 Jahren sind immer noch Kinder, auch wenn sie sich selbst nicht
so erleben. Sie suchen nach Orientierung. Und daher dürfen wir
diese Zielgruppe nicht bei "Big Brother" abgeben.
Die Teenager - sie würden sich selbst kaum so bezeichnen - haben
eine eigene Sprache, eigene Probleme und eigene Lebensumstände.
Sie haben eine eigene Identität. Das Fernsehen muss, wenn es diese
Zielgruppe ernst nehmen will, auch Angebote machen, die diese Identität
widerspiegeln. Dabei muss man auch das Risiko in Kauf nehmen, nicht
alle Zielgruppen zugleich ansprechen zu können. Polarisierung ist
notwendig, um glaubwürdig zu bleiben. Die Themen rekrutieren sich
nicht nur aus den Bereichen Spaß oder Fun. Auch Leistungsdruck
in der Schule, das Erleben von Gewalt, der Rückzug der Familie
als Sozialisationsinstanz sind Teil ihrer Lebenswelt.
Programmentwicklungen im Kinderkanal
Der KI.KA hat stets versucht, die schwierige
Zielgruppe der 10- bis 13-Jährigen in den Fokus zu rücken.
Und tatsächlich ist es gelungen, Formate zu entwickeln, mit denen
man die Älteren erreichen kann.
Mit "Schloss Einstein" hat der Kinderkanal von ARD und ZDF eine Marke
etabliert, die exakt die Perspektive von Kindern abbildet. Auf "Schloss
Einstein" werden Themen aufgegriffen, die von den 10- bis 13-Jährigen
erlebt werden. Nicht eine US-amerikanische Highschool, sondern ein deutsches
Internat bildet die Kulisse für Geschichten über Freundschaft,
Eifersucht, Schule und Familie. Es sind glaubwürdige Geschichten,
die im Hier und Jetzt spielen. So fällt es den Zuschauern leicht,
sich mit der Serie zu identifizieren.
Das
ist nicht nur ein Erfolg der Dramaturgie, es ist auch das Ergebnis einer
sorgfältigen Auswahl der Protagonisten. Helden sind wichtig. Zu
Identifikationsfiguren kann man aufblicken, man kann mit ihnen leiden.
Sie stellen die Nähe zum Publikum her und werden mit ihren Schwächen
sympathisch.
Zudem ist das Konzept von "Schloss Einstein" in besonderer Weise geeignet,
die 10- bis 13-Jährigen an den KI.KA zu binden. Das Format ist
als lang laufende Serie angelegt. Die Zuschauer können ihre Helden
über einen großen Zeitraum begleiten. Auch das schafft Nähe
und trifft den Nerv dieser Zielgruppe (s.a. Interview in diesem Heft).
Neben den fiktionalen Programmen bilden Informationssendungen
eine weitere wichtige Säule, um die älteren Kinder an den
KI.KA zu binden.
Das Musik-Magazin "Beatz per Minute" zum Beispiel erläutert die
Hintergründe des Musikgeschäfts. Der Moderator, Daniel Aminati,
hat langjährige Erfahrungen als Leadsänger der Gruppe "Bed
and Breakfast". Die Präsentation ist glaubwürdig, die Themen
sprechen die 10- bis 13-Jährigen an. Auch das Trendmagazin "Reläxx"
- mit Karsten Blumenthal als einer herausragenden Identifikationsfigur
- beschäftigt sich mit der Lebenswelt der älteren Kinder.
Der Look dieser Sendungen ist modern und orientiert sich an der Ästhetik
der Videoclips. Inhalt, Form und Präsentation bilden eine Einheit
und erleichtern den 10- bis 13-Jährigen den emotionalen Zugang
zu diesem Format.
Es ist also durchaus möglich, erfolgreiche Formate für die
10- bis 13-Jährigen zu entwickeln, die auch dem qualitativen Anspruch
des KI.KA genügen. Aufgabe der Programmplanung ist es, diesen Formaten
exponierte Sendeplätze zuzuweisen. Um die älteren Kinder für
den Sender zu begeistern, müssen sie regelmäßig Angebote
im Programm entdecken. Singuläre Events verfehlen oft ihre Wirkung.
Nur mit einem erheblichen Marketing-Aufwand können sie sich im
Konkurrenzumfeld durchsetzen. Statt dessen müssen Sendezeiten gelernt
werden. Sendungen darf man nicht immer wieder neu in den Programmzeitschriften
suchen müssen. Die Sendeflächen sollten gekennzeichnet sein,
um wieder gefunden zu werden.
Für den KI.KA ist das Ausweisen von Sendeflächen für
ältere Kinder auch noch aus einem anderen Grund von großer
Bedeutung: Die Aufgabe, Programme "für alle bis 13" zu produzieren,
führt gerade bei Eltern zu dem Missverständnis, dass alle
Sendungen auch für die Jüngeren geeignet sein müssen.
In den Protokollen, die die Zuschauerredaktion von den Telefonaten mit
den Eltern führt, tauchen daher immer wieder Beschwerden auf: "Ausdrücke
aus der Fäkalsprache gehören nicht in ein Kinderprogramm."
"Emanzipation ist kein Thema für Kinder." "Mein Kind hat Angst
vor dem Spielzeuglöwen in den ‚Teletubbbies‘ - bitte senden Sie
diese Folge nicht mehr."
Die Anliegen der Eltern sind berechtigt. Und doch, wenn ein Spielzeuglöwe
das gruseligste Bild ist, das dem Kinderkanal zu senden erlaubt ist,
sind Programmangebote für ältere Kinder ausgeschlossen. Die
Interessen von Fernsehanfängern und 13-Jährigen sind genau
so wenig kongruent wie die Programme für die unterschiedlichen
Zielgruppen. Aber genau das ist es, was viele Eltern vom Kinderkanal
erwarten: Jedes Programm muss zur Lebenswelt der Jüngeren kompatibel
sein. Für den KI.KA ein Spagat, der nur mit Dehnübungen zu
bestehen ist. Es ist daher notwendig, Räume zu kennzeichnen, die
für Ältere reserviert sind. An diesen Plätzen muss sich
der Kinderkanal mit ihren Themen beschäftigen dürfen, ohne
Gefahr zu laufen, unglaubwürdig zu sein.
Zugegeben, es gibt andere Möglichkeiten, die Bedürfnisse der
älteren Kinder zu berücksichtigen, ohne die Interessen der
jüngeren zu vernachlässigen. In anderen europäischen
Ländern will man das Problem lösen, indem zwei Kinderkanäle
installiert werden sollen. So kann sich ein Kanal dem Vorschulprogramm
widmen, der andere Kanal hat die Chance, sich um die älteren Kinder
zu bemühen. Auch in Deutschland sind ähnliche Bestrebungen
im Pay-TV angekündigt.
Sendeplätze in der Prime-Time
Aus Sicht des Kinderkanals von ARD und ZDF ist
dieser Weg für den deutschsprachigen Raum allerdings wenig realistisch.
Aufgrund der Knappheit der Kabelplätze erscheint mittelfristig
eine andere Lösung sinnvoller: die Verlängerung der Sendezeit
des KI.KA nach 19 Uhr. Die Programmerweiterung hätte zum einen
den Vorteil, dass der KI.KA endlich auch dann senden kann, wenn die
meisten Kinder fernsehen. Schließlich liegt die Prime-Time der
Kinder zwischen 19 Uhr und 21 Uhr.
Zum anderen wäre es möglich, Flächen für die älteren
Kinder anzubieten. Aufgrund des späteren Ausstrahlungstermins wären
diese Programmangebote für kleinere Kinder unproblematisch. Dem
KI.KA kann es so gelingen, mehr noch als bisher auch die Teenager zu
erreichen. Schließlich gehört es zu den Aufgaben des KI.KA,
auch den 10- bis 13-Jährigen ein vielfältiges und zielgruppenadäquates
Programm zu bieten, von dem man sagen kann: gut gezielt und auch noch
getroffen.
DER AUTOR
Frank Beckmann ist Programmgeschäftsführer
von KI.KA, dem Kinderkanal von ARD und ZDF in Erfurt.
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