Ausgabe 15/2002/1 - TEXTAUSZUG:
Thomas Gruber Wie viel Fantasie braucht
die Zukunft?
Fantasie ist die Kraft, aus Vorhandenem Neues
zu schaffen. Eine Fähigkeit, die auch kommende Generationen dringend
benötigen werden. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk muss die
Verantwortung für unsere Kinder ernst nehmen und ihre Fantasie
mit Qualität unterstützten. Fantasie ist die Vorstellung
und das Vorstellungsvermögen, kurz, unsere spezifisch menschliche
Fähigkeit der Einbildungskraft. Auf den ersten Blick scheint die
Fantasie das Gegenteil von Realität zu sein. Einer blühenden
Fantasietätigkeit stehen wir nicht immer positiv gegenüber
und vermuten hinter ihr in erster Linie einen Fluchtort, der dazu dient,
sich vor der Realität und ihren Anforderungen zu drücken.
Dieser Perspektive folgend, wäre das, was die Zukunft braucht,
eigentlich weniger Fantasie und mehr Realitätssinn. Platon (427
- 347 v. Chr.) hätte uns da vermutlich sofort zugestimmt! Er misstraute
der Fantasie und dem Bild grundlegend. Erkenntnis war für ihn ausschließlich
durch begriffliches Denken möglich, während Fantasie, Bilder
und Mythen in erster Linie Trugbilder und Verführung sind. Schon
sein Schüler Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) hat demgegenüber
ein deutlich gelasseneres Verhältnis zu den "inneren Bildern" und
sah in ihnen vor allem ein ordnendes Element. Jede Zeit hatte ihre ganz
eigene Beziehung zur Fantasie: Leonardo da Vinci betonte die visionären
Kräfte der Fantasie, Kant ihre aufklärende Rolle in der Auseinandersetzung
von Welt und Ich. In der Romantik wird die Fantasie gar zum schöpferischen
Prinzip des gesamten Universums. Für Adorno und Bloch sind Fantasien
der Ort, um zukunftsweisende Utopien zu entwerfen (vgl. Ränsch-Trill
1996). Heute – am Anfang des 21. Jahrhunderts – wissen
wir von der Kraft und der Bedeutung der Fantasie. Sie ermöglicht
es, aus Vorhandenem Neues zu schaffen. Sie ist nicht der Gegensatz von
Realität, sondern ergänzt sie. Nur mit der Imagination können
wir uns Zukünftiges denken und gedanklich gestalten. Insofern braucht
die Zukunft schon konstitutiv die Fantasie. Wenn wir schon von Zukunft sprechen, dann sollten wir nicht nur uns selber in den Mittelpunkt stellen, sondern auch die, die diese Zukunft gestalten werden. Es ist unmodern geworden, über "Kinder als unsere Zukunft" zu sprechen. Moderner ist es, Kinder als unser "Hier und Jetzt" zu sehen. Das ist sicherlich ein ganz wichtiger Gedanke, denn Kinder sind unsere Gegenwart. Dies enthebt uns aber nicht von der Verantwortung, auch an ihre Zukunft zu denken. Wir müssen Kinder im "Hier und Jetzt" fördern, um ihnen die Gestaltung der Zukunft zu erleichtern. Und wenn Fantasie Erkenntnisgewinn bedeutet, wenn sie die Kraft ist, mit der Tradiertes an die neuen Anforderungen angepasst wird, um Neues zu bilden, dann sollten wir uns um die Fantasie der Kinder bemühen. Es steht außer Frage, dass Imagination
für Kinder eine besondere Bedeutung hat. Kinder wachsen erst in
diese Welt hinein, müssen sich mit dem bereits Vorhandenen auseinander
setzen und ihren Weg finden. In Fantasiespielen und Fantasiegeschichten
entwickeln sie ein Verständnis für sich und die Welt. Sie
entwerfen Wünsche und eine mögliche Zukunft und sie verarbeiten
Erfahrungen ihres Alltags (vgl. z.B. Piaget 1980). Eben dieser Alltag
von Kindern ist heute ausgesprochen kompliziert geworden. Entwicklungen,
die mit Schlagworten wie Individualisierung und Fragmentierung beschrieben
werden, machen auch vor der Kindheit nicht Halt. Die Familienformen
haben sich vervielfältigt, der Rückgang von Kinderzahlen lässt
Geschwister seltener werden, und je weniger Kinder wir haben, desto
mehr fokussiert sich unsere Hoffnung auf die einzelnen. Wir versuchen,
sie möglichst früh möglichst gezielt zu fördern.
Wir gewähren ihnen Wünsche und Freiheiten, die wir selber
auch gerne gehabt hätten. Entsprechend steht den Kindern heute
eine Vielfalt von Angeboten zur Verfügung. Im Angebotsmarkt stehen
verschiedenste Initiativen, Konsumgüter und Institutionen. Nicht
zuletzt die kommerziellen Anbieter des Medienmarkts haben Kinder als
eine interessante Zielgruppe schon lange entdeckt, schließlich
sind sie doch – wie James McNeal dies so plakativ zusammenfasst – ein
"Dreifachmarkt": ein Gegenwartsmarkt, ein Zukunftsmarkt und ein Multiplikatorenmarkt
(McNeal 1987, S. 5 f.). Was aber bedeutet dies für die Kinder? Vergleicht
man ihre Situation mit der anderer Generationen, zeigen sich vor allem
viele Möglichkeiten und Chancen: Kinder haben Freiheiten, werden
früh gefördert und in ihrer Individualität unterstützt.
Die vielen Angebote bedeuten für die Kinder jedoch auch einen enormen
Druck und die Freiheiten werden zum Entscheidungsstress. Ein dicht gedrängter
Terminkalender der nachmittäglichen Veranstaltungen ist schon bei
Grundschulkindern nicht selten. Hinzu kommt der hohe Konsumdruck, der
nicht zuletzt auch durch die privatrechtlichen Fernsehsender geschürt
wird. Immer neuen Trends müssen Kinder nacheifern, wenn sie nicht
unter Gleichaltrigen außen vor stehen wollen. Insofern stellt
unsere Gesellschaft ausgesprochen hohe Anforderungen an Kinder. Nicht
zu vergessen, was es für diejenigen Kinder bedeutet, deren Eltern
über weniger zeitliche oder finanzielle Ressourcen verfügen
oder weniger Engagement in die gezielte Förderung ihrer Nachkommen
stecken können. Hier – aber nicht nur hier – sind die Kinder oftmals
auf sich gestellt, sozialisieren sich selber – und das nicht zuletzt
mit Medien. Insofern müssen wir uns sehr dringlich fragen,
was unsere Aufgabe als öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt hierbei
sein kann. Es muss unser Ziel sein, dazu beizutragen, Kinder fit zu
machen im "Hier und Jetzt" und mit Perspektive auf ihre Zukunft. Wie
diese Zukunft allerdings aussieht, können wir derzeit nur erahnen.
Wir wissen, dass auf die Generation der heutigen Grundschulkinder fundamentale
Problemlagen zukommen werden. Probleme, die wir zwar andenken, aber
für die wir bisher noch keine dauerhaften Lösungen gefunden
haben. Globalisierung, Energieverknappung und Umweltzerstörung
sind hier nur einige Stichworte. Die rasante Entwicklung der technischen
Möglichkeiten lässt erahnen, dass sich neue Chancen und Möglichkeiten,
aber auch neue Grenzen und Probleme eröffnen werden. Was wir jetzt
bereits wahrnehmen, ist die starke Präsenz von Medien im Alltag
von Kindern, die in den nächsten Jahren sicherlich nicht abnehmen
wird. Wir wollen die Kinder für eine Zukunft fit machen, von der
wir höchstens eine vage Ahnung haben. Was wir ihnen vermitteln
können, ist also vor allem die Fähigkeit und Kompetenzen,
mit den auf sie zukommenden Anforderungen umzugehen. Und dies wird vor
allem heißen: aus Vorhandenem Neues zu schaffen – ein Grundprinzip
der Fantasie. Die Beziehung von Massenmedien zu Fantasien erscheint dabei zunächst eher problematisch. Die Überforderung durch Gewaltdarstellungen und eine reizintensive Aufmachung der Sendungen verschärft den Druck auf die Kinder und wird vermutlich genauso Teil der Fantasie wie Werbung und Konsumwünsche. Spontan scheinen Medien – und insbesondere das Fernsehen – für die Fantasien der Kinder kaum Positives zu bieten. Genauso spontan sind wir uns dann wiederum sicher, dass Märchen und gut erzählte Geschichten Kindern gerade auch für die Fantasie nützen. "Kinder brauchen Märchen", wie Bruno Bettelheim formulierte und später auf ein "Kinder brauchen Fernsehen" ausbaute, wenn Fernsehen denn etwas Ähnliches für die Fantasie bietet, wie es biblische Geschichten, Mythen und Volksmärchen tun (Bettelheim 1988). Es ist also nicht zwangsweise eine Frage des Mediums, sondern es ist eine Frage der Qualität. Es ist unser gesellschaftlicher Auftrag, Kinder
zu fördern, nicht weil sie eine marktrelevante Zielgruppe und zahlungskräftige
Kundschaft sind, sondern weil wir für sie eine Verantwortung tragen,
die wir sehr ernst nehmen sollten – eine Aufgabe, für deren Erfüllung
wir auch in Zukunft Engagement und viel Fantasie brauchen werden.
LITERATUR Ränsch-Trill, Babara: Phantasie. Welterkenntnis und Welterschaffung – Zur philosophischen Theorie der Einbildungskraft. Bonn: Bouvier 1996, 384 S.McNeal, James U.: Children as Consumers. Insights and Implications. Lexington, D.C.: Heath and Company 1987. Piaget, Jean: Das Weltbild des Kindes. Frankfurt: Ullstein 1980. Bettelheim, Bruno: Brauchen Kinder Fernsehen? TelevIZIon, 1/1988/1 S. 4-7.
DER AUTOR Thomas Gruber, Dr. rer.pol.,ist Intendant des Bayerischen Rundfunks, München.
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